Eine Geschichte der Theorie der Plattentektonik (Teil 7/7)

Im Oktober 1965 fand in London ein Symposium zur Kontinentaldrift statt, eines von mehreren in der Mitte der Sechziger, die viel dazu beitrugen, der Theorie der Plattentektonik Akzeptanz zu ver­schaffen.

Eine Geschichte der Theorie der Plattentektonik (Teil 7/7)

Quelle: L. W. Braile

Teil 7: Heute

Die Einleitung des anschließenden Tagungsberichts schrieb Patrick M. S. Blackett (1897- 1974), der Mentor Keith Runcorns und Edward Irvings. Blackett zitiert darin humorvoll aus einem Gedicht des amerikanischen Schriftstellers Bret Harte (1836-1902):

Now, I hold it is not decent for a scientific gent

To say another is an ass – at least to all intent;

Nor should the individual who happens to be meant

Reply by heaving rocks at him to any great extent.

–The Society upon the Stanislaus.

Für Blackett handelte es sich um eine treffende Zusammenfassung der langen Debatte um die Kon­tinentaldrift. Einen heutigen Leser können diese Worte daran erinnern, dass es noch immer Fragen – und Kontroversen – über und um die Plattentektonik gibt. Zum Ausklang sollen hier zwei der noch ungelösten Probleme vorgestellt werden.

Eines davon ist schnell erläutert: Es gibt noch keine allgemein anerkannte Erklärung für das Entste­hen von Subduktionszonen. Wenn sich beim Zerfall eines Kontinents ein neuer Ozean bildet (neue Spreizungsrücken können sich auch in einem schon existierenden Ozeanbecken formen, nicht allein durch Spalten eines Kontinents, aber Letzteres ist der Regelfall), dann ist die Lithosphäre an seinen Rändern fest mit der Lithosphäre unter den auseinanderdriftenden Kontinentstücken verbunden. Man bezeichnet dies als einen passiven Kontinentalrand, und ein Beispiel für so etwas wäre der At­lantik. Es gibt keine Tiefseegräben an den Seiten des Atlantiks (fast keine – die Natur ist niemals einfach) weil es dort keine Subduktionszonen gibt (fast keine).

Damit eine Subduktionszone entstehen könnte, müsste die Lithosphäre des Atlantiks von der Lithosphäre unterhalb, sagen wir, Afrikas oder Südamerikas abreißen. Die Schwierigkeit ist nur: Sie sollte eigentlich zu fest dazu sein. Ist die Platte erst einmal eingerissen, ist die weitere Ausbildung einer Subduktionszone einfach zu verstehen: Die ozeanische Lithosphäre, wenn sie alt und kalt ge­nug ist, ist dichter als der darunterliegende, nicht verfestigte Mantel und kann also darin versinken. Aber nach allem was wir wissen reicht die durch Abkühlung verursachte Zunahme von Dichte und Gravitationszug allein nicht aus, um zum Abreißen zu führen. Bei der Lithosphäre handelt es sich immerhin um eine 150 km dicke massive Gesteins-Platte – daher der Name. Diese kann einen enor­men Zug aushalten, ohne zu zerbrechen. Es ist ein Rätsel, warum es trotzdem geschieht. Irgendet­was muss den Bruch initialisieren, soviel steht fest, doch es besteht bisher keine Einigkeit, wie das genau funktioniert.

Übrigens ist der Atlantik sozusagen überfällig: Er hätte längst Subduktionszonen ausbilden müssen, wie der Pazifik. Da wir allerdings die Details der Subduktionszonenbildung nicht verste­hen, können wir auch nicht sagen, woran das eigentlich liegt.

Passiver (oben) und aktiver Kontinentalrand (unten). Zu Beginn der Ozeanbodenspreizung ist die neu produzierte Li­thosphäre fest mit der alten Lithosphäre unter dem Kontinent verbunden. Damit sich aus dem passiven ein aktiver Rand mit Subduktion bilden kann, muss die Lithosphäre an den Kontinentalrändern abreißen. Quelle: Stephen A. Nelson

Das ist aber noch ein marginales Problem (das Wortspiel sei verzeihen) verglichen mit dem zweiten: Es gibt auch noch kein allgemein anerkanntes Modell für die Mantelkonvektion.

