Sohn eines Predigers

Können Sie sich vorstellen, was es heißt, von den fundamentalistischen Eltern zu Hause beschult und dann zu Liberty „Universität“ geschickt zu werden, um Ihre Ausbildung abzurunden?

Sohn eines Predigers

Können Sie sich vorstellen, in einer Welt zu leben, in der das alleinige Argument für oder gegen eine Sichtweise ein Bibelzitat ist? Und das einzige Gegenargument ist ein anderes Bibelzitat? Wie fühlt es sich an, so gehirngewaschen zu werden, dass „Jedes Wort in der Bibel ist wörtlich zu verstehen“ in Ihrem Kopf genauso einen axiomatischen Status wie „die Parallelen überschneiden sich nicht“ hat? So gehirngewaschen zu sein, dass es Ihnen nicht in den Kopf kommt zu fragen, wer eigentlich die Bibel geschrieben hat und welches Fachwissen die Verfasser hatten, um das zu behaupten, was sie niedergeschrieben haben? So gehirngewaschen zu sein, dass Sie nicht mal für einen Augenblick über Millionen andere Menschen auf der Welt nachdenken, die andere heilige Bücher haben und an diese mit denselben (fehlenden) Begründungen genauso stark glauben? Können Sie sich vorstellen eine Kindheit in einer unerschütterlichen Überzeugung zu verbringen, dass Ihr geliebter Großvater auf einem Spieß in der ewigen Hölle geröstet wird (neben den Katholiken), und dass Sie sich auf dem gleichen Weg befinden werden, wenn Sie nicht aufpassen?

So verlief das frühe Leben von Timothy Short und ich beende diese Lektüre, erfüllt von Bewunderung für seinen intellektuellen Mut, sich von diesem vergifteten Unsinn loszulösen und ein Atheist zu werden. Ein glücklicher und erfüllter Atheist, der niemals aufgehört hat, seine fundamentalistischen Eltern zu lieben und sogar eine Zuneigung für Jerry Falwell, den berüchtigten Begründer der Liberty, aufrechterhält. Seine Autobiografie ist eine faszinierende Lektüre, weil der Autor seinen Leser tief in die Gedankenwelt eines fundamentalistischen Wahnsinnigen hineinführt, und das Gefühl vermittelt, in eine seltsame, fremde Welt hineinzutreten, wo Vernunft verpönt, Beweise gefürchtet und Wissenschaft tatkräftig verunglimpft werden. Auch fesselnd ist die Insider-Geschichte der Liberty „Universität“ mit ihrer unheimlich repressiven Prüderie und ihrem institutionalisierten System der Überwachung des Privatlebens der Studenten.

Und dann gibt es noch eine andere Insider-Geschichte: eine Timothy-Short-Saga von der allmählichen Erholung seines „Studiums“ (es war ein wirklicher Kampf), die eine fast epische Qualität besitzt. Ähnlich wie Julia Sweeneys Letting Go of God. Doch der Kampf von Tim Short war härter, weil er viel weitergehen musste: obwohl die frühkindliche Indoktrination des Katholizismus genauso extrem und perfide ist, war Julias katholische Erziehung weniger durchgedreht, als die des US-südstaatlichen Baptismus, die sich des unschuldigen Geistes von Tim Short bemächtigte.

Die Katholiken sind nicht verpflichtet zu glauben, dass die Bibel im wörtlichen Sinne zu verstehen ist: sprechende Schlangen, Propheten verschlingende Wale und vieles andere. Tatsächlich gab es Zeiten in der Geschichte der katholischen Kirche, in denen die Bibel ein verbotenes Buch war.

Ich war sehr erfreut zu lesen, dass Der Gotteswahn bei Tim Shorts Bekehrung zur Realität eine zentrale Rolle spielte. Er nahm sich vor, das Buch als ein Test seines Glaubens zu lesen, obwohl man ihm davor abgeraten hatte. Er war sehr zuversichtlich, jedem vorgebrachten Argument widerstehen zu können und er vertraute seinen „Professoren“, die ihm sagten, dass ich ein schlechter Philosoph sei. Bezeichnenderweise waren es nicht die wissenschaftsbezogenen Teile des Buches und nicht die Widerlegung des Designarguments, die ihm die größten Sorgen bereiteten. Nein, was Tim Short endgültig bekehrte war die definitive Erkenntnis der Widerwärtigkeit des moralischen Charakters von Gott. Insbesondere die Anstiftung zum Völkermord der indigenen Stämme, die in dem den Israeliten versprochenen Lebensraum lebten.

Ich vermute, es ist nicht sