Fest verankert = permanent?

Einleitung durch Edge.org:

Die Wissenschaft schreitet fort – dank der Entdeckung neuer Tatsachen und der Entwicklung neuer Ideen. Aber nur wenige wahrhaft neue Ideen werden entwickelt, ohne dass alte Ideen weichen müssen. Der theoretische Physiker Max Planck (1858 – 1947) bemerkte dazu: „Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass ihre Gegner allmählich aussterben und dass die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.“ Mit anderen Worten: Wissenschaftlicher Fortschritt resultiert aus einer Reihe von Beerdigungen. Warum so lange warten?
 

Fest verankert = permanent?

Welche wissenschaftliche Idee ist reif für die Rente?

Ideen verändern sich genauso wie die Zeit, in der wir leben. Vielleicht liegt die größte Veränderung heute in der hohen Veränderungsgeschwindigkeit. Welche etablierte wissenschaftliche Idee sollte aus dem Weg geräumt werden, um dem wissenschaftlichen Fortschritt Platz zu machen?

Von Michael Shermer

Die wissenschaftliche Ansicht, dass „fest verankerte“ Eigenschaften oder Besonderheiten eines Organismus notwendigerweise permanent sein müssen, sollte verworfen werden. Als Fallbeispiel dient: Gott und Religion.
Seit Charles Darwin 1871 in seinem Buch Die Abstammung des Menschen Gedanken darüber anstellte, dass „der Glaube an alles durchdringende spirituelle Kräfte universell zu sein scheint“ und daher ein durch Evolution entstandenes Merkmal unserer Spezies ist, welches in unserem Gehirn fest verankert ist, führen Wissenschaftler Experimente und Umfragen durch, die uns zeigen sollen, warum uns Gott nicht abhandenkommen wird. Anthropologen haben übernatürliche Überzeugungen ausfindig gemacht, die kulturübergreifend sind; sie betreffen etwa den Tod und das Leben nach dem Tod, Glück und Unglück, und im Speziellen Magie, Mythen, Rituale, Prophezeiungen und Folklore. Verhaltensgenetiker berichten von Zwillingsstudien – besonders von Zwillingen, die bei der Geburt getrennt wurden und in unterschiedlichen Milieus aufwuchsen – dass 40-50% der Abweichungen in den religiösen Überzeugungen genetisch veranlagt sind. Manche Wissenschaftler behaupteten sogar, ein „Gottes-Gen“ (genauer: einen „Gottes-Genkomplex“) gefunden zu haben, das beim Menschen zu einem  Verlangen nach spiritueller Transzendenz und einem Glauben an diverse höhere Kräfte führt. Sogar spezifische Elemente religiöser Erzählungen – etwa die zerstörerische Flut, die Jungferngeburt, Wunder, die Auferstehung von Toten – traten anscheinend im Laufe der Geschichte unabhängig voneinander immer wieder auf, was auf eine fest verankerte Komponente der Religion und des Götterglaubens hinweist. Auch ich war ein Anhänger dieser Theorie. Bis jetzt.

Falls wir jemals eine permanente Marskolonie errichten, deren Mitglieder nicht-religiöse Wissenschaftler mit rein säkularem Weltbild sind, wäre es interessant, nach zehn (oder 100) Generationen zu überprüfen, ob Gott wieder Einzug gehalten hat. Bis ein solches Experiment durchgeführt werden kann, bleibt uns allerdings nichts anderes übrig, als uns mit den natürlichen Experimenten hier auf der Erde zu beschäftigen. In der westlichen Welt etwa zeigte eine Umfrage, die 2013 mit 14.000 Teilnehmern in 13 Ländern (Deutschland, Frankreich, Schweden, Spanien, Schweiz, Türkei, Israel, Kanada, Brasilien, Indien, Südkorea, Großbritannien und USA) vom deutschen Meinungsforschungsinstitut Bertelsmann Stiftung für ihren „Religionsmonitor“ durchgeführt wurde, einen Rückgang der Religiosität und des Götterglaubens in den meisten dieser Länder, besonders unter den Jugendlichen. In Spanien zum Beispiel gaben 85% der über 45-jährigen Befragten an, mäßig bis sehr religiös zu sein, im Gegensatz zu 58% der unter 29-Jährigen. In Europa gaben generell nur 30-50% der Befragten an, dass die Religion in ihrem Leben eine wichtige Rolle spielt, und in vielen europäischen Ländern sagten weniger als ein Drittel der Befragten, dass sie an Gott glauben.

Sogar in den höchst religiösen USA ergab die Umfrage, dass 31% der Amerikaner von sich sagen, sie seien „nicht oder nicht sehr religiös“. Diese Ergebnisse werden von einer Pew Forum Umfrage aus dem Jahr 2012 bestätigt, die ergab, dass die am schnellsten wachsende religiöse Gruppe mit einem Anteil von 20% die „Nichtreligiösen“ sind (33% der unter 30-Jährigen); davon bezeichneten sich 6% als Atheisten/Agnostiker und 14% als Konfessionslose. Die absoluten Zahlen sind überwältigend: Auf die erwachsene Population der USA (über 18-Jährige) von 240 Millionen Menschen umgerechnet ergibt dies 48 Millionen „Nicht-Religiöse“, oder 14,4 Millionen Atheisten/Agnostiker und 33,6 Millionen Konfessionslose. Auch der Generationenvergleich zeigte einen signifikanten Trend zur Abkehr von Religion: Die Generation der „Greatest“ (geboren zwischen 1913-1927) lag bei 5%, die „Silent“ Generation (geboren 1928-1945) bei 9%, die „Boomers“ (geboren 1946-1964) bei 15%, die „GenXers“ (geboren 1965-1980) bei 21%, die „Older Millennials“ (geboren 1981-1989) bei 30% und die „Younger Millennials“ (geboren 1990-1994) bei 34%.

Wenn sich dieser Trend fortsetzt, erreichen die „Nichtreligiösen“ im Jahr 2220 100%.

Es ist an der Zeit, dass Wissenschaftler die Theorie, dass Gott und Religion in unserem Gehirn fest verankert sind, entsorgen. Wie jeder andere Mensch auch neigen Wissenschaftler zu kognitiven Vorurteilen, die sie dazu verleiten, die landläufige Meinung erklären zu wollen. Stattdessen ist es vorteilhaft, die langfristige Perspektive zu betrachten und etwa die heutige Situation mit der vor einem halben Jahrtausend zu vergleichen, als der Glaube an Götter bei nahezu 100 Prozent lag, oder mit den Jäger-und-Sammler – Völkern unserer Vorfahren im Paläolithikum, die, obwohl sie eine große Zahl an abergläubischen Ritualen hatten, an keinen Gott glaubten und keine Religion praktizierten, welche auch nur annähernd mit heutigen Gottheiten oder Religionen vergleichbar wäre.

Dies spricht dafür, dass religiöse Überzeugungen und Götterglaube Nebenprodukte unserer kognitiven Prozesse (z.B. Akteur-Erkennung) und kulturellen Neigungen (das Bedürfnis, dazuzugehören) sind, die, obwohl sie fest verankert sind, mit Hilfe von Vernunft und Wissenschaft ausgemerzt werden können – ebenso wie all die abergläubischen Rituale und übernatürlichen Thesen, von denen die besten Gelehrten und Wissenschaftler Europas vor fünf Jahrhunderten noch überzeugt waren. So war damals etwa die vorherrschende Theorie zur Erklärung von Ernteausfällen, außergewöhnlichen Wetterereignissen, Krankheiten und anderen Unglücksfällen die Hexerei, und die Lösung dafür war, Frauen an Scheiterhaufen festzubinden und zu verbrennen. Niemand, der bei vollem Verstand ist, glaubt heute noch daran. Mit dem Aufkommen von wissenschaftlichem Verständnis für Landwirtschaft, Klima, Krankheiten und andere kausale Zusammenhänge – inklusive der Rolle, die der Zufall spielt – fand die „Hexen-Theorie“ der Kausalität keine Verwendung mehr.