Harry Hess, Robert Dietz und andere zu ihrer Zeit stellten sich die Konvektion als einfache kreisförmige Umwälzung vor. In diesem Modell sind die Platten die äußere, erkaltete Schicht einer geschlossenen Konvektionszelle. Die Zellen operieren als Motor der Plattenbewegung, und ihre An­ordnung im Erdmantel bestimmt die globale Anordnung der Platten.

Wie bereits in Teil 6 angedeutet, hat dieses Bild seine Fehler. Wir wollen uns ausnahmsweise einmal nicht damit auseinandersetzen, wer was wann aus welchen Gründen dachte, sondern einfach von diesem Modell ausgehen und es nach heutigem Wissen und Gewissen korrigieren. Zunächst ist zu berücksichtigen, dass das Modell in zwei alternativen Versionen daher kommt, wie in folgender Abbildung zu sehen:

Zwei alternative Modelle für Konvektionszellen im Erdmantel. Beide sind falsch. Quelle: L. W. Braile.

Die „670 km – Diskontinuität“ ist ein prominenter Dichtesprung. Bei dieser Tiefe wandeln sich die Minerale des oberen Mantels aufgrund der extremeren Druck- und Temperaturbedingungen in an­dere, dichtere Formen um. Der Gedanke ist, dass diese Diskontinuität den Mantel in zwei getrennte Stockwerke teilen könnte, die jedes für sich konvektieren (obere Abbildung) – oder vielleicht auch nicht (untere Abbildung).

Die 670 km – Diskontinuität ist ein anderes Problem, zu dem wir noch zurückkehren. Trotz des Unterschieds liegt beiden Modellen dieselbe Annahme zugrunde: Platten sind die starre äußere Schicht von geschlossenen Konvektionszellen; Aufstiegszonen dieser Zellen manifestieren sich als Rücken, absteigende Enden als Subduktionszonen; die Geometrie einer Platte spiegelt die Geome­trie der Konvektionszelle wieder. Nur, wie erklären wir dann das? – :

Handkolorierte Karte des atlantischen Raums von H. C. Berann, entstanden in Zusammenarbeit mit Bruce Heezen und Marie Tharp. Quelle: http://www.berann.com/

Jeder, der schon einmal aufmerksam eine Karte des Meeresbodens betrachtet hat, weiss dass mittel­ozeanische Rücken keine durchgehenden Linien bilden, sondern in eine Anzahl getrennter Segmen­te zerfallen, die zum Teil erheblich gegeneinander versetzt sind (man beachte nur das vom Rest des atlantischen Rückens vollkommen abgescherte Stück unterhalb von Island). Dürfen wir nun anneh­men, dass unter jedem dieser Segmente eine eigene, zu ihren Nachbarinnen versetzte Konvektions­zelle liegt?

Ein verfeinertes Bild der Mantelkonvektion und Plattentektonik sieht so aus:

Ein besseres Modell der Mantelkonvektion. Die 670 km – Diskontinuität ist hier als in 660 km Tiefe liegend angegeben. Beides ist richtig, je nach verwendetem Bezugssystem. Quelle: Tackley (2008), verändert.

In diesem Modell sind Platten nicht einfach die kühle Oberfläche einer größeren Konvektionszelle – sie sind selbst der absteigende Teil der globalen Mantelkonvektion. Und eine Konvektionszelle wie in der vorherigen Abbildung gibt es gar nicht. Wenn die Lithosphäre, die kalte oberste Schicht des Mantels, in diesen zurücksinkt, ist das Mantelkonvektion, auch ohne dass der unverfestigte Mantel darunter ebenfalls konvektieren müsste. Er wird zwar vielleicht durch die absinkenden Plattenenden „gequirlt“ oder von dem sich horizontal bewegenden Stück der Platte mitgeschleppt, aber die Platte selbst ist der Motor dieser Bewegung, nicht anders herum.

Den aufsteigenden Teil der globalen Konvektion dafür bilden die berühmten Mantelplumes: Dünne Säulen von heißem Material, die von der Kern-Mantel-Grenze her aufsteigen, ihrerseits ver­mutlich hervorgerufen durch die heißen Aufstiegszonen von Konvektionszellen im flüssigen äuße­ren Erdkern. Mittelozeanische Rücken sind zwar ebenfalls Aufstiegszonen, doch der Aufstieg findet aus geringer Tiefe statt und wird nicht durch eine bereits vorher existierende Konvektionsströmung verursacht – es ist genau umgekehrt: Erst das Wegdriften der Platten bewirkt ein Druckdefizit, wor­aufhin der Mantel aufsteigt, um das isostatische Gleichgewicht wiederherzustellen. Was natürlich sofort die Frage aufwirft, wie die Ozeanbodenspreizung initialisiert werden kann, wenn nicht durch eine vorher existierende Konvektionsströmung. Und genau hier beginnt die Kontroverse.

Es gibt zwei alternative Vorstellungen, wie eine existierende Platte gedehnt werden und schließlich zerbrechen kann, um einen neuen mittelozeanischen Rücken entstehen zu lassen: Durch aktive oder durch passive Spaltung.

Der plausibelste Mechanismus für passive Spaltung ist wohl das sogenannte Thermal blan­keting: Demnach bewirkt der „Deckel“ eines großen Kontinents (z.B. Pangaea, oder auch Eurasien oder Afrika) durch seine schlechte Leitfähigkeit einen Wärmestau im Mantel. Wer schon mal unter einer zu schweren Bettdecke gelegen hat, wird dies nachvollziehen können.

Durch die höhere Temperatur des Mantels kommt es zu einer Ausdünnung der Lithosphäre, die nun erst in größerer Nähe zur Oberfläche fest werden kann, und zu einer Dichteverringerung mit daraus resultierender isostatischer Hebung. Es entsteht ein Hochland, das unter der Erdschwerkraft bestrebt ist gewissermaßen zu „zerfließen“ – denselben Prozess beobachtet man an Kirchendächern, und in der Tat an jedem größeren Gebirge. Irgendwann ist die Platte so geschwächt und der Seiten­schub so stark, dass sie zerbricht. Die weitere Spreizung wird dann von dem Seitenschub des sich entwickelnden mittelozeanischen Rückens weiter aufrecht erhalten, bis irgendwann die Subduktion beginnt und der Zug des sinkenden Plattenendes als zusätzliche Antriebskraft hinzukommt.

Es gibt andere Prozesse, die passive Zerrung und Spaltung bewirken könnten – etwa einfach das Kräftespiel mit anderen sich bewegenden Platten – die wir hier überspringen. Aktive Spaltung nun funktioniert im Wesentlichen wie passive, nur dass die Wärme von einem Plume geliefert wird. In diesem Fall hätten wir es wieder mit einem ursächlichen Zusammenhang zwischen aufsteigen­dem Teil der Konvektion und Plattenbewegung zu tun.

Die genaue Beziehung zwischen Plattentektonik und Mantelkonvektion ist noch nicht aus­reichend geklärt. Frage ist nicht allein, ob aktive oder passive Spaltung richtig ist, sondern auch, ob sie sich gegenseitig überhaupt ausschließen, und falls nicht, was von beidem in der Natur bevorzugt geschieht. Außerdem hängt an diesen hier sehr plakativ dargestellten Modellen natürlich eine Fülle an Beweisen, Interpretationen, Argumenten und Konterargumenten, die alle der Einigung im Detail bedürfen.

