Glauben ist einfach, denken nicht

Über Leben und Werk von John Brunner

„Verschwenden Sie keinen Gedanken ans Morgen; das ist Ihr gutes Recht. Aber beklagen Sie sich nicht, wenn es plötzlich da ist und Sie haben nichts mitzureden.“ (J.B., „Der Schockwellenreiter“)

Glauben ist einfach, denken nicht

John Brunner, Quelle: http://www.sfhub.ac.uk/Brunner/portrait3.jpg

John Kilian Houston Brunner (1934-1995) schrieb Romane in einem literarischen Ghetto, das inzwischen zusehends aus den Regalen der Buchhändler verschwindet, da es von billiger Fantasy-Massenware, die sich besser verkaufen lässt, verdrängt wird: Er war Science-Fiction-Autor – und das im besten Sinne des Wortes. In seinen Hauptwerken stellte er die Frage „Was wäre wenn?“ kritischer und konsequenter als seine Kollegen und extrapolierte Themen wie Überbevölkerung, Umweltzerstörung, religiösen Wahn, Rassismus und Datenmissbrauch (40 Jahre vor Edward Snowden!) in mögliche zukünftige Welten. Dies gelang ihm in einer Eindringlichkeit und Überzeugungskraft, die seine Leser nachhaltig beeindruckte. Trotzdem blieb ihm zeitlebens der große Durchbruch verwehrt – wie ja überhaupt nur wenige SF-Autoren, etwa Philip K. Dick (nach seinem Ableben) und Stanislav Lem, den Sprung in die Feuilletons geschafft haben. Wolfgang Jeschke, der ehemalige Herausgeber der SF-Reihe bei Heyne, beklagt nicht zu Unrecht, dass dieser Literaturgattung „pauschal der Anspruch verweigert wird, überhaupt Literatur zu sein“ (1). Aber selbst unter heutigen SF-Lesern sind Brunners Romane kaum noch bekannt – seine Werke sind offenbar zu ambitioniert, zu intelligent, zu groß, zu beunruhigend. Wenn überhaupt, kennt man eins seiner Bücher nur indirekt als Titelgeber des dienstältesten deutschsprachigen Weblogs von Jörg Kantel. (2)

„Die Art von Vernunftwidrigkeit, die das Entstehen von Religion ermöglicht, ist im menschlichen Geist stets dicht unter der Oberfläche präsent.“ (J.B., „Labyrinth der Sterne“)

John Brunner wurde am 24.9.1934 in England geboren und studierte moderne Sprachen. Nach der Dienstzeit in der Schreibabteilung der Royal Air Force heiratete er 1958 seine Frau Marjorie und begann in London eine Laufbahn als professioneller Schriftsteller. Daneben übersetzte er Autoren wie z.B. Rainer Maria Rilke aus dem Deutschen und Französischen ins Englische und schrieb verschiedene Songtexte, deren bekanntester „The H-Bomb’s Thunder“ in der Vertonung von Pete Seeger sein dürfte. (Apropos Sprachen: Auf dem SF-Worldcon 1970 in Heidelberg überraschte er das Publikum, als er eine Preisverleihung in fließendem Deutsch moderierte (3).) Brunners politisches Engagement zeigte sich durch die frühe Unterstützung der Anti-Atomwaffen- Bewegung und durch eine zusammen mit seiner Frau veranstaltete Konferenz zur nuklearen Abrüstung, die auch in Deutschland gezeigt wurde. 1962 nahm er als Beobachter an der Weltfriedenskonferenz in Moskau teil und stiftete den Martin-Luther-King-Gedächtnispreis, der jährlich Werke auszeichnet, die sich um die Völkerverständigung verdient gemacht haben.

„Du hast das Recht dazu, dich umzubringen. Aber sonst niemand.“ (J.B., „Morgenwelt“)

Nach dem Tod von Marjorie 1986 ging es mit Brunner gesundheitlich und finanziell bergab; er musste gegen Bluthochdruck Medikamente einnehmen (Aldomet – mit drastischen Nebenwirkungen wie Depressionen und Schlaflosigkeit (4)), die seine Kreativität fast gänzlich zum Erliegen brachten. Und seine harsche Thatcherismus-Kritik in Form des Romans „Children Of The Thunder“ beförderte ihn nach Meinung seines deutschen Übersetzers Horst Pukallus (5) in der neokonservativen britischen Gesellschaft seinerzeit in den Status einer „Unperson“. Seit 1991 wieder verheiratet und voller Pläne, beschloss er 1995, zur Wiedererlangung der früheren Produktivität seine Medikation abzusetzen – was möglicherweise den tödlichen Herzinfarkt auslöste: Brunner starb am 24.8.1995 während des SF-Worldcons in Glasgow.