So ist es - und wird es auch weiterhin sein - mit anderen Spielarten der Vorstellung, dass fest verankert gleichbedeutend mit permanent ist, etwa in Bezug auf die Gewalt. Vielleicht ist die Gewalt fest in uns verankert, aber wir können sie mithilfe von wissenschaftlich erprobten Methoden beträchtlich abschwächen. Daher sage ich für mein Fallbeispiel hier voraus, dass die „Götter-Theorie“ der Kausalität in 500 Jahren keine Verwendung mehr finden wird, und dass die wissenschaftliche Theorie des 21. Jahrhunderts, dass Gott in unserem Gehirn als permanente Eigenschaft unserer Spezies fest verankert ist, Vergangenheit sein wird.

Michael Shermer ist der Herausgeber des „Sceptic Magazine“, schreibt für die Zeitschrift „Scientific American“ und ist der Autor des Buches „The Believing Brain“

Übersetzt von: Daniela Bartl

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Kommentare

  1. userpic
    ScienceDiscove1

    Die Lüge vom grausamen Gott ist das was die meisten Menschen vom Glauben abgewendet hat. Als dann die Zeit der "Aufklärung" für eine Revolution in der Wissenschaft sorgte, wurde auch der Atheismus als ein Akt der Befreiung vom Machtmissbrauch der Kirche angesehen. Das erklärt warum trotz aller Wissenschaftlichen Fakten die wissenschaftliche Gemeinde sich gegen einen Glauben an Gott wehrt und wissenschaftliche Mythen erschaffen werden.

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      marstal08

      Schon die Unterstellung, dass Gott und Religion eine fest verankerte Eigenschaft oder Besonderheit unseres Organismus sei, scheint mir völlig absurd. Für mich und die mir näher bekannten Personen ist die Vorstellung völlig fremd und auch lächerlich, dass irgendwelche Märchenfiguren oder Fabelwesen tatsächlich existieren könnten.

      Ich bin aufgewachsen in der Annahme, dass es - wenn überhaupt - nur in sehr fernen Urwäldern und Wüsten und in ferner Vergangenheit primitive Wilde mit zweifellos krankhaftem Aberglauben gäbe. Dass Religion heute wohl doch noch weit verbreitet vorkommt, spricht aber m.E. nicht dagegen, dass es sich dabei am ehesten um eine krankhafte Fehlfunktion der davon befallenen Gehirne handelt.

      marstal08

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        Peter

        Volle Zustimmung , marstal08 !

        Es ist jedoch nicht unbedingt überraschend , daß solche "Erkenntnisse" verbreitet werden. Die Neurobiologen degradieren uns (allerdings auch sich selbst!) ohnehin nur zu Maschinen. Wenn man das Ernst nimmt , dann haben ihre Aussgaen überhaupt kein Gewicht ! Das bedeutet , um dieser Theorie überhaupt Gewicht zu geben , müssten die Neurobiologen eigentlich vorraussetzen , daß sie falsch ist !

        Das wird aber natürlich nicht getan , und die Massenmedien greifen diesen Blödsinn begierig auf , weil man mit solcher Propaganda sicher hohe Einschaltquoten erreicht. Die Konsequenzen des Weltbildes der Neurobiologen wären verheerend und eigentlich müßte sich jemand , der diese Behauptungen ernsthaft glaubt , sofort umbringen , so unerträglich muß diese Vorstellung sein.

        Die theoretischen Physiker haben noch einen drauf gesetzt und behaupten ernsthaft , daß das Higgs-Boson eine Art "Gottesteilchen" ist. Für diesen unsäglichen Quark wurde auch noch der Nobelpreis verliehen. Das für diejenigen , die meinen , daß in der Wisschenschaft keine Religion vorkommt , leider ist dem nicht so, die Urknalltheorie ist ein weiteres Beispiel , wie viel Einfluß die Religion selbst in der Wissenschaft hat, obwohl die Wissenschaft die Religion doch eigentlich überflüssig machen sollte. Man treibt gleichsam den Teufel mit dem Belzebub aus.

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