Evolution: Selected Letters of Charles Darwin, 1860-1870

Buchbesprechung

Evolution: Selected Letters of Charles Darwin, 1860-1870, herausgegeben von Frederick Burkhardt, Samantha Evans und Alison Pearn.

Hinweis: Diese Besprechung bezieht sich auf die englische Originalausgabe. Derzeit gibt es offenbar keine Übersetzung, deutschsprachige Leser können aber auf den Vorgängerband derselben Herausgeber ausweichen: Charles Darwin "Nichts ist beständiger als der Wandel": Briefe 1822 – 1859, Inselverlag 2008.

Evolution enthält Briefe, die von und an Charles Darwin geschrieben wurden. Sie stammen, in den Worten der Herausgeber, aus "dem vielleicht aktivsten und produktivsten Jahrzehnt" seines Lebens, das zwischen den Veröffentlichungen von Über die Entstehung der Arten (1859) und Abstammung des Menschen (1871) lag.

Evolution: Selected Letters of Charles Darwin, 1860-1870

Darwin war ein außergewöhnlich produktiver Briefeschreiber und stand mit hunderten von Menschen überall auf der Welt in Kontakt, die er in der Regel niemals persönlich kennenlernte. Die Sammlung präsentiert daher nur einen kleinen Teil seiner gesamten Korrespondenz aus diesem Zeitraum (die Jahre 1860-1867 alleine füllen sieben Bände in der vollständigen Edition). Sie macht dennoch einen ausgewogenen Eindruck. Die Highlights sind alle da – die berüchtigte Wilberforce-Debatte zwischen Darwins energischstem Verfechter T. H. Huxley und dem namengebenden Bischof Samuel Wilberforce zum Beispiel – und vieles mehr. Sie verschafft Einblick in Darwins Arbeit, private Beziehungen, und die zeitgenössische Reaktion auf seine Ideen. Sie dürfte jeden Leser zufriedenstellen, der an dem Mann hinter dem Namen interessiert ist, was auf jeden Fall mein Grund war, sie zu kaufen. Folgendes habe ich gelernt:

1. Der Mann war krank. Furchtbar krank. In anderen Büchern waren mir immer wieder Spekulationen begegnet, warum Darwin seine Theorie niemals selbst in der Öffentlichkeit verteidigt hat – war er zu schüchtern, tat er es aus Rücksicht auf seine tiefreligiöse Frau? Der wahre und sehr einfache Grund scheint gewesen zu sein: Er war bei schlechter Gesundheit. Niemand weiß, was seine Krankheit verursachte (die englische Wikipedia hat einen ganzen Artikel dazu, "Darwin's sickness", in dem die verschiedenen Möglichkeiten diskutiert werden) aber eines wird aus den Briefen sehr deutlich: Es hat vermutlich keinen Spaß gemacht. Zwischen September 1863 und April 1864 lag er acht Monate lang flach auf dem Bauch, und "wiederhergestellt sein" bedeutete "Ich erbreche jetzt nicht mehr täglich". Das war kein einmaliger Anfall, nur ein Tiefpunkt während seiner chronischen Erkrankung. Beinahe sein ganzes Erwachsenenleben lang quälten Darwin ständige Übelkeit, Magen- und Verdauungsprobleme, Ausschläge und Kopfschmerzen, neben anderem. Und Reisen verschlechterte seinen Zustand. Vermutlich dachte er, daß ein Sprecher, der während seines Vortrags regelmäßig auf den Boden kotzt, nicht war, was das Publikum sehen wollte.

2. Trotzdem war der Mann ein Workoholiker. Man konnte es sich denken. Ein Buch wie Über die Entstehung der Arten, mit seiner unglaublichen Menge an Beobachtungen und Daten, und zehn Briefe am Tag schreiben sich nicht von allein. Dieser Mann liebte seine Arbeit. Die Briefe zeigen auch das sehr deutlich, und den gewaltigen Aufwand, der hinter seinen Büchern steht. Darwin nämlich benutzte die Post als Recherchemittel, wie eine Spinne im Netz seiner ausgedehnten Korrespondenz sitzend. Der Hauptgrund all diese Briefe zu schreiben,war, Informationen von anderen Wissenschaftlern zu sammeln. Deshalb erwähnen sie seine Arbeit nicht einfach, sie sind ein wesentlicher Bestandteil davon, ein vor und zurück an Fragen und Antworten über biologische Einzelheiten.