„Eine der grundlegenden Eigenschaften eines Weisen ist die Fähigkeit zur Einsicht, wieviel Zeit und Kraft durch Konkurrenz verschleudert wird.“ (J.B., „Der Schockwellenreiter“)

„Ich lebe in einem System, das mich zwingt, mein Auskommen durch meine Arbeit zu verdienen. Ich backe sozusagen Brötchen und ich backe Torten. Von den Brötchen lebe ich“, so Brunner bei einem Interview in Düsseldorf. (6) Seine ersten Veröffentlichungen, die er selber als „leichtverdauliche SF-Geschichten“ bezeichnete, fallen allesamt unter die Kategorie „Brötchen“, da er in den beruflichen Anfangsjahren viel und schnell schreiben musste, um sich finanziell wenigstens einigermaßen abzusichern. Brunners erste und berühmteste literarische „Torte“ ist der Roman „Stand On Zanzibar“ (1968, dt. „Morgenwelt“). Darin beschreibt er die vielfältigen Auswirkungen einer weltweiten Überbevölkerung zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Der Titel des Romans spielt darauf an, dass um diese Zeit die gesamte Erdbevölkerung dicht an dicht stehend die Fläche der Insel Sansibar bedecken würde. (Am Ende des Romans steht – trotz zahlreicher zu Tode gekommener Protagonisten – „die Menschheit rings um Sansibar zu Zehntausenden bis zu den Knien im Wasser“. (7)) Die nichtlineare Handlung des Buches wiederzugeben ist schwierig, da Brunner – inspiriert von John Dos Passos’ Großstadtroman „Manhattan Transfer“ von 1925 und angereichert mit den Theorien Marshall McLuhans – zu einer collagen-artigen Schreibtechnik griff, die das Gesamtgeschehen aus mehreren Erzählsträngen und kurzen Handlungsabschnitten zusammensetzt und diese in zahlreiche „Schnipsel“ wie Werbeeinblendungen, Zitate aus fiktiven (da zukünftigen) Büchern, Zeitungsartikel, behördliche Verlautbarungen oder Gesprächsfetzen einbettet, die die gefühlte Realität des Gelesenen geschickt befördern. Brunners vorbereitende Recherchen für das Buch, tatsächlich eher „a film in book form“ (8), nahmen drei Jahre in Anspruch. Es katapultierte ihn seinerzeit in der weltweite Spitzenriege der SF- Autoren und gewann alle wichtigen Auszeichnungen des Genres, „war aber kein wirtschaftlicher Erfolg. Das ist höchst bedauerlich, denn es gibt keinen Roman in der gesamten Literatur, der sich so intensiv und kritisch, so kenntnisreich und hellsichtig mit unserer Welt um die Wende vom zweiten zum dritten Jahrtausend auseinandersetzt“ (9).

„Diejenigen an der Macht, die um jeden Preis an der Macht bleiben wollen, haben stets einen letzten Trumpf. Wenn alle Stricke reißen, sind sie bereit zu töten. Das ist den Pazifisten verwehrt.“ (J.B., „Kinder des Donners“)

Von gleichem Rang und vergleichbarer Schreibtechnik ist „The Sheep Look Up“ (1972, dt. „Schafe blicken auf“), ein niederschmetternder Ausblick auf eine vergiftete Umwelt und ihre Folgen, der mit einem fast schon satirischen, aber authentischen Zitat von einer Hinweistafel noch harmlos eingeleitet wird („Bitte helfen Sie uns, den Hafendamm sauberzuhalten – werfen Sie Abfälle über Bord“) und in Massenwahnsinn und kriegsähnlichen Zuständen endet, weil weite Teile der Bevölkerung von ausgelaufenen chemischen Kampfstoffen, die ins Grundwasser gelangen konnten, um den Verstand gebracht worden sind. „Dieses Buch ist der bisher kompromissloseste Roman zum Thema Umweltverschmutzung. In ihm (...entfaltet Brunner...) vor dem Leser ein Kontinuum des Schreckens, das an Eindringlichkeit und Realismus nicht nur in der SF seinesgleichen sucht.“ (10)

„Wie würde unsere Gesellschaft aussehen, wenn wir Cannabis sozialisiert hätten, statt gefährliche Drogen wie Alkohol und Religion?“ (J.B., „Die dunklen Jahre“)

Die dritte „Torte“, die nicht unerwähnt bleiben darf, ist „The Shockwave Rider“ (1975, dt. „Der Schockwellenreiter“). Der Titel bezieht sich auf das bekannte Werk des Futurologen Alvin Toffler, „Future Shock“, und steht für den Protagonisten, den Hacker (wie man ihn heute nennen würde) Nickie Haflinger, der einen Weg gefunden hat, sich im IT-Netz nach Belieben mit neuen Identitäten auszustatten, bevor er sich mit den dadurch erworbenen Erkenntnissen den kriminellen Machenschaften der US-Regierung entgegenstellt. Das weltweite Computernetz wird 1975 bei Brunner zu einem Werkzeug, das massive soziale Auswirkungen bis hin zu Datenparanoia und Informations- Überladung zur Folge hat. Am Ende sorgt ein von Haflinger programmierter „Wurm“ für die Freigabe aller – auch geschützter – Informationen und stellt die Protagonisten vor die Wahl, wie sie mit dieser gewonnenen Freiheit künftig umgehen wollen.

