Rasse

Bio-Anthropologin und Paläobiologin, leitende Professorin für Anthropologie an der Pennsylvania State University

Rasse war schon immer ein vages und schlüpfriges Konzept. In der Mitte des 18. Jahrhunderts beschrieben europäische Naturalisten wie Carl von Linné, der Comte de Buffon und Johannes Blumenbach geographische Gruppierungen von Menschen, die sich in ihrem Erscheinungsbild unterscheiden. Sowohl der Philosoph David Hume, als auch Immanuel Kant waren von der physischen Diversität fasziniert. Ihrer Ansicht nach löschten extreme Hitze, Kälte oder Sonnenlicht menschliches Potential aus. 1748 schrieb Hume, dass „es nie eine zivilisiertes Volk mit einer anderen Hautfarbe als der weißen gegeben hat“.

Kant hat ebenso gefühlt. Er vertiefte sich während seiner ganzen Karriere in Fragen der menschlichen Diversität und schrieb ausführlich über dieses Thema in Essays, mit denen er 1775 begann. Kant war der erste, der die geographischen Gruppierungen der Menschen als Rasse (auf deutsch: Rasse [ein Hinweis auf den sprachlichen Ursprung des Wortes, da race im Englischen noch andere Bedeutungen haben kann; Anm. des Übersetzers]) benannt und definiert hat. Kants Rassen wurden durch physische Unterschiede in Hautfarbe, Haarform, Schädelform und andere anatomische Merkmale und durch ihre Kapazität für Moral, die Fähigkeit sich weiter zu entwickeln und ihre Zivilisation charakterisiert. Kants vier Rassen waren hierarchisch geordnet, und seiner Einschätzung nach war nur die weiße Rasse in der Lage, sich selbst weiter zu entwickeln.

Warum konnte der wissenschaftliche Rassismus von Hume und Kant angesichts der logischen und durchdachten Opposition von von Herder und anderen bestehen bleiben? Zu Lebzeiten wurde Kant als großer Philosoph betrachtet und sein Ansehen wuchs, als Kopien seiner philosophischen Hauptwerke weit verbreitet und gelesen wurden. Einige seiner Unterstützer teilten seine rassistischen Ansichten, einige entschuldigten sich für sie, oder – die häufigste Variante  – viele ignorierten sie einfach. Der andere Grund dafür, dass rassistische Ansichten über Anti-Rassismus im späten 18. und dem 19. Jahrhundert triumphierten, war der Umstand, dass Rassismus ökonomisch gesprochen gut für den transatlantischen Sklavenhandel war, der zu einem zentralen Antrieb des wirtschaftlichen Wachstums Europas geworden war. Der Sklavenhandel wurde durch Ideologien gestützt, welche die Menschlichkeit von Nicht-Europäern, besonders von Afrikanern, herabsetzte oder sie ganz verneinte. Solche Sichtweisen wurden durch neuere Interpretationen der Bibel, die zu jener Zeit beliebt waren, verstärkt, die Afrikaner als zum Dienen bestimmt darstellten. Die Hautfarbe als auffallendste Rasseneigenschaft wurde mit einer nebulösen Mischung aus Ansichten und dem, was man so über die den verschiedenen Rassen innewohnende Natur sagt und hört, gleichgesetzt. Hautfarbe stand für Moral, Charakter und für die Fähigkeit zur Zivilisation, es war zu einem Mem geworden Das 19. und 20. Jahrhundert erlebte ein Aufstreben der „Rassenforschung“. Die biologische Realität von Rassen wurde durch neue Arten des wissenschaftlichen Belegs bestätigt, angehäuft durch neue Arten von Wissenschaftlern, vor allem Anthropologen und Genetiker. Diese Ära wurde Zeuge der Geburt der Eugenik und ihres Ablegers, dem Konzept der rassischen Reinheit. Das Aufkommen des Gedankens des Sozialdarwinismus verstärkte die Vorstellung noch, dass die Überlegenheit der weißen Rasse Teil der natürlichen Ordnung sei. Die Tatsache, dass alle Menschen die Produkte komplexer genetischer Vermischungen sind, die aus Migration und Durchmischung über tausende von Jahren hervorgehen, wurde weder von den Rassenforschern noch den Wertungen der Eugeniker anerkannt, die beiderseits des Atlantiks die Verbesserung der rassischen Qualität bewarben.

