Gibt es emotionale Sperrgebiete, wo sich die Vernunft nicht blicken lassen darf?

Gibt es Königreiche der Emotionen, in denen Logik tabu ist, nicht wagen sollte sich zu zeigen, Gebiete, in denen die Vernunft zu eingeschüchtert ist, um sich zu äußern?

Gibt es emotionale Sperrgebiete, wo sich die Vernunft nicht blicken lassen darf?

Moralphilosophen gebrauchen die Technik des Gedankenexperiments in ihrer ganzen Fülle. In einem Krankenhaus liegen vier sterbende Männer. Jeder könnte durch eine Organspende gerettet werden, doch gibt es gerade keine geeigneten Spender. Im Warteraum des Krankenhauses sitzt ein gesunder Mann, der, wenn wir ihn töten würden, die notwendigen Organe für jeden sterbenden Patienten liefern könnte, wobei wir vier Leben zum Preis von einem retten würden. Ist es moralisch vertretbar, den gesunden Mann zu töten, um seine Organe zu entnehmen?

Jeder verneint dies, aber die Moralphilosophen wollen die Frage eingehender diskutieren. Weshalb ist es falsch? Ist es wegen Kants Prinzip: „Handle so, dass Du die Menschheit sowohl ihn deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ Wie rechtfertigen wir Kants Prinzip? Gibt es Ausnahmen davon? Können wir uns ein hypothetisches Szenario vorstellen, in dem...

Was wäre, wenn es sich bei den sterbenden Männern um Beethoven, Shakespeare, Einstein und Martin Luther King handelte? Wäre es dann richtig, einen Mann zu opfern, der obdachlos und ohne Freunde aus der Gosse gezogen wurde? Und so weiter.

Zwei Minenarbeiter werden von einer Explosion unter Tage eingeschlossen. Sie könnten gerettet werden, aber es würde eine Million Dollar kosten. Diese Million könnte zur Rettung tausender hungernder Menschen verwendet werden. Kann es jemals moralisch richtig sein, die Minenarbeiter ihrem Schicksal zu überlassen und das Geld dafür auszugeben, um die Hungernden zu retten? Die meisten von uns würden nein sagen. Würden Sie? Oder denken Sie, es ist falsch, solche Fragen überhaupt zu stellen?

Diese Dilemmas sind unangenehm. Es ist die Aufgabe von Moralphilosophen, sich dem Unangenehmen zu stellen und ihren Studenten beizubringen, dasselbe zu tun. Ein Freund, ein Professor für Moralphilosophie, berichtete mir, dass er Hass - E-mails bekam, als er den hypothetischen Fall der Minenarbeiter aufwarf. Er sagte mir auch, dass es bestimmte Gedankenexperimente gibt, die seine Studenten in zwei gleich große Lager teilen. Einige Studenten sind in der Lage, zeitweise üble Hypothesen zu akzeptieren, um herauszufinden, wohin sie führen könnten. Andere sind so durch Emotionen geblendet, dass sie über die Hypothese nicht einmal nachdenken können. Sie verschließen einfach ihre Ohren und weigern sich, der Diskussion beizuwohnen.

„Wir stimmen alle darüber überein, dass es nicht wahr ist, dass einige menschliche Rassen anderen an Intelligenz genetisch überlegen sind. Aber setzen wir einen Moment den Unglauben außer Kraft und betrachten wir die Konsequenzen, die entstünden, wenn es wahr wäre. Wäre es jemals richtig, bei der Vergabe von Arbeit zu diskriminieren? Und so weiter.“ Mein Freund stellt manchmal genau diese Frage, und er erzählte mir, dass etwa die Hälfte der Studenten willens ist, sich mit der Wahrheit widersprechenden Hypothese auseinanderzusetzen und die Konsequenzen zu diskutieren. Die andere Hälfte antwortet emotional auf das Hypothetische, ist zu aufgewühlt um fortzufahren, und steigt schlicht aus der Konversation aus.

Könnte Eugenik jemals gerechtfertigt sein? Oder Folter? Ein Wecker, der eine gigantische Nuklearwaffe auslöst, wurde in einem Koffer versteckt, und er tickt. Ein Spion wurde gefangen, der weiß, wo er ist und wie er entschärft werden könnte. Aber er weigert sich zu sprechen. Ist es moralisch richtig, ihn oder gar seine unschuldigen Kinder zu foltern, um ihn dazu zu bringen, das Geheimnis zu verraten? Was, wenn die Waffe eine Weltuntergangsmaschine wäre, die die ganze Welt in die Luft sprengen würde?

Es gibt Menschen, deren Liebe zur Vernunft es ihnen erlaubt, solch unangenehme hypothetische Welten zu betreten und zu sehen, wohin die Diskussion führen könnte. Und dann gibt es diejenigen, deren Emotionen ihnen verwehren, sich auch nur dem Gespräch anzunähern. Manche von ihnen verabscheuen jene, die bereit sind, solche Angelegenheiten zu diskutieren, und schleudern ihnen wüste Beleidigungen entgegen. Manche betreiben aktive Hexenjagd gegen Moralphilosophen, die es wagen, abscheuliche Gedankenexperimente auch nur in Erwägung zu ziehen.

„Eine Frau hat das absolute Recht, mit ihrem eigenen Körper zu tun, was sie will, und das schließt jeden Fötus mit ein, den sie eventuell in sich trägt. Es ist mir egal, ob der Fötus voll bewusst ist und in der Gebärmutter Gedichte schreibt, die Frau hat immer noch das Recht, ihn abzutreiben, da es ihr Körper und damit ihre Entscheidung ist.“ Diskutieren wir den intrauterinen hypothetischen Poeten, oder beenden die Emotionen schlichtweg die Diskussion in jede Richtung? Denken wir, das Recht der Frau ist absolut, absolut, absolut – Ende? Oder denken wir, Abtreibung ist falsch, falsch, falsch, Abtreibung ist Mord, keine weitere Diskussion?

Wir sind uns einig, dass Kannibalismus falsch ist. Aber wenn wir niemanden umzubringen bräuchten, um ihn zu essen, können wir dann darüber diskutieren, warum es falsch wäre? Warum essen wir keine menschlichen Verkehrsopfer? Ja, es wäre schrecklich für die Freunde und Verwandten dieser toten Person, aber angenommen, wir wüssten, dass diese Person keinerlei Freunde oder Verwandten hatte, warum sollten wir sie nicht essen? Oder gibt es hier ein Dammbruchargument, das wir beachten sollten? Fahren wir fort, solche Fragen mit dem Professor der Moralphilosophie rational und logisch zu diskutieren? Oder bekommen wir einen emotionalen Anfall und rennen schreiend aus dem Raum?

Ich glaube, dass wir als nicht-religiöse Rationalisten bereit sein sollten, solche Fragen unter Zuhilfenahme von Logik und Vernunft zu diskutieren. Wir sollten Menschen nicht dazu zwingen, an schmerzhaften hypothetischen Diskussionen teilzunehmen, aber ebenso wenig sollten wir zu Hexenjagden gegen Leute aufrufen, die bereit sind, dies zu tun. Ich befürchte, dass manche von uns Tabuzonen errichten, in denen die Emotion der König ist und in denen die Vernunft nicht erlaubt ist; in denen die Vernunft in manchen Fällen aktiv eingeschüchtert wird und nicht wagen sollte, ihr Gesicht zu zeigen. Und ich bedauere dies. Dieses Verhalten kennen wir von den religiösen Gläubigen zur Genüge. Wäre es nicht schade, wenn wir von einer anderen Art der Heiligkeit verführt würden, der Heiligkeit der emotionalen Tabuzone?

Gehen wir vom Hypothetischen zum Realen über. Wenn man das Thema der weiblichen Genitalbeschneidung aufwirft, kann man sicher sein, dass die Hälfte der Antworten „Und was ist mit der männlichen Beschneidung?“ lautet. Dies erscheint häufig als Taktik, um die Kampagne gegen weibliche Genitalverstümmelung zu behindern und ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen. Wenn man dann versucht zu sagen: „Ja, ja, die Beschneidung von Knaben ist übel, aber weibliche Genitalverstümmelung ist schlimmer“,  wird man sofort gestoppt werden. Beides sind Übergriffe gegen wehrlose Kinder, und man kann nicht argumentieren, dass das eine schlimmer ist als das andere. Wie kann man es nur wagen, auch nur darüber nachzudenken, sie gegeneinander abzuwägen?

Wenn eine Person aus dem Showbusiness wegen Pädophilie verurteilt wird, ist es dann richtig, dass man tatsächlich erst genug Mut aufbringen muss, um etwa Folgendes zu sagen: „Hat die Person Kinder penetrierend vergewaltigt, oder hat sie sie bloß mit ihren Händen angefasst? Letzteres ist schlimm, aber ich denke, Ersteres ist schlimmer“? Wie kannst Du es wagen, eine Rangfolge verschiedener Formen der Pädophilie aufzustellen? Sie sind alle gleich schlecht, gleich schrecklich. Bist Du etwa selbst eine Art versteckter Pädophiler?

Ich habe folgende Reaktion erlebt, als ich das schwierige und schreckliche Thema Israel/Palästina diskutierte. Israelische Freunde sagten zu mir etwa Folgendes: „Wir brauchen einen israelischen Staat, weil wir nach dem Holocaust einsehen mussten, dass sich niemand sonst um uns kümmern wird, sondern dass wir uns selbst um uns kümmern werden müssen. Die Juden wurden zu lange unterdrückt. Von jetzt an werden wir Juden aufrecht stehen und uns um uns selbst kümmern.“ Worauf ich bei einer Gelegenheit antwortete: „Ja. Sicher habe ich dafür Verständnis, aber kannst Du mir erklären, weshalb palästinensische Araber diejenigen sein sollten, die für Hitlers Verbrechen bezahlen sollen? Warum Palästina? Du wirst doch sicherlich nicht auf eine Art biblische Rechtfertigung zurückgreifen, um dieses Land auszusuchen statt etwa Bayern oder Madagaskar?“ Mein Freund sagte ernsthaft: „Richard, wir sollten diese Unterhaltung besser beenden.“ Ich war in eine andere Tabuzone getappt, einen heiligen emotionalen Zufluchtsort, an dem Diskussion verboten ist. Die Emotionen, die durch den Holocaust hervorgerufen werden, sind so schmerzhaft, dass es uns nicht erlaubt ist, solche Fragen überhaupt zu diskutieren. Ein Freund wird die Unterhaltung eher beenden als Eintritt in das Heiligtum der verletzten Gefühle zu gewähren.

Auf Twitter schrieb ich während der derzeitigen schrecklichen Geschehnisse in Gaza Folgendes: „Das Ausmaß an Zerstörung in Gaza ist obszön. Arme Menschen. Arme Menschen, die ihr Zuhause verloren haben, ihre Verwandten, alles.“ Ich wurde sofort aufs Heftigste von Freunden Israels attackiert. Aber dann zitierte ich Sam Harris folgendermaßen: „Die Hamas hat öffentlich gesagt, sie würden gerne jeden Juden auf der ganzen Welt töten“ und ich fuhr fort, Sams hypothetische Frage zu stellen: Was sagt das über die möglichen Aktionen der Hamas aus, wenn die Positionen vertauscht wären und sie Israels militärische Stärke hätten? Sams Vorschlag, dass dieser Kontrast tatsächlich die Zurückhaltung auf Seiten Israels veranschaulichen könnte, entfesselte einen Sturm wüster Anschuldigungen, er und ich würden an der Bombardierung von Kindern in Gaza Gefallen finden.

Ich zitierte ebenfalls Sam, als ich sagte: „Ich denke nicht, das Israel als jüdischer Staat existieren sollte.“ In Folge erhielten Sam und ich natürlich Schmähungen von Israel und von amerikanisch-jüdischen Interessengruppen. Ich fasste meine zwiespältige Position wie folgt zusammen: „Es ist vernünftig, beides zu bedauern, die ursprüngliche Gründung des jüdischen Staates Israel ebenso wie die aktuellen Bestrebungen, ihn zu zerstören.“ Aber ich habe schnell gelernt, dass Emotionen so stark sein können, dass eine vernünftige Diskussion – beide Seiten der Frage leidenschaftslos zu betrachten – unmöglich wird.

