Die Kunstfeindlichkeit des Christentums (1/8)

Verteidiger der Religion führen manchmal dieses Argument an: "Seht die großen Kunstwerke, die Kathedralen, die Gemälde, Musik: Das alles würden wir nicht besitzen, hätte es die Reli­gion nicht gegeben." (Zum Beispiel in dieser Debatte mit Richard Dawkins, Christopher Hitchens und Anthony Grayling (ab 4:20))

Die übliche Antwort auf dieses argumentum ad michelangelum (oder auch argumentum ad ba­chum, argumentum ad beliebiges herausragendes Kunstwerk religiösen Ursprungs) besteht in dem Hinweis, daß Künstler von etwas leben müssen. Der Geschmack des Auftraggebers be­stimmt die Art des Kunstwerks, und einen Großteil der Menschheitsgeschichte war dieser Ge­schmack von der örtlich vorherrschenden Religion geprägt. Weil künstlerischer Ausdruck ein grundlegendes menschliches Bedürfnis ist, hätten wir ohne Religion nur andere Kunstwerke, nicht weniger oder schlechtere.

Man könnte aber auch das Argument umdrehen und einwenden, daß die Religion sich beileibe nicht immer nur als Förderin der Künste gezeigt hat. Wie steht es denn mit den Kunstwerken, die durch sie vernichtet wurden? Die folgende Serie geht dieser Frage nach, und weil es meis­tens Vertreter des Christentums zu sein scheinen, die das Argument vorbringen, sei sie diesem gewidmet.

Die Kunstfeindlichkeit des Christentums (1/8)

Titelblatt der ersten Ausgabe des Index Librorum Prohibitorum von 1559. Quelle: daten.digitale-sammlungen.de

 

Die subtile Art, Bücher zu verbrennen, Teil 1: Der Index Librorum Prohibitorum

Der "Index der verbotenen Bücher" war eine offizielle Liste von Schriften, die einem Katholi­ken unter Strafe der schweren Versündigung, teilweise auch der Exkommunikation, verboten waren zu lesen. Zusätzlich enthielt er das Regelwerk, anhand dessen über die Aufnahme eines Buches in den Index entschieden wurde, und bot dem Leser so die Möglichkeit zu entschei­den, ob ein Buch, das nicht auf dem Index stand, trotzdem als verboten zu betrachten war. Die Indexregeln waren sozusagen das Gesetz, und der Index selbst ein Beispielkatalog mit gericht­lichen Entscheidungen aufgrund des Gesetzes.

Der Index war die Reaktion auf ein unheiliges Doppelgestirn, das die Macht der katholischen Kirche bedrohte: Die Reformation, und die Bücherpresse.1 Er wurde 1564 auf Beschluß des Konzils zu Trient eingeführt (eine erste Version existierte bereits seit 1559) und im Jahr 1966 auf Beschluß des zweiten vatikanischen Konzils abgeschafft, dabei in der Zwischenzeit stän­dig aktualisiert, sodaß er zuletzt etwa sechstausend Werke auflistete. Dies waren, um es noch einmal zu betonen, keineswegs alle von der Kirche verbotenen Bücher: Der Index enthielt nur Werke, für die tatsächlich ein Indizierungsverfahren beantragt und welche darin verurteilt wor­den waren.

Daß die massiv angewachsenen Produktionsmöglichkeiten ketzerischer Werke bereits vor Be­ginn der Reformation ein Problem darstellten, beweist unter anderem eine Verordnung Papst Alexanders VI. (alias Rodrigo Borgia) aus dem Jahr 1501:

[...] so verbieten Wir kraft apostolischer Auctorität durch gegenwärtiges allen in den besag­ten Kirchenprovinzen [Köln, Mainz, Trier und Magdeburg] wohnenden Druckern und ihren Gehülfen bei Strafe der Excommunicatio latae sententiae und bei einer von Unseren ehrwür­digen Brüdern, den Erzbischöfen von Köln ... oder ihren Generalvicaren oder Officialen je für ihre Provinz festzusetzenden und für die apostolische Kammer einzuziehenden Geldstrafe, fortan Bücher, Tractate oder Schriften irgendwelcher Art zu drucken oder drucken zu lassen ohne vorherige Befragung der besagten Erzbischöfe, Generalvicare oder Officiale [...]

