Hexenverfolgung im 21. Jahrhundert

Die meisten Menschen glauben, dass die Hetzjagd auf „Hexen“ in den frühen 1690er Jahren mit den Hexenprozessen von Salem, Massachusetts, ihren Zenit erreichte, doch es ist ein grauenhaftes Paradox des 21. Jahrhunderts, dass Gewalt gegen Menschen, denen Hexerei vorgeworfen wird, immer noch existiert. Anstatt abzuklingen, wird die Hexenjagd dank der digitalen Vernetzung und wirtschaftlichen Entwicklung zu einem zunehmenden und weltumspannenden Problem.

Hexenverfolgung im 21. Jahrhundert

In den letzten Jahren kam es in Afrika, im pazifischen Raum, in Lateinamerika und sogar innerhalb von Gemeinschaften von Einwanderern in den USA und in Westeuropa zu einer Welle von Gewalt gegen Menschen, die der Hexerei beschuldigt wurden. Beobachter in der UN-Flüchtlingskommission und Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass die Zahl der Morde an angeblichen Hexen jedes Jahr in die Tausende, die der Misshandlungen und Vertreibungen in die Millionen gehen könnte. “Es wird zu einem internationalen Problem – das ist eine Art der Verfolgung und Gewalt, die sich weltweit ausbreitet“, berichtete Jeff Crisp, ein Funktionär der UN- Flüchtlingskommission, im Jahr 2009 einem Ausschuss, als sich zum bislang letzten Mal ein Gremium mit dem vollen Ausmaß des Problems befasste. Ein Bericht der Kommission desselben Jahres und eine Studie der UNICEF aus dem Jahr 2010 stellten besonders in Afrika ein Anwachsen von Gewaltanwendung und Kindesmisshandlungen im Zusammenhang mit Anklagen wegen Hexerei fest.

Neuere Medienberichte deuten auf ein verstörendes Muster an Verstümmelungen und Mord hin. Im letzten Jahr verbrannte in Papua-Neuguinea eine Menschenmenge die junge Mutter Kepari Leniata, 20 Jahre alt, bei lebendigem Leib, weil sie der Hexerei verdächtigt wurde. Diesem weithin bekannten Fall folgte eine Reihe weitere Fälle von tödlicher Gruppengewalt gegen Männern und Frauen aufgrund angeblicher Hexerei.

“Solche Vorkommnisse sind in bestimmten Gebieten nur allzu verbreitet”, sagte Premierminister Peter O’Neill. Im vergangenen Jahr hob Papua-Neuguinea endlich ein Gesetz aus dem Jahr 1971 auf, das Gewalttätern erlaubt hatte, ihre Taten vor Gericht damit zu verteidigen, dass sie dem Kampf gegen Hexerei dienten. Aber es gibt nur kleine Fortschritte. Obwohl die Polizei im Zusammenhang mit dem Mord an Frau Leniata im Jahr 2013 einen Mann und eine Frau anklagte, kam es bisher zu keinem gerichtlichen Prozess, was einen Protest von Amnesty International im Februar nach sich zog.
Einer der abstoßendsten Aspekte dieser Verbrechen ist ihre Grausamkeit. Die Opfer werden oftmals lebendig verbrannt, so wie im Fall von Frau Leniata und einem Fall aus dem Jahr 2012 in Nepal. Beschuldigte Frauen werden manchmal zu Tode geprügelt, so wie in Santa Barbara, Kolumbien, im Jahr 2012, manchmal werden die Opfer gesteinigt oder enthauptet, wie aus Indonesien und aus den subsaharischen Ländern Afrikas berichtet wird.

Leicht ist man versucht, die Armut in den Entwicklungsländern oder die Suche nach einem Sündenbock als Hauptursachen der Angriffe auf angebliche Hexen zu nennen – diese Faktoren spielen zweifellos eine Rolle. Zwar haben Afrika und der südwestpazifische Raum eine lange Geschichte wirtschaftlichen Elends hinter sich - die Gewalt, besonders gegen Kinder, hat sich aber seit dem Jahr 2000 verstärkt. Dieser Anstieg weist auf andere Kräfte als wirtschaftlichen Unmut oder uralten Aberglauben hin.