Offenbar habe ich nicht schnell genug gelernt: Ich wende mich jetzt der anderen Twitter-Kontroverse zu, in die ich diese Woche verwickelt worden bin.

„,Von einem Fremden vergewaltigt zu werden, ist schlimm. Von einem Freund, dem man vertraute, ist schlimmer‘. Wer glaubt, dass dieses hypothetische Zitat eine Billigung der Vergewaltigung durch Fremde ist, soll sich davon machen und lernen, zu denken.“

Das war eine Hypothese. Es erschien mir völlig vernünftig, dass der Verlust von Vertrauen, die Desillusionierung, die eine Frau fühlen könnte, wenn sie von einem Mann vergewaltigt wird, den sie für einen Freund gehalten hat, sogar noch schrecklicher wäre als die Verletzung durch einen Fremden. Ich hatte zuvor die gegenteilige Hypothese aufgestellt, aber einen entsprechenden logischen Schluss gezogen: „Vergewaltigung bei einem Date ist schlimm. Vergewaltigung durch einen Fremden mit gezücktem Messer ist schlimmer. Wer denkt, dass das eine Billigung von Vergewaltigung bei einem Date ist, soll sich davon machen und lernen, zu denken.“

Die beiden gegensätzlichen hypothetischen Zitate waren Versionen einer allgemeinen Aussage, die ich ebenfalls getwittert hatte: „X ist schlimm, Y ist schlimmer. Wer denkt, dass dies eine Billigung von X ist, soll sich davon machen und nicht zurückkommen, bevor er gelernt hat, wie man richtig denkt.“

Die Aussage war eine rein logische: Etwas als schlimm zu beurteilen und etwas anders als schlimmer ist keine Billigung des geringeren Übels. Beide sind schlimm. Es ging mir nicht darum, welches von beiden schlimmer ist. Ich habe nur behauptet, dass die Entscheidung für das eine oder das andere nicht gleichbedeutend mit der Billigung des geringeren Übels ist.

Einige Leute haben in ihrem Ärger nicht verstanden, dass es eine Frage der Logik war, am Beispiel einer hypothetischen Ausführung über Vergewaltigung. Sie dachten, es sei eine aktive Beurteilung, welche Form der Vergewaltigung schlimmer sei. Andere Leute verstanden den Punkt der Logik, attackierten mich jedoch ebenso wütend dafür, dass ich zur Illustration das emotional aufgeladene Beispiel der Vergewaltigung benutzt hatte. Um einen in der Atheismusbewegung bekannten Blogger zu zitieren: „Warum nicht einfach: „Jemand ins Gesicht zu schlagen ist schlecht, dessen Nase zu brechen, ist noch schlechter?“ Warum musste es Vergewaltigung sein?“

Ja, ich hätte das Beispiel mit der gebrochenen Nase verwenden können. Ich akzeptiere, dass ich erklären muss, weshalb ich das Beispiel der Vergewaltigung benutzt habe. Ich wollte ausdrücklich nicht Vergewaltigungsopfer verletzen oder ihre grauenhaften Erlebnisse trivialisieren. Sie bekommen davon genügend von der „Sie hat einen kurzen Rock getragen. Ich wette, sie hat wirklich darum gebettelt, ha ha ha“ - Brigade. Weshalb habe ich dann Vergewaltigung als meine (in beide Richtungen) unerfreuliche Hypothese gewählt anstatt etwa das Beispiel mit der gebrochenen Nase? Aus folgendem Grund:

Ich hoffe, ich habe einleitend genug gesagt, um meinen Glauben daran zu rechtfertigen, dass Rationalisten wie wir in der Lage sein sollten, Fragen der Moralphilosophie zu erörtern, ohne Emotionen so hereinbrechen zu lassen, dass sie jede noch so hypothetische Diskussion abwürgen. Ich habe Kannibalismus, eingeschlossene Minenarbeiter, Organspender, abgetriebene Dichter, Beschneidung, Israel und Palästina aufgelistet, alles Beispiele für verbotene Bereiche, Tabuzonen, wo sich die Vernunft nicht hinwagt, weil die Emotionen herrschen. Gebrochene Nasen sind nicht in dieser Tabuzone, Vergewaltigung ist es. Ebenso Pädophilie. Sie sollten es meiner Meinung nach nicht sein, ebenso wenig wie alles andere.

Ich wusste nicht, wie tief diese beiden heiklen Themen in der Tabuzone liegen. Jetzt weiß ich es zur Genüge. Vernunft und Logik sind mir ungemein wichtig. Ich denke, leidenschaftslose Logik und Vernunft sollten nicht aus Diskussionen über Kannibalismus oder eingeschlossene Bergleute verbannt werden. Und ich war bekümmert zu sehen, dass Vergewaltigung und Pädophilie dabei sind, eine Tabuzone zu werden; Sperrgebiete, wo Vernunft und Logik verboten sind.

„Vergewaltigung ist Vergewaltigung ist Vergewaltigung.“ Man kann nicht darüber diskutieren, ob eine Art der Vergewaltigung (z. B. durch einen Freund) schlimmer ist als eine andere (z. B. durch einen Fremden). Vergewaltigung ist Vergewaltigung, und es ist nicht erlaubt, darüber nachzudenken, dass eine Form der Vergewaltigung schlimm ist, aber eine andere schlimmer. Ich will diese grauenhafte Diskussion nicht hören. Die bloße Idee, eine Form der Vergewaltigung als schlimmer als eine andere zu klassifizieren, ob es nun die durch einen Bekannten oder die durch einen Fremden ist, ist unzumutbar, unerträglich, nicht tolerierbar, jenseits der Grenze, tabu. Es gibt keine erlaubte Unterscheidung zwischen einer Art der Vergewaltigung und einer anderen.