Es folgt die Anweisung an die Kirchenvertreter, Sorge zu tragen, daß die bereits gedruckten

Bücher und Tractate, von welchen die besagten Erzbischöfe, Vicare oder Officiale urtheilen oder erklären, dass darin etwas dem katholischen Glauben Widersprechendes, Gottloses, Aer­gernissgebendes oder Uebelklingendes enthalten sei, ohne Rückhalt und Betrug abzuliefern, gleichfalls bei Strafe der Excommunicatio latae sententiae und einer von ihnen, wie oben ge­sagt, festzusetzenden Geldstrafe. [...]

Dabei sollen sie diejenigen, welche sich ungehorsam oder widersetzlich zeigen, welchen Stan­des oder Ranges sie auch sein mögen, auch alle Genossenschaften, Universitäten und Colle­gien durch Excommunication, Suspension und Interdict und andere kirchliche Sentenzen, Censuren und Strafen, die auch verschärft und nochmals verschärft werden dürfen und bei denen die Appellation ausgeschlossen sein soll, zwingen, nöthigen Falls auch den weltlichen Arm anrufen, dem Wir, damit er williger Hülfe leiste, die Hälfte der von ihm beigetriebenen besagten Geldstrafe zuwenden. – In: Reusch 1885, p. 54 f.

Die Reformation erforderte nun endgültig eine effiziente, koordinierte Gegenmaßnahme, eine Systematisierung und Automatisierung der Bücherverbote, die zu früherer Zeit individuelle Sanktionen, sozusagen auf den einzelnen Ketzer maßgeschneidert waren, die außerdem nur dezentral und auf lokaler Ebene gehandhabt wurden, wobei kaum eine Stelle mit den anderen übereinstimmte, welche Kriterien ein Buch verbietenswürdig machten. Und daher wurde be­schlossen:

Die Bücher der von der Kirche Abgefallenen, sowie der Irrgläubigen, der Schismatiker und sonstiger Schriftsteller, welche die Häresie oder das Schisma verfechten, oder welche die Grundlagen der Religion, [i.e. "das Dasein Gottes, das Vorhandensein einer sittlichen Welt­ordnung, die Unsterblichkeit der Seele usw." – Sleumer 1906] wie immer auch, untergraben, sind durchaus verboten.

Ebenso verboten waren unauthorisierte Bibeleditionen und -übersetzungen, insbesondere von protestantischen Autoren. Auf das Lesen von Häretikern und Abtrünnigen, Büchern, "die na­mentlich durch apostolisches Schreiben [...] verboten worden sind" und das Drucken unge­nehmigter Bibelausgaben stand die Exkommunikation "ipso facto", das heißt, durch den Akt selbst.

Es ließe sich einwenden, daß bei theologischen Schriften nicht jeder sofort an Kunstwerke denken würde. Aber auch wissenschaftliche, philosophische und politische Werke galten als häretisch bzw. "die Grundlagen der Religion" untergrabend, und zudem enthielten die Index­regeln auch folgende Passagen:

Bücher, welche schlüpfrige oder unkeusche Dinge mit ausgesprochener Absicht (ex professo) behandeln, erzählen oder lehren, werden gänzlich verboten, weil nicht nur auf den Glauben, sondern auch auf die guten Sitten, die durch Lesung solcher Bücher leicht zugrunde gerichtet werden, Rücksicht zu nehmen ist.

Die sogenannten klassischen Autoren, sowohl die älteren wie die neueren, welche von der Pest der Unsittlichkeit angesteckt sind, werden wegen der Feinheit und Eigenart ihrer Sprache nur für diejenigen freigegeben, die ihr Amt oder ihre Lehrtätigkeit entschuldigt; um keinen Preis sollen aber derartige Bücher Knaben oder Jünglingen übergeben oder vorgelesen werden, es sei denn, daß sie vorher sorgfältig gesäubert sind. – In: Sleumer 1906, p. 26.