„Wenn es ein Phänomen wie das absolute Böse überhaupt gibt, dann besteht es darin, einen Menschen wie ein Ding zu behandeln.“ (J.B., „Der Schockwellenreiter“)

Weitere erwähnenswerte Romane aus Brunners umfangreichen Werkkatalog sind „The Squares Of The City“ (1965, dt. „Die Plätze der Stadt“), dessen Handlung eine berühmte Schachpartie zu Grunde liegt (Steinitz-Tschigorin 1892, auch „The Immortal Game“ genannt); „The Jagged Orbit“ (1969, dt. „Ein irrer Orbit“), das in seiner ersten deutschen Übersetzung bei Goldmann von exakt 100 auf unglaubliche 32 Kapitel gekürzt wurde, was Brunner in einem Brief als „keine Übersetzung, sondern eine Travestie“ brandmarkte; „The Dreaming Earth“ (1963, dt. „Träumende Erde“); „A Maze Of Stars“ (1991, dt. „Labyrinth der Sterne“) und „Children Of The Thunder“ (1988, dt. „Kinder des Donners“). In ihnen stellt er das wirtschaftliche, politische und moralische System der Industrienationen in Frage, prangert die Auswüchse ihres verschwenderischen Lebensstils an und plädiert für Toleranz, Vernunft und Verständigung.

„Wir Menschen sind nicht völlig blödsinnig, aber wir weisen einen furchtbar starken Hang dazu auf.“ (J.B., „Morgenwelt“)

John Brunner war – in seinen Hauptwerken, aber nicht nur dort - eine aufrüttelnde Stimme der engagierten und mahnenden Vernunft. Im Nachwort zur deutschen Ausgabe von „Children Of The Thunder“ (übrigens auch diese deutsche Taschenbuchausgabe mit einer abscheulichen Cover-Gestaltung, die alles andere als verkaufsfördernd wirkt) fasst Ernst Petz unter dem Titel „Töten ist einfach, leben nicht“ treffend zusammen: „Brunner ist notwendig und wohltuend provozierend, ungeheuer wohltuend wahr, ein schonungsloser Ankläger – nicht zuletzt, weil er die Geschichte dieses Planeten kennt und aus dem, was Menschen bisher an Menschen verbrachen, für die Zukunft die richtigen, weil logischen, Schlüsse zieht. (...) Brunners geniale Appelle werden auch in Zukunft ins Leere gehen, ungehört verhallen, (denn): (...) eine großangelegte Verdummungsindustrie warnt immer noch und immer frecher vor den Flüchen des Wissens.“ (11)

„Meine Ausbildung hat mich – und praktisch jeden den ich kenne – in eine leistungsfähige Prüfungsbestehmaschine verwandelt.“ (J.B., „Morgenwelt“) – „Bevor ich (in diese Schule) kam, hatte ich keine Ahnung, wieviel Spaß es machen kann, etwas begreifen zu lernen!“ (J.B., „Kinder des Donners“)

Mein Tipp: Geben Sie Brunner eine Chance – wenn schon Unterhaltungsliteratur, dann eine mit Anspruch, Ambition, Ideen und Gehalt. Besorgen Sie sich „Morgenwelt“, „Schafe blicken auf“ oder den „Schockwellenreiter“ gebraucht in einem (virtuellen) Antiquariat oder als (leider nur englische) eBooks in den üblichen Stores. Es könnte sein, dass Sie danach noch mehr von seiner Stimme werden hören wollen. Aber lassen Sie es dabei nicht bewenden, denn:

„Es ist kein Spaß zu entdecken, dass man sein Leben lang andere Leute für sich hat denken lassen, nicht wahr?“ (J.B., „Die dunklen Jahre“)

Christian Brandes

Quellenangaben:
(1) Wolfgang Jeschke, im Editorial zu: „Das Science Fiction Jahr 1988“, Heyne-Verlag, München, 1988
(2) blog.schockwellenreiter.de
(3) Jad Smith, „John Brunner“, University of Illionois Press, Urbana/Chicago/Springfield 2012
(4) ebd.
(5) Nachwort von Horst Pukallus, in: John Brunner, „Chaos Erde“, Heyne-Verlag, München, 1996
(6) Wolfgang Jeschke, im Vorwort zur Neuausgabe von: John Brunner, „Morgenwelt“, Heyne-Verlag, München, 2000
(7) John Brunner, „Morgenwelt“, Heyne-Verlag, München, 2000
(8) Norman Spinrad, zitiert im Nachwort von Horst Pukallus, in: John Brunner, „Ein irrer Orbit“, Heyne- Verlag, München, 1993
(9) Wolfgang Jeschke, im Vorwort zur Neuausgabe von: John Brunner, „Morgenwelt“, Heyne-Verlag, München, 2000
(10) „Reclams Science-Fiction-Führer“, hrsg. von Hans-Joachim Alpers, Werner Fuchs und Ronald Hahn, Reclam, Stuttgart, 1982
(11) Nachwort von Ernst Petz, in: John Brunner, „Kinder des Donners“, Heyne-Verlag, München, 1990 

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