Hat sich Krebs entwickelt, um uns zu schützen?

Könnte Krebs die Art und Weise sein, wie unsere Zellen im „geschützten Modus“ laufen, wie beschädigte Computersoftware, die, wenn äußere Einflüsse eine Bedrohung darstellen, im Sicherheitsmodus läuft? Das ist die Schlussfolgerung des Kosmologen Paul Davies von der Arizona State University in Tempe (ASU) und seiner Kollegen, die eine kontroverse neue Arbeitshypothese zu den Ursprüngen von Krebs aufgestellt haben, basierend auf dessen evolutionären Wurzeln. Wenn es stimmt, dann könnte ihr Modell eine Reihe besonders effektiver zusätzlicher Therapien anregen, die auch Behandlung mit Sauerstoff und die Infektion mit viralen und bakteriellen Substanzen einschließen.

Hat sich Krebs entwickelt, um uns zu schützen?

Auf den ersten Blick erscheint Davies als ein wenig überzeugender Soldat im „Krieg gegen den Krebs“, da er aus der Physik und nicht den den biomedizinischen Wissenschaften kommt. Aber vor ca. 12 Jahren wurde er eingeladen, an der ASU ein neues Institut einzurichten, eines von 12, die vom „National Cancer Institute“ finanziert werden, um Physiker und Onkologen zusammenzubringen, damit diese neue Blickwinkel auf die Krankheit einnehmen. „Wir wurden beauftragt, die Krankheit von Grund auf neu zu überdenken“, sagt Davies.

Davies bildet ein Team mit Charley Lineweaver, einem Astrobiologen der Australian National University in Canberra und Mark Vincent, einem Onkologen am London Health Science Center in Ontario. Gemeinsam haben sie ein „atavistisches“ Modell entwickelt, das postuliert, dass Krebs die neuerliche Expression (Genexpression ist die Herstellung eines Genprodukts in Zellen auf der Basis eines DNA-Abschnitts, Anm. d. Übers.) eines reprogrammierten Merkmals ist, das sich in einem Schlummerzustand befunden hat. In einem neuen Aufsatz, der im September in „BioEssays“ veröffentlicht wurde, argumentieren sie, dass sich Krebs, der ja ebenso wie bei Menschen in vielen Tieren und Pflanzen auftritt, schon vor hunderten von Millionen Jahren entwickelt haben muss, als wir alle einen gemeinsamen einzelligen Vorfahren hatten. Zu dieser Zeit hatten Zellen einen Vorteil von Unsterblichkeit, oder der Fähigkeit unkontrollierter Teilung, so wie es bei Krebs der Fall ist. Als sich jedoch komplexe vielzellige Organismen entwickelten, „wurde Unsterblichkeit auf die Ei- und Samenzellen ausgelagert“, sagt Davies. Und Körperzellen (also solche, die nicht an der Fortpflanzung beteiligt sind) benötigten diese Funktion nicht länger.

Die Hypothese des Teams ist, dass sich Zellen, wenn sie von ihrer Umwelt in ihrer Integrität bedroht sind, z.B. durch Strahlung oder einen bestimmten Lebensstil, in einen Sicherheitsmodus zurückschalten können. So können Zellen höhere Funktionalität aufgeben und ihre schlummernde Fähigkeit sich unkontrolliert zu teilen wieder anschalten, in einem fehlgeleiteten Versuch zu überleben. „Krebs ist ein Sicherungssystem“, merkt Davies an. „Wenn erst einmal die Subroutine gestartet wurde, wird das Programm rücksichtslos weiter ausgeführt.“

Bei einer „Medical Engineering Conference“ am 11. September dieses Jahres im Imperial College in London umriss Davies eine Reihe von Therapien, die auf seinem atavistischen Modell beruhen. Statt den Krebs in seiner Fähigkeit sich zu teilen anzugreifen, oder, wie Davies es nennt, ihn bei seiner „Krebs-Stärke“ zu packen, entblößt das Modell die „Achilles-Ferse“ von Krebs. Zum Beispiel entwickelte Krebs sich, wenn die Theorie stimmt, zu einer Zeit, als die Umweltbedingungen auf der Erde anders waren als heute; als es mehr Säure und weniger Sauerstoff gab. Auf dieser Grundlage macht das Team die Vorhersage, dass Krebs bei Patienten, die mit hohen Dosen von Sauerstoff und einer Zucker-reduzierten Diät (um den Säuregehalt im Körper zu reduzieren) behandelt werden, geschwächt werden wird und Tumore schrumpfen werden.