Wenn das wirklich wahr wäre, sollte es Richtern nicht erlaubt sein, für manche Vergewaltigungen härtere Strafen zu verhängen als für andere. Möchten wir wirklich, dass unsere Gerichte eine obligatorische Strafe für Vergewaltigung – eine lebenslange Haft vielleicht – für gleich welche Vergewaltigung verhängen? Für alle Vergewaltigungen; dafür, eine Frau betrunken zu machen und das auszunützen, auf der einen Seite des Spektrums, und dafür, ihr in einer dunklen Gasse ein Messer an die Kehle zu halten, auf der anderen? Wollen wir wirklich, dass unsere Richter solche Unterschiede ignorieren, wenn sie das Urteil sprechen? Ich nicht, und ich denke nicht, dass irgendeine vernünftige Person es wollte, wenn sie es durchdacht hat. Und doch scheint dies die Botschaft der qualvoll emotionalen Tweets zu sein, die ich gelesen habe. Die Botschaft scheint zu lauten: Nein, es gibt kein Spektrum, du bist böse, teuflisch, ein Monster, wenn du auch nur fragst, ob es  ein Spektrum geben könnte.

Ich denke nicht, dass Rationalisten und Skeptiker eine Tabuzone haben sollten, in die unsere Vernunft, unsere Logik nicht eindringen sollte. Hypothetischer Kannibalismus menschlicher Verkehrsopfer sollte zur Diskussion stehen dürfen (und ist meiner Meinung nach abzulehnen – aber lasst uns darüber diskutieren). Dasselbe gilt für Eugenik wie für Beschneidung und weibliche Genitalverstümmelung. Und die Frage, ob es ein Spektrum von Vergewaltigungen gibt, von schlimm zu noch schlimmer zu noch viel, viel schlimmer, sollte ebenso offen zur Diskussion stehen können, nicht weniger als das Spektrum von einem Schlag ins Gesicht zu einer gebrochenen Nase.

Es hätte keinen Sinn gemacht, das Beispiel mit der gebrochenen Nase zu benutzen, um meine Logik zu illustrieren, denn niemand würde uns bei der Aussage „eine gebrochene Nase ist schlimmer als ein Schlag ins Gesicht“ bezichtigen, dass wir Schläge ins Gesicht billigen. Die zentrale Aussage ist trivial und offensichtlich, ebenso wie bei dem symbolischen Fall von „X ist schlimmer als Y“. Aber ich wusste, dass es bei den speziellen Fällen von Vergewaltigung und Pädophilie nicht jeder als offensichtlich betrachten würde, und das war genau der Grund, weshalb ich die Diskussion angestoßen habe. Es ging mir nicht darum, ob wir uns entscheiden zu sagen, dass die Vergewaltigung durch einen Freund bei einem Date schlimmer ist als die in einer dunklen Gasse durch einen Fremden; oder umgekehrt. Mir war auch bewusst, dass es ein heikles Thema ist, so wie auch die Pädophilie. Ich wollte ganz bewusst das Tabu gegen rationale Diskussion heikler Themen herausfordern.

Das also ist der Grund, weshalb ich Vergewaltigung und Pädophilie als meine hypothetischen Beispiele gewählt habe. Ich denke, Rationalisten sollten imstande sein, Spektren der Scheußlichkeit zu diskutieren, wenn auch nur, um sie abzulehnen. Ich hatte bemerkt, dass Vergewaltigung und Pädophilie von der Diskussionszone in eine Tabuzone gewechselt hatten. Ich wollte das Tabu herausfordern, ebenso wie ich alle Tabus gegen freie Diskussion herausfordere.

Nichts sollte tabu und vor Diskussion geschützt sein. Nein, ich möchte diesen Gedanken berichtigen: Wenn Sie der Ansicht sind, manches sollte tabu sein, dann setzen wir uns hin und diskutieren diese Behauptung an sich. Beleidigen wir uns nicht nur gegenseitig und brechen jede Diskussion ab, weil wir Rationalisten uns irgendwie in ein Land verirrt haben, in dem die Emotion der König ist.

Es ist zutiefst bedauerlich, dass es Menschen gibt, einschließlich innerhalb unserer atheistischen Gemeinschaft, denen Vergewaltigung angedroht wird als Reaktion auf Dinge, die sie ausgesprochen haben. Und es ist ebenso bedauerlich, dass viele von uns buchstäblich Angst davor haben, frei zu denken und zu sprechen; die Angst davor haben, auch nur solche hypothetischen Fragen aufzuwerfen wie die, die ich in diesem Artikel erwähnt habe. Sie haben Angst – und ich kann Ihnen versichern, das ist keine Übertreibung – vor Hexenjagden: Jagden auf Gotteslästerer der letzten Tage durch Inquisitoren der letzten Tage und die Inkarnation der Orwell'schen Gedankenpolizei.

 

Übersetzung von: Joseph Wolsing, Daniela Bartl

Hier geht's zum Originalartikel...

Kommentare

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    Sciencefictionfan

    Vielen Dank für die Übersetzung. Ich hatte den Artikel bereits im englischen Original gelesen und mir meine Gedanken über das Thema gemacht. Aber auf deutsch ist alles nochmal verständlicher.

    Richard Dawkins hat mit seinem Artikel (oder besser den vorhergehenden Twitternachrichten) tatsächlich in ein Wespennetz gestoßen und in gewissen Teilen der Blogosphäre bzw. Netzwelt für äußerst heftige bzw. teilweise sogar agressive Antworten gesorgt.

    Jerry Coyne auf seiner hervorragenden Webseite "Why evolution is true" hat dazu einen interessanten Artikel formuliert:
    http://whyevolutionistrue.wordpress.com/2014/08/05/dawkins-decries-taboos-in-discussions-about-society/
    Ein Kommentator brachte hierzu den Begriff des "Social Cultural Warriors" in die Diskussion, ein interessantes Konzept.

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      Philo

      Antwort auf #8 von Bernd Kammermeier:

      > So, jetzt dürft ihr über mich herfallen...

      Warum sollten wissenschaftlich denkende Menschen, die bestmöglich in Kooperation miteinander konkurrieren/arbeiten möchten, über Sie herfallen wollen?

      Vielleicht, weil Menschen seit Jahrtausenden kaum bis gar nicht mehr davon ablassen können, in Konkurrenz gegeneinander zu agieren, weil es permanent um Geld, Macht, Gewinner und Verlierer (Königreiche der Emotionen) geht?

      Ich kann zwar die Befürchtung verstehen, dass wenn man als gänzlich konsequenter Freidenker so manch Gedankenexperiment veröffentlicht, recht schnell als Spinner, als Fantast, als Utopist, oder sonstwie als pathologisch Entarteter abgetan wird, aber; mussten Pioniere nicht schon immer über derlei Bedenken hinwegsehen?