In der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts kam es zu einem kontinuierlichen Anwachsen von wissenschaftlicher Beschäftigung mit Rassen. In den 1960er Jahren trugen jedoch zwei Faktoren zum Ableben des Konzepts biologischer Rassen bei. Eines davon war die steigende Zahl von Studien der physischen und genetischen Vielfalt der menschlichen Gruppen auf der ganzen Welt durch eine große Zahl von Wissenschaftlern. Der zweite Faktor war der wachsende Einfluss der Menschenrechtsbewegungen in den USA und anderswo. Binnen Kürze prangerten einflussreiche Wissenschaftler die Forschungen zu Rassen an, weil Rassen selbst nicht wissenschaftliche definiert werden konnten. Dort wo Wissenschaftler nach klaren Grenzen zwischen Gruppen suchten, konnten sie keine finden.
Trotz der wesentlichen Veränderungen im wissenschaftlichen Denken etablierten sich artverwandte Vorstellungen menschlicher Rassen und der auf der Hautfarbe basierenden Hierarchie der Rassen während der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts fest in der allgemeinen Kultur. Die dabei entstandenen rassischen Stereotype waren einflussreich und dauerhaft, besonders in den Vereinigten Staaten und Süd-Afrika, wo die Unterjochung und Ausbeutung dunkelhäutiger Arbeitskräfte Eckpfeiler des wirtschaftlichen Wachstums waren.

Nach ihrem „wissenschaftlichen“ Ableben dauerte die Rasse als Name und Konzept an, begann aber schrittweise für etwas ganz anders zu stehen. Heute identifizieren sich viele Menschen mit dem Konzept, Angehöriger einer bestimmten oder einer anderen rassischen Gruppierung zu sein, ohne zu berücksichtigen, was die Wissenschaft zur Natur der Rassen zu sagen hat. Die geteilte Erfahrung von Rasse erzeugt starke soziale Bindungen. Für viele Menschen, viele Wissenschaftler mit eingeschlossen, hat die Bedeutung von Rassen als biologische Kategorien nachgelassen; sie standen vielmehr für soziale Gruppierungen. Das Konzept der Rassen wurde zu einer verwirrenderen Melange als die  sozialen Kategorien der Klassen oder der Ethnien. Folglich ist Rasse nicht nur eine soziale Konstruktion, sondern das reale Produkt geteilter Erfahrung, und die Menschen haben sich dafür entschieden, sich über die Rasse zu identifizieren.
Kliniker fahren damit fort, beobachtete Muster von Gesundheit und Krankheit nach alten rassischen Konzepten wie schwarz und weiß, Afro-Amerikaner, Asiate u. s. w. einzuteilen. Selbst nachdem aufgezeigt wurde, dass viele Krankheiten (Altersdiabetes, Alkoholismus und Bluthochdruck, um einige wenige zu nennen) offensichtlich rassische Muster zeigen, weil Menschen gleiche soziale Bedingungen teilen, hat sich die Gruppierung nach Rasse erhalten. Der Gebrauch rassischer Eigenkategorisierung in epidemiologischen Studien wird verteidigt und sogar ermutigt. In den meisten Fällen wird Rasse in medizinischen Studien mit Unterschieden in der Gesundheit infolge der Zugehörigkeit zu Klassen, ethnischen Unterschieden in sozialen Praktiken und Haltungen verwechselt, die alle bedeutungslos werden, wenn ausreichend Variablen berücksichtigt werden.

Die neueste Verjüngungskur des Rassengedankens kommt aus der Genomik und meist innerhalb biomedizinischen Kontextes. Die geheiligte Stellung der medizinischen Wissenschaft in der allgemeinen Wahrnehmung gibt dem Rassenkonzept neues Ansehen.

Befürworter der Rassentheorie erkennen genetische Beweise, um die gesicherte biologische Realität rassischer Unterschiede zu unterstützen, während die Skeptiker dieser Theorie keine rassischen Muster sehen. Klar ist, dass die Leute sehen, was sie sehen wollen. Sie konstruieren Studien, um die Ergebnisse zu bekommen, die sie erwarten. 2012 hat Catherine Bliss zwingend argumentiert, dass Rasse heute am ehesten als Glaubenssystem gesehen werden kann, dass Konsistenz in der Wahrnehmung und Handlung zu einem bestimmten sozialen und geschichtlichen Moment herstellt.

Der Rassenbegriff hält die Geschichte im Griff, aber er hat keinen Platz mehr in der Wissenschaft. Die schiere Instabilität und das Potential für Missinterpretation machen Rasse als wissenschaftliches Konzept unbrauchbar. Neue Vokabeln für die menschliche Verschiedenheit und Ungleichheit zu erfinden wird nicht einfach werden, aber es ist notwendig.


Übersetzung von: Joseph Wolsing
Bezugsartikel: http://www.edge.org/response-detail/25534

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