In manchen Gemeinschaften übernehmen meistens junge Männer die Rolle des Hexenjägers, vermutlich, weil sie darin eine Möglichkeit sehen, durch das Beseitigen unerwünschter Personen und durch das Durchsetzen sozialer Konventionen an Ansehen zu gewinnen. Die Tatsache, dass viele dieser selbsternannten Hexenjäger Männer sind, zeigt einen weiteren unheilvollen Aspekt dieses Phänomens auf: Die Mehrheit der Opfer sind Frauen. Pfarrer Jack Urame des „Melanesian Institute“, eine Menschenrechtsbehörde Papua-Neuguineas, schätzt, dass Gewalt im Zusammenhang mit Hexerei im Verhältnis von 5:1 mehrheitlich gegen Frauen angewendet wird. Dies deutet darauf hin, dass unter dem Deckmantel des Vorwurfs der Hexerei geschlechtsspezifische Gewalt verübt wird.

Ein weiterer Faktor, besonders in Zentralafrika und seinen Diaspora-Gemeinden, ist das Erstarken der sogenannten Erweckungskirchen, in denen selbsternannte Pastoren-Propheten gegen Hexerei und Dämonen-Besessenheit hetzen. Sie geben vor, sich auf die Vertreibung von bösen Geistern spezialisiert zu haben, und verlangen oftmals Geld für ihre Dienste. Viele dieser religiösen Gemeinden sind das Produkt westlicher Missionierungsbestrebungen.

Helen Ukpabio, eine in Nigeria sehr bekannte Predigerin der Pfingstgemeinden, schrieb: „Wenn ein Kind unter zwei Jahren nachts schreit, weint, Fieber hat und sich sein Gesundheitszustand verschlechtert, ist es ein Diener des Satans“. Das läuft darauf hinaus, dass Kinder in solchen Gemeinden besonders häufig als „besessen“ angesehen werden. Das UN Büro des Hochkommissars für Menschenrechte berichtete, dass die meisten der 25000 bis 50000 Kinder, die in Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo, auf der Straße leben, von Familienmitgliedern im Stich gelassen wurden, weil diese sie der Hexerei oder der dämonischen Besessenheit beschuldigten.

Die Ursache dieser Epidemie ist vielschichtig, aber Menschenrechtsbeobachter verweisen besonders auf Überbevölkerung, schnelle Verstädterung und das Elend der Eltern, die zur Arbeitssuche wegziehen müssen, sowie auf den schieren Stress, Kinder inmitten schrecklicher Armut großzuziehen. Der Aberglaube wird von den örtlichen „Heilern“ geschürt, die Eltern für Geisteraustreibungen bezahlen lassen.

Hexenverfolgung ist jedoch keineswegs nur auf sadistische Akte der Selbstjustiz oder Geschäftemacherei beschränkt. Manche Rechtsordnungen billigen sogar das Töten von vermeintlichen Hexen.

Im Jahr 2011 wurden in zwei separaten Fällen ein Mann und eine Frau in Saudi-Arabien gerichtlich wegen Hexerei zum Tode durch Enthauptung verurteilt. Im Jahr 2013 verurteilten saudische Gerichte zwei asiatische Hausmädchen, denen zur Last gelegt wurde, ihre Arbeitgeber verzaubert zu haben, zu 1000 Peitschenhieben und 10 Jahren Gefängnis. 
Der libanesischer Hellseher Ali Hussain Sibat wurde im Jahr 2008 während einer Pilgerreise nach Medina von der saudischen Religionspolizei verhaftet, weil er in seiner Heimat, dem Libanon, die TV Show „The Hidden“ moderierte, in der er Vorhersagen machte, Liebestränke verschrieb und Zauberformeln aussprach. Nach lauten Protesten, unter anderem von Amnesty International, sahen die saudischen Richter von der Vollstreckung der Enthauptung ab und verurteilten ihn stattdessen im Jahr 2010 zu einer Haftstrafe von 15 Jahren.

 

Übersetzung von: Erwin Nüßler, Daniela Bartl
 

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