      Das für mich genialste Gedankenexperiment aller Zeiten ist in 9 Sprachen (auch in Deutsch) verfasst worden und als kostenloses E-Book (PDF-Datei) auf folgender I-Net-Seite erhältlich:
      Designing the Future

      In diesem Sinne möchte ich auch meinen: Erst lesen, und danach bitte in aller trivialkulturellen Manier darüber herfallen,

      Philo

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        Bernd Kammermeier

        Antwort auf #7 von Joe Wolsing:
        > Auch auf die Gefahr hin, dass es kein guter Stil ist, wenn der Übersetzer selbst kommentiert, muss ich hier doch etwas los werden. Nachdem ich eine Menge Kommentare auf der englischen Originalseite gelesen habe, keimt in mir der Verdacht auf, dass Prof. Dawkins hier in ein wahres Wespennest gestoche...

        Ein sehr guter, sehr menschlicher Kommentar.
        Zivilisation ist nichts Fertiges und wird es nie sein. Auch, weil sich unser Horizont erweitert, weil sich technische Möglichkeiten erweitern. Veränderungen werden allerdings von vielen als Bedrohung wahrgenommen, als Angriff auf das eigene Leben.

        Der Mittelweg ist für mich richtig: Das Neue nicht ablehnen, aber kritisch hinterfragen.

        Bezügl. des Bestrafungsaspektes in Richard Dawkins Artikel: Ich bin der Meinung, dass Strafe noch immer alttestamentlichen Ideen folgt. Gott straft, erlaubt den Menschen zu strafen und so strafen sie. Die Bibel ist voll davon. Ich frage mich: Welchen Sinn hat Strafe? Zunächst hat jemand etwas angestellt. Geschah es unabsichtlich reicht es völlig aus, wenn er den Schaden wiedergutmacht. Doch hat er es absichtlich getan, sieht die Welt völlig anders aus. Da muss STRAFE her! Begründung: Um andere von einer Nachahmung der Tat abzuhalten. Das leuchtet zunächst ein, doch wenn dieser Mechanismus greifen würde, dann gäbe es keine "Nachahmer". Keine noch so hohe Verurteilung eines Bankräubers hat den folgenden daran gehindert, es trotzdem zu versuchen. Weil Menschen sich hin und wieder für cleverer halten.

        Natürlich ist die Frage erlaubt, ob es nicht mehr Banküberfälle gegeben hätte, wenn es keine Strafe dafür gäbe. Doch für mich heißt keine Strafe nicht: Keine Wiedergutmachung! Was im Zivilprozess (unabsichtlicher Schaden) gilt, kann hier nicht weniger gelten. Der Täter muss den angerichteten Schaden reparieren. D.h. Schmerzensgeld für geschockte Bankangestellte, deren eventuelle psychotherapeutische Behandlung, Sachschäden, Polizeieinsatz, eventuell verschwundenes Geld, Ermittlungskosten, Gerichtskosten etc. Da können leicht einige 10.000 oder sogar 100.000 Euro zusammenkommen.

        Wäre es nicht klüger, den Täter gerade deshalb in Lohn und Brot zu lassen, damit er den Schaden wieder gutmacht? Im Gefängnis (= was die Bevölkerung befriedigen mag) kostet er den Steuerzahler jeden Tag über 100 Euro (Im Falle von Fehlurteilen kämen noch mal Entschädigungsleistungen dazu). Die Produktivität eines Täters im Gefängnis ist also negativ. Er trägt nicht positiv zum Bruttosozialprodukt bei, egal wie oft er in die Hände spuckt.

        Wer repariert für den verurteilten Täter also den durch ihn angerichteten




        Schaden? Versicherungsgesellschaften, Krankenkassen, Kunden der Bank, also letztlich wieder die Allgemeinheit. Die Gesellschaft blutet also bei jeder Tat doppelt und dreifach und der Täter sitzt einfach ein gewisse Zeit nutzlos herum, bis er rauskommt und in eine sozial schwierige Situation entlassen wird, die ihn, wenn nicht alles optimal läuft, schnell wieder zum Täter werden lässt. Eine Spirale!

        Doch würde das Täter nicht ermutigen, es einmal mit einer Straftat zu versuchen, wenn man "nur" den angerichteten Schaden reparieren muss? Nun, das ist eine Frage der Perspektive. Nehmen wir als anderes Beispiel einen jugendlichen Schläger. Er schlägt eine Person krankenhausreif. Das produziert einen materiell feststellbaren Schaden, bis hin zu dauerhaften Schäden, falls das Opfer lebenslang leidet oder sogar verstirbt (also z.B. als Ernährer einer Familie ausfällt). Selbst wenn er - wie oft diskutiert - einen "Warnschussarrest" bekäme, frage ich mich, was produziert dieser Warnschussarrest anderes, als Kosten für die Allgemeinheit?
        Wäre es für den jugendlichen Täter nicht peinlicher, wenn er den gesamten Schaden abarbeiten müsste, wobei er selbst bis zur vollständigen Begleichung auf Hartz-IV-Niveau gesetzt wird. Und je weniger er arbeitet, desto länger zieht sich seine "Strafe" bzw. Wiedergutmachung hin. Dies gilt quasi lebenslang. Das erscheint zunächst sehr hart, weil ein Jugendlicher, der einen anderen totprügelt unter Umständen nie mehr ein normales Einkommen haben wird. Okay, das ist hart, aber auch abschreckend (das soll ja die Wirkung von Strafe sein). Im anders Fall könnte ein solcher Täter bis zu zehn Jahre Jugendarrest bekommen, was wieder Kosten für die Allgemeinheit bedeutet und der Opferfamilie nichts bringt, außer alttestamentliche Genugtuung.

        Die Kernfrage für mich ist: Ab wann ist eine Strafe geplant oder geschieht im Affekt? Taten im Affekt oder unter Alkohol-/Drogeneinfluss müssen natürlich anders behandelt werden, z.B. mit anschließenden Therapien. Auch da ist eine Gefängnisstrafe wenig hilfreich, eher im negativen Sinne "lehrreich". Natürlich sind auch jede Menge Übergangslösungen denkbar, in dem der Richter einen Ermessensspielraum hat, wie viel Prozent des Schadens wiedergutgemacht werden muss. Ist es ein Ersttäter oder ein ernsthaft reuiger Täter will man ihm ja nicht das Leben verbauen. Dies kann aber sehr stark von der Kooperationsbereitschaft des jungen Täters abhängig gemacht werden.