3. Er war bescheiden, angenehm und vollkommen harmlos. Nirgendwo in seinen Briefen (von denen ein guter Teil an enge Freunde gerichtet ist, sodaß die nötige Vertrautheit wohl bestanden hätte) ist ein Ausdruck von Haß oder übler Laune zu finden, oder gar ein Schimpfwort. Wobei Letzteres zugegebenermaßen nur die viktorianischen Anstandsregeln widerspiegeln könnte. Die härtesten Worte gelten Richard Owen (dem damals berühmtesten Biologen Englands und entschiedenen Evolutionsgegner) von dem Darwin sagt, es sei "der einzige der mich verärgert hat" – näher kommt er einer Beschimpfung nicht. Im persönlichen Gespräch war er vielleicht weniger gehemmt, doch der allgemeine Eindruck ist der einer sehr sanften Persönlichkeit. Was die Bescheidenheit angeht: Der deutsche Naturforscher Fritz Müller hatte ein Buch geschrieben, in dem er Darwins Theorie verteidigte, mit dem angemessenen Titel Für Darwin. Es wurde auf Darwins Initiative hin ins Englische übersetzt, und in einem Brief an den Autor entschuldigt sich Darwin dafür, daß sein eigener Name auf dem Cover der Übersetzung größer gedruckt ist als Müllers. Ich hatte wortwörtlich Tränen der Zuneigung in den Augen, als ich diese Stelle las.

4. Er hatte Humor. Ich hatte ihn im Verdacht, wenn auch nur aus dem Grund, weil jeder große Denker oder Künstler den gehabt zu haben scheint, wenn man näher hinsieht. Es kommt anscheinend automatisch mit einem beweglichen Verstand. Wie erwähnt war Darwin ein angenehmer und harmloser Mann, daher fällt auch sein Humor eher milde und gutmütig aus. Zum Beispiel diese liebenswerte Demonstration von Selbstironie, in einem Brief an seinen Freund Joseph Hooker (s. 60): "Nun, stimmen Sie mir soweit zu? wenn nicht hat es keinen Zweck weiter zu diskutieren, wir müssen uns aufs Schimpfen verlegen, & ich bin sicher ich kann schrecklicher Schimpfen als Sie. .·. Ich habe recht. Q.E.D." (Offensichtlich kannte er also einige Schimpfworte!)

Oder meine Lieblingsstelle, ein Ausruf, den jeder Wissenschaftler nachempfinden dürfte: "Eheu Eheu, es macht viel mehr Spaß zu beobachten als zu schreiben." (s. 38).

5. Im persönlichen Umgang war er vermutlich relativ fade. Tut mir leid. Er muß ein sturer Hund gewesen sein, um trotz seiner Krankheit so viel zu leisten, doch seine unersättliche Neugier kommt als ziemlich einseitig herüber. Ich fürchte, falls es nicht gerade um Biologie ging (oh, und um Geologie) war er kein besonders interessanter Gesprächspartner. Aber von denen gab es genug um die Zeit, und nur einen Darwin. Vielleicht zwei, wenn man Alfred Wallace berücksichtigt. Speaking of which:

6. Darwin und Wallace waren Freunde. Die Briefe zwischen den beiden sind herzlich, und da Wallace ebenso bescheiden war wie Darwin gibt es eine Menge "Nach Ihnen." "Aber nein, nach Ihnen!" über die Frage, wem der größere Verdienst gebührt. Soviel zu der Behauptung, die beiden seien heimliche Rivalen gewesen.

Zusammenfassendes Urteil: Ob englische oder deutsche Ausgabe, wenn letztere irgendwann herauskommt – Sie werden den Kauf nicht bereuen.

Frederick Burkhardt, Samantha Evans & Alison Pearn (eds.): Evolution: Selected Letters of Charles Darwin, 1860-1870. Cambridge University Press, 2008, ISBN 978-0-521-87412-0 hardback.

 

Kommentare

Neuer Kommentar

(Mögliche Formatierungen**dies** für fett; _dies_ für kursiv und [dies](http://de.richarddawkins.net) für einen Link)

Ich möchte bei Antworten zu meinen Kommentaren benachrichtigt werden.

* Eingabe erforderlich