Schließlich wäre da noch die Rolle der 670 km – Diskontinuität. In der obigen Abbildung durch­stößt eine der absinkenden Platten diese Grenze, während die andere auf der dichteren Schicht lie­gen bleibt. Das ist genau, was wir auch empirisch beobachten. Im Fall der Plumes ist die Datenlage schlechter, doch das Verhalten der subduzierten Platten rechtfertigt die Annahme, dass auch Plumes sowohl an der Diskontinuität stecken bleiben (weil sie nicht heiß genug sind, um in dem weniger dichten Material darüber genug Auftrieb zu haben) als auch sie durchstoßen könnten. Was natürlich erneut viel Stoff für Diskussionen liefert: Wann ist das Eine der Fall, wann das Andere, weswegen, ist irgendetwas an dem Modell grundsätzlich falsch?

Und das ist der Stand der Dinge, mehr oder weniger. Hess schloss damals seinen bahnbrechenden Artikel mit folgenden bescheidenen Worten, die die wissenschaftliche Forschung als solche ebenso gut beschreiben würden:

"Es ist nicht wahrscheinlich, dass alle die zahlreich gemachten Annahmen korrekt sind. Nichtsdes­totrotz scheint es sich um ein nützliches Bezugssystem zu handeln, um verschiedene [...] Hypothe­sen zu testen. Es wird gehofft, dass dieses System, nach den nötigen Ergänzungen und Verbesserun­gen, schließlich die Basis einer neuen und fehlerfreieren Struktur bilden wird."

Nachwort

Die vorliegende Serie stellt einen Kompromiss dar, möglicherweise einen faulen: Zwischen Detail­reichtum und Kürze, und zwischen Wissenschaftlichkeit und Lesbarkeit. Das Ziel war, einen geraff­ten, schnell konsumierbaren Überblick dieses interessanten Kapitels der Wissenschaftsgeschichte zu liefern, der trotzdem alle wichtigeren Stationen enthält. Dementsprechend wurde der geleistete Bei­trag vieler Forscher oft mit einiger Brutalität zusammengefasst. Wer an einer umfassenden Darstel­lung interessiert ist, sei besonders auf die monumentale vierbändige Ausgabe „The Continental Drift Controversy“ von Henry Frankel verwiesen.

Mein Dank gilt Reinhard Krause, David Bressan, Nikolaus Froitzheim, Karl Krainer und Niels Lie­bisch für Unterstützung, Genehmigung zum Verwenden von Material und wertvolle Kritik.

Anfragen und Korrekturen willkommen.

Literatur:

Anderson, D. L. (2001): Top-Down Tectonics? Science Vol. 293, 2016‑2018.

Bercovici, D. (2003): The generation of plate tectonics from mantle convection. Earth and Planetary Science Letters 205, 107‑121.

Bercovici, D. (2010): Mantle Convection. In: Encyclopedia of Solid Earth Geophysics. Gupta, H. K., (ed.) Springer 2011. 1539 Seiten.

Blacket, P. M. S. & Bullard, E. & Runcorn, S. K. (eds.) (1965): A Symposium on Continental Drift. Philoso­phical Transactions of the Royal Society of London, Series A, Mathematical and Physical Sciences, Vol. 258, No. 1088. 323 Seiten.

Hess, H. H. (1962): History of Ocean Basins. In: Petrologic Studies: A Volume in Honor of A. F. Buddington, edited by A. E. J. Engel, Harold L. James, and B. F. Leonard. New York, Geological Society of America. 599‑620.

Ogawa, M. (2007): Mantle Convection. A Review. ScienceDirect, Fluid Dynamics Research, Vol. 40 (2008), 379‑398.

Tackley, P. J. (2008): Geodynamics: Layer cake or plum pudding? Nature Geoscience 1, 157-158.

Flickr-Link für Bilder: http://www.flickr.com/photos/113231223@N05/

Kommentare

  1. userpic
    Georg Süßmeier

    Tolle, verständliche Darstellung der Geschichte der Plattentektonik, bei der es viel zu staunen gibt über aus heutiger Sicht abenteuerliche Theorien und bei der man am Ende einen gutes Verständnis des aktuellen Forschungsstands bekommt.
    Vielen Dank!

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