        Ich denke schon, dass ein derartiges, letztlich auf Wiedergutmachung aufgebautes Rechtssystem, das eben nicht alttestamentlich straft um der Strafe und Befriedigung der Volksseele willen, mehr abschreckende Wirkung entfaltet. Ein paar Tage oder Wochen Jugendarrest gilt in vielen Kreisen eher als "Adelung", doch wenn der andere arbeiten muss (das können auch Sozialstunden sein, z.B. in einem Krankhaus oder einer Reha-Klinik, um Gewaltopfern zu helfen), wird er nicht an Ansehen in seiner Clique gewinnen. Solche Beispiele schrecken also ab. Und die, die sich nicht abschrecken lassen, kann man auch nicht mit drohenden Gefängnisstrafen abschrecken.

        Um meine noch sehr rohen und unausgereiften Gedanken noch einmal zu präzisieren: Ich plädiere für eine (weitgehende) Abschaffung der Gefängnisstrafen (Ausnahmen wären uneinsichtige Wiederholungstäter. Gefährliche Täter wegen psychischer Erkrankungen müssten sowieso stationär behandelt werden). Stattdessen muss der Täter für alle Kosten, die er durch seine Tat produziert hat, aufkommen. Jetzt könnte man hier argumentieren, dass Reiche sich mehr Verbrechen leisten könnten, als arme Menschen. Doch ist das wirklich ein Argument? Wenn z.B. ein Reicher eine Hotelangestellte vergewaltigt, dann muss er den Schaden (inkl. Schmerzensgeld und psychischer Behandlung) wiedergutmachen. Setzen wir diese Kosten mal auf eine Mio. an, dann könnte ein 100facher Millionäre theoretisch 100 Hotelangestellte vergewaltigen, bis er pleite ist. Doch würde das ein solcher Mensch soweit kommen lassen? Ich weiß es ehrlich nicht, dafür gibt es zu seltsame Typen von Menschen.

        Ich würde das aber auch eher aus der Opferperspektive sehen: Die Tat ist geschehen (passiert auch heute, trotz Gefängnisandrohung) und jetzt würde diese Person ihren Schaden (auch den "seelischen" Schaden) kompensiert bekommen. Was hätte sie davon, wenn der Täter "lediglich" ins Gefängnis geht? Natürlich muss (und wird) ein reicher Täter die Kosten auch heute begleichen müssen (eventuell in einem nachfolgenden Zivilprozess), aber das Gefängnis an sich wird keine Läuterung herbeiführen. Ich glaube auch nicht, dass Uli Hoeneß weniger geldgierig aus dem Gefängnis kommt. Er wird künftig nur besser aufpassen.

        Es ist eine Frage des Denkens. So lange nur eine Befriedigung beim Opfer eintritt, wenn sein Peiniger oder Schädiger möglichst lange (auf Staatskosten) weggesperrt wird, solange werden wir jährlich über 2 Mrd. Euro in Deutschland ausgeben (die in präventiven Maßnahmen besser ausgegeben wären) und die Opfer selbst gehen oft leer aus, wenn z.B. das Vermögen des Täters nicht ausreicht.

        Das macht für mich keinen richtigen Sinn. Ich will hier auch keine Lösung anbieten, aber es wäre mal so ein Anstoß zum Nachdenken, ob man den Fokus bei der Bestrafung ein wenig weglenken könnte von alttestamentlichen Rachestrafen (Extremform: Todesstrafe) hin zur völlig ausreichenden und abschreckenden Wiedergutmachung in jeder denkbaren Weise.

        So, jetzt dürft ihr über mich herfallen...

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          Joseph Wolsing

          Auch auf die Gefahr hin, dass es kein guter Stil ist, wenn der Übersetzer selbst kommentiert, muss ich hier doch etwas los werden. Nachdem ich eine Menge Kommentare auf der englischen Originalseite gelesen habe, keimt in mir der Verdacht auf, dass Prof. Dawkins hier in ein wahres Wespennest gestochen hat. Dabei hat der den Nagel auf den Kopf getroffen. Offensichtlich betrachten sich viele Menschen selbst als Rationalisten, aber:

          Wenn man nicht bereit ist, Realität als das wahr zu nehmen, was sie ist, häufig mehr als nur unschön, dann kann man darauf verzichten solche Fragen zu stellen. Jedoch gibt es Vergewaltigungen überall auf der Welt, der Krieg in Gaza ist Realität und selbst solche Fragen wie die, ob Folterung eines Verbrechers situativ gerechtfertigt sein kann sind Realität

          Deutschland 2002 Der Fall Magnus Gäfgen. Dem geständigen Kindesentführer (und Mörder) wurden „Schmerzen, wie er sie noch nie erlebt habe“ angedroht um den Aufenthaltsort des Entführungsopfers in Erfahrung zu bringen. In Folge wurde gegen den stellvertretende Polizeipräsident Frankfurts Wolfgang Daschner und der Mitangeklagte Kriminalhauptkommissar Ortwin Ennigkeit wegen Verdachts auf Nötigung im Amt ermittelt. Daschner wurde zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 120 Euro und Ennigkeit zu 60 Tagessätzen zu je 60 Euro verurteilt.

          Die Tatsache, dass solche Übel in der Welt der Menschen existieren, wirft unmittelbar die Frage auf, woher wir die Standards haben, nach denen wir solche Dinge einstufen und als übel verurteilen. Weder sind sie a priori gegeben, noch haben wir sie aus den sog. „heiligen Schriften“. Wir haben sie im Diskurs über Jahrtausende hinweg erarbeitet (und dann in den sog. Heiligen Schriften untergebracht um sie möglichst allgemein verpflichtend zu machen!) und das obengenannte Beispiel zeigt sehr deutlich auf, dass wir gut daran tun, diesen Prozess nicht als abgeschlossen zu betrachten, sondern weiter daran arbeiten unsere Standards zu verfeinern. Auch, oder gerade weil wir in einer immer komplexer werdenden Welt leben, in der das Übel sich teils versteckt, teils einfach geographisch ausgelagert wird, in Gegenden die so weit von uns entfernt sind, dass wir es sehr leicht verdrängen können.