So gehörte nicht nur Martin Luther zu den indizierten Autoren der ersten Stunde, sondern auch Niccolò Machiavelli und Pietro Aretino. Diese und die anderen Regeln des Index galten, wie das Indizierungsverfahren, unverändert während seiner ganzen vierhundertjährigen Exis­tenz. In späteren Ausgaben kamen dementsprechend Namen wie Galileo und Kopernikus, Descartes, Casanova, Balzac, Flaubert, Heine, Voltaire, La Mettrie hinzu (eine merkwürdige Ausnahme bildet Charles Darwin).2 Ein Gutteil der Schriften auf dem Index hatte eher wenig mit der christlichen Religion zu tun und landete dort wegen Unsittlichkeit oder einem großzü­gigen Verständnis von Häresie.

 

Der Index war ein Erziehungsmittel, das die Gläubigen auf dem rechten Pfad halten, bzw., wie die Kirche es formuliert, ihr Seelenheil bewahren sollte. Die von ihm angedrohten Strafen waren daher weniger schlimm, als sie sich anhören. Eine Exkommunikation ipso facto hatte, im Gegensatz zu einer als Urteil gesprochenen E. latae sententiae, keinen gesellschaftlichen Ausstoß zur Folge. Sie war eine Angelegenheit des persönlichen Gewissens und konnte, so­lange sie nicht öffentlich bekannt war, diskret durch Absolution gelöst werden (nach bekannt­werden war eine öffentliche Abbitte nötig). Auch drohte Exkommunikation nur bei einem kleinen Teil der indizierten Lektüre.

Andererseits bedeuteten Exkommunikation oder schwere Versündigung (die "Todsünde"), mit der das Lesen der übrigen Bücher bestraft wurde, die Hölle, sollte die Verfehlung unbereinigt bleiben. Der seelische Druck, den das auf einen gläubigen Katholiken ausgeübt haben muß, wird enorm gewesen sein.

Das heißt nicht nur, daß über Jahrhunderte hinweg Millionen von Katholiken solche herausra­genden Werke wie die Memoiren Casanovas oder Balzacs Tolldreiste Geschichten vorenthal­ten wurden, mit dem Ergebnis, daß sie ein ärmeres Leben führten, sondern auch, daß manche Autoren in den katholischen Nationen sehr viel weniger gelesen wurden. Während Casanova oder Balzac dadurch kaum gelitten haben, fragt sich, wieviele ruhmlos gebliebene Autoren es den kirchlichen Verboten verdanken, daß ihre Werke heute unbekannt sind. Ein Autor, der auf italienisch oder spanisch schrieb und dessen Werke unter die Indexregeln fielen, hatte einen schwereren Stand.

Ja, sicher, auch staatliche Stellen haben damals fleißig indiziert. Die katholische Kirche war kaum ein Einzeltäter. Aber wer sie oder das Christentum allgemein als das Ideal aller Mäzene darstellen will, sollte ein wenig vorsichtig sein.

 

Quellen:

Index Librorum Prohibitorum, Ausgaben 1559, 1564, 1948.

Catholic Encyclopedia: Excommunication.

Hilgers, J.: Der Index der verbotenen Bücher in seiner neuen Fassung dargelegt und rechtlich-historisch gewür­digt. Freiburg im Breisgau, Herdersche Verlagsbuchhandlung, 1904.

Sleumer, A.: Index Romanus: Verzeichnis sämtlicher auf dem römischen Index stehenden deutschen Bücher des­gleichen aller fremdsprachlichen Bücher seit dem Jahre 1870. Osnabrück, G. Pillmeyer's Buchhandlung, 2. Auf­lage 1906.

Reusch, F. H.: Der Index der verbotenen Bücher: Ein Beitrag zur Kirchen- und Literaturgeschichte. Bonn, Max Cohen & Sohn, 1883.

 

1 "Erst die unheilvolle Mehrung der Gefahr schlechter Bücher, welche ein Produkt des unchristlichen Geistes der neueren Zeiten auf der einen Seite, des ins Ungeheuerliche anwachsenen Lesestoffes schlimmster Art auf der anderen Seite ist, ließ die Kirche zu dem notwendigen Heilmittel greifen." – Hilgers 1904, p. 15.

2 Teilweise wurden Werke oder ganze Autoren auch wieder freigegeben, wenn ihre Indizierung nicht mehr zeitgemäß schien: In der letzten Ausgabe des Index' von 1948 fehlen beispielsweise Galileo und Machiavelli.

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