Der Effekt von Sauerstoffmenge auf Krebs ist schon seit Jahren unabhängig untersucht worden und scheint Davies Annahme zu bestätigen, sagt Costatino Balestra, ein Physiologe an der Paul Henri Spaak School und der Freien Universität zu Brüssel, beide in Belgien. In einer noch unveröffentlichten Arbeit haben kürzlich Balestra und seine Kollegen gezeigt, dass leicht erhöhte Mengen von Sauerstoff Leukämiezellen absterben lassen können ohne gesunde Körperzellen zu schädigen. „Es kommt uns beinahe zu einfach vor“, sagt Balestra. „Unsere vorläufigen Ergebnisse scheinen zu zeigen, dass ein wenig extra Sauerstoff für ein bis zwei Stunden pro Tag in Kombination mit anderen herkömmlichen Formen der Krebstherapie für die Patienten von Vorteil sein könnte ohne irgendwelche heftigen Nebenwirkungen hervorzurufen.“ Balestra hebt jedoch hervor, dass diese Arbeiten seines Teams nicht dazu dienten, Davies Hypothese zu überprüfen und dass sie nicht als Beweis für die Richtigkeit des atavistischen Modells herangezogen werden können.

Davies und seine Kollegen befürworten auch Immuntherapien – insbesondere die selektive Infektion von Patienten mit bestimmten viralen oder bakteriellen Wirkstoffen. Forscher aus dem Bereich der Medizin untersuchen bereits vielversprechende Effekte solch eines Ansatzes zur künstlichen Stärkung des Immunsystems von Patienten, um deren Heilung zu unterstützen. Immuntherapie konnte beispielsweise schon erfolgreich in der Behandlung von Melanomen angewendet werden; die Effekte in der Behandlung anderer Tumorarten werden getestet. Dem atavistischen Modell zufolge sollten zusätzlich zur durch eine Infektion erfolgende Stärkung des Immunsystems die Krebszellen anfälliger gegen die bakterielle oder virale Infektion sein und eher absterben als gesunde Zellen, da sie höhere Schutzfunktionen einbüßen, wenn sie den "Sicherheitsmodus einschalten", sagt Davies. Er verweist darauf, dass neue Untersuchungen an Ratten, Hunden und einem Menschen, denen Chlostridium Sporen injiziert wurden, seine Interpretation zu bestätigen scheinen.

Einige Wissenschaftler, wie etwa David Gorski, ein chirurgischer Onkologe von der Wayne State University, bleiben skeptisch. „Die Vorhersagen des atavistischen Modells gehen nicht über das hinaus, was Wissenschaftler auf anderem Wege herausgefunden haben“, sagt er.

Davies und seine Kollegen haben als Antwort auf solche Kritik schon begonnen ihre Theorie direkter zu testen. „Der Schlüssel zu unserer Theorie liegt darin, das Alter der für Krebs verantwortlichen Gene zu testen“, erklärt Davies. Das atavistische Modell postuliert, dass mit dem Ausbruch von Krebs Zellen in einen ursprünglicheren Modus zurückkehren und dass entwicklungsgeschichtlich neuere Funktionen abgeschaltet würden. Das Team sagt deshalb vorher, dass, wenn Krebs voranschreitet, jüngere Gene ihre Funktion einbüßen sollten, wohingegen ältere Gene aktiviert würden.

Um zu überprüfen, ob diese Hypothese Bestand hat, gleichen Davies und seine Kollegen gegenwärtig Daten aus dem „Cancer Genome Atlas“, der diejenigen Gene enthält, die mit Krebs in Verbindung stehen, mit solchen Datenbanken ab, die die Gene enthalten, die wir mit anderen Spezies teilen. Letztgenannte Daten ermöglichen es Biologen, das Alter von Genen zu bestimmen. Jegliche Korrelation zwischen dem Alter von Genen und Krebs wird ein Auftrieb für das atavistische Modell sein. „Die zwei Datensätze sind bisher noch nicht kombiniert worden“, sagt Davis. „Aber es ist im Grunde eine Übung zur Datengewinnung, die nicht viel kostet und an der wir jetzt arbeiten.“

Brendan Coventry, ein chirurgischer Onkologe und Immunologe von der University of Adelaide in Australien, sieht einen Wert in der Zusammenarbeit von Physikern und Onkologen, die bestehenden medizinischen Beweise zusammenzutragen, um die Ursprünge von Krebs besser zu verstehen. „Unsummen von Geld und die klügsten Köpfe aus Medizin und Biologie haben versagt, einen Sieg im Krieg gegen den Krebs zu erringen, also ist es möglicherweise Zeit für ein neues Paradigma“, sagt Coventry und ergänzt: „Ein Kosmologe kann auf die Zelle als ein »inneres Universum« schauen, das es auf neuen Wegen zu erforschen gilt.“

 

Übersetzung: Manuela Lindkamp, Adrian Fellhauer
 

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