          Bei der Hypothese welche Form der Vergewaltigung schlimmer ist, geht es nicht nur um den Aspekt, dass solche Handlungen ganz einfach immer inakzeptabel sind, sondern auch um die Frage wie zivilisiert der Umgang mit dem Täter ist. In Gesprächen mit Bekannten wurde mir schon vollkommen ungerührt gesagt, die sollte man töten, oder zumindest kastrieren. Selbst eine lebenslange Haftstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung wurde nicht als ausreichende Reaktion auf die Tat erachtet, ja sogar die Frage aufgeworfen, weshalb die Allgemeinheit die Kosten für die lebenslange Unterbringung dieser Straftäter tragen soll. Hier zeigt sich für mich, dass die Entwicklung unseres zivilisierten Denkens noch lange nicht abgeschlossen ist.

          Meine Familiengeschichte als Nachkomme ehemaliger karibischer Sklaven hat mich für das Thema sensibilisiert. Dennoch bin ich in der Lage Sklaverei nicht einfach als geschichtlichen Fauxpas der Menschheit zu betrachten, der als überwunden gelten kann, weil auf der Heimatinsel meines Vaters keine Sklaven mehr gehalten werden, sondern ich bin mir in dem Augenblick, in dem ich das hier schreibe bewusst, dass für die Gewinnung der Rohstoffe, aus denen mein Laptop produziert wurde, sowie für dessen eigentliche Herstellung an verschiedenen Stellen der Welt Menschen in der Sklaverei ähnlichen Zuständen ihr Dasein fristen müssen, entweder um überhaupt zu überleben, oder weil in den dortigen Systemen - von uns Konsumenten toleriert - Menschen dazu gezwungen werden.
          Nur durch das Überdenken solcher Dinge ist es möglich sie zu verändern und so das Leben aller möglichst gut zu gestalten. Um das Verständnis dafür zu erlangen ist es unter anderem notwendig, auch extreme, sehr unangenehme Hypothesen aufzustellen und sie durchzudiskutieren.

          Ein Verbannen solcher Diskussionen käme meiner Ansicht nach der Bereitschaft gleich den status quo zu akzeptieren und einen signifikanten Teil der Menschheit einfach seinem Schicksal zu überlassen. Nur durch leidenschaftsloses Erörtern der moralischen Problemstellung ist es möglich auch in die dunklen Abgründe des Menschlichen Licht zu bringen, sie zu erhellen und damit weiter dem entgegenzustreben, was ich unter Zivilisation verstehe.

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            Gast

            Dawkins Beitrag ist sehr interessant. Wenn man nur in bekannten und akzeptierten Bahnen denkt, erzeugt es Stillstand. Wenn jede Befindlichkeit berücksichtigt werden muss, gibt es keine Diskussion mehr. Ich würde mich nicht darum scheren, ob i-jemand beleidigt sein könnte, was nicht bedeutet, dass ich mir vorab keine Gedanken über meine Aussagen mache. Ich habe vielleicht nur eine sachlichere Vorgehensweise.

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              GBS Kaiserslautern Westpfalz

              Sehr guter Artikel,

              Danke für die Übersetzung. Tabus bringen die Menschheit nicht weiter. Es muss über alles diskutiert werden dürfen. Nur so hat es die Menschheit überhaupt geschafft, die Menschenrechte zu benennen. Was früher moralisch verwerflich war, ist heute Gesetz. Ich finde es natürlich viel leichter wie Religiöse damit umgehen. Denn Mörder ist Mörder, Dieb ist Dieb usw. aber so geht es nicht. Auge um Auge Zahn um Zahn ist die einzige Lösung die dann rauskommt. Nein, es spielen viele Faktoren eine Rolle die einfach auch berücksichtigt werden müssen. Der Logik und vielleicht auch der Fairness wegen. Ein Richter ist hierfür ein gutes Beispiel. Wenn er mit Tabus arbeiten würde, wäre das eine Katastrophe.

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                Philo

                Auch von mir allergrößten Dank für diesen längst überfälligen Artikel!

                Während ich diesen Artikel las, gingen mir ständig recht bekannte Namen von mutigen Denkern durch den Kopf.
                Allem voran F. Nietzsche, der feststellte, dass sich kaum ein Mensch mehr eine Welt ohne Herrscher und Beherrschte vorstellen kann.
                Aber es gibt solche Menschen und dachte dabei zunächst an Jaque Fresco.
                So auch an Karheinz Deschner, der mitunter meinte, wer etwas für die Gesellschaft tun wolle, muss gegen sie kämpfen.
                Gefolgt von Dr. Michael Schmidt-Salomons These, warum wir ohne Moral die besseren Menschen seien, ließ auch Paul Valéry in meinem Kopf mit seinem Satz grüssen: „Wer den Gedanken nicht angreifen kann, greift den Denkenden an.“
                Sogar Zarathustra wusste seiner Zeit bereits den rebellisch-denkenden Menschen als den tatsächlichen "Übermenschen" (Pionier, Helden, Erneuerer, Wissenschaftler, Erfinder, Künstler...) zu realisieren und zu definieren, wenn auch nicht im gänzlich ausgereiften Umfang.
                Und wehe, jemand behauptet, Ockhams Rasiermesser schneide selbst im 21. Jahrhundert immer noch nicht besser, als jener Faustkeil des Neandertalers, hat mit einem beschwerenden Geplänkel nach Art "HURGA! HURGA! zu rechnen.

                Zugleich kann man solche Klagen aber auch nicht als Vorwürfe auffassen, die nach Bestrafungen verlangen, denn dafür ist sich der Mensch als entwicklungsfähiges bzw. entwicklungsaktives Wesen bereits fortlaufend Strafe genug, meist beginnend mit der zu oft erlebten Einsamkeit, die sich zunächst aus jedem neu erschlossenen Paradigmenwechsel ergibt.

                Ähnlich wie Martin Luther Kings Satz >I Have a Dream< pflege auch ich einen Traum, in dessen z. B. Menschen ungehindert ihre Neugierde (Wissenschaftsanliegen) befriedigen können, als auch nackt sein dürfen, wann immer sie das wollen, ohne deswegen verfolgt, verhaftet, angeklagt, bestraft oder sonstwie geschunden zu werden, denn letztendlich wird "die Natur" als "intellektuell neutrale Instanz" immer recht behalten, ganz egal, was im Universum passiert.

                In diesem Sinne, Philo

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                  GBS Kaiserslautern Westpfalz

                  Antwort auf #5 von Bernd Kammermeier:
                  > Ein sehr guter und wichtiger Beitrag zur Denkkultur.
                  > Ich bin jetzt mal Richter und erweitere das Thema Vergewaltigung:
                  > Nicht nur die Ausführung und Umstände der Tat werden beurteilt, sondern auch die psychologischen Hintergründe, die besondere Situation, in der sich Täter und Opfer befanden. Es gibt...

                  Ja Bernd, sehr gut erkannt.

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                    Bernd Kammermeier

                    Ein sehr guter und wichtiger Beitrag zur Denkkultur.
                    Ich bin jetzt mal Richter und erweitere das Thema Vergewaltigung:
                    Nicht nur die Ausführung und Umstände der Tat werden beurteilt, sondern auch die psychologischen Hintergründe, die besondere Situation, in der sich Täter und Opfer befanden. Es gibt heute eine Reihe von Gründen, einen betrunkenen Täter oder einen psychisch kranken Täter anders zu be-(ver)urteilen, als einen Gesunden, der sich durch die Tat eventuell an einer aufmüpfigen Freundin rächen wollte. Aber gerade diese Differenzierung in der Strafbemessung - die mir noch lange nicht weitgenug geht - stößt in der Öffentlichkeit auf größtes Unverständnis.

                    Dort darf so etwas nicht einmal diskutiert werden. Man soll nur an das Opfer denken und beim Täter: "Rübe ab!" Das hängt mit dem befürchteten Tabubruch zusammen, den Richard Dawkins allerdings zu Recht fordert. Tabus sind Reste religiösen Denkens und hatten einst Schutzfunktionen. Doch sind sie auch Denkverbote. In einer Gesellschaft (z.B. die der Bronzezeit), in der Tabubrüche unmittelbar negative Folgen produzierten, waren Tabus sicher notwendiger. Doch eine aufgeklärte, rechtsstaatlich organisierte Gesellschaft, wie die westliche, kennt ausreichend Mittel, um Tabubrüche ohne schädliche Folgen zuzulassen. Gedanken sind mittlerweile nicht nur frei, sondern wichtig, um uns weiterzuentwickeln.

                    Gedankenexperimente sind die Essenz einer evolutionären Gesellschaft. Dies muss auch als gutes Prinzip in die Öffentlichkeit getragen werden. Was nutzt es z.B. im Minenfeld Pädophilie schwarz weiß denkend zu agieren? Jeder Täter weiß im Vorfeld, dass er im Gefängnis wie der letzte Dreck behandelt würde. Deshalb gibt es dort viele Tötungsdelikte als Verdeckungsstraftat. Doch wäre es nicht jedem Kind (und dessen Eltern) lieber, als Vergewaltigungsopfer weiterleben zu dürfen, als wegen der Angst des Täters vor überproportionalen Konsequenzen zu sterben? Doch das indifferente "Rübe-ab"-Denken der Öffentlichkeit (dem sich oft genug Richter in ihrem Strafmaß verpflichtet sehen) verhindert eine öffentliche Debatte über ein heikles Thema. Vor allem verhindert sie Lösungsansätze bis hin zur therapeutischen Heilung bevor eine Tat stattfindet. Welcher Mensch mit dieser Neigung würde sich denn freiwillig dem Spießrutenlauf aussetzen, wenn herauskäme, er befindet sich deswegen in psychotherapeutischer Behandlung?

                    In England wurde vor Jahren ein Kinderarzt angegriffen, weil an seiner Haustür das Schild "Pediatrician" hing und die Trottel dachten, er hätte im Suff bekannt gemacht, ein "Pedophile" zu sein. Dieses Tabudenken schaltet komplett die Hirnzellen aus.

                    Es geht nicht nur um Gerechtigkeit. Mir wäre es wichtig, dass Denken generell nicht so suspekt behandelt wird, sondern als Chance bewertet wird. Denken führt nicht unmittelbar zum Handeln, sondern durchläuft eine Reihe interner Kontrollmechanismen - vor allem wenn das Denken in Gruppen vollzogen wird. Vor allem muss deutlich werden, dass das Denken über Themen und die Einnahme fiktiver Positionen nicht automatisch auf ÜBERZEUGUNGEN des Denkenden schließen lassen.

                    Ich habe irgendwo ein interessantes Buch eines Frankfurter Strafverteidigers, der recht offen über seine Praxis berichtet. Er schreibt, dass er sehr oft angefeindet wurde - gerade bei Sexualdelikten - wie er denn diesen oder jenen Täter verteidigen könne, gerade so, als verteidige er nicht den Menschen, sondern auch dessen Taten. Ja, als ob er sie sogar gutheiße!

                    Diese Blockade im Hirn blockiert unsere Gesellschaft, wie die Religion sie lange blockiert hat und immer noch blockieren will.

                    Wir brauchen also einen geistigen "Blockade runner", um hier weiter zu kommen. Eine Lösung kenne ich auch nicht, aber wir müssen sie finden.

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                      GBS Kaiserslautern Westpfalz

                      Antwort auf #2 von Garelump:
                      > Dawkins Beitrag ist sehr interessant. Wenn man nur in bekannten und akzeptierten Bahnen denkt, erzeugt es Stillstand. Wenn jede Befindlichkeit berücksichtigt werden muss, gibt es keine Diskussion mehr. Ich würde mich nicht darum scheren, ob i-jemand beleidigt sein könnte, was nicht bedeutet, dass ic...

                      Richtig, aber nicht zu vergessen, du willst ja nicht die Thematik "Tabus" erklären wie RD , sondern eher über ein Thema hier und da diskutieren, was nicht grad so erfreulich ist. Müsstest du aber Beispiele bringen um zu veranschaulichen wie du es meinst, hilft gerade "rücksichtsvolle Sachlichkeit" nichts. Denke ich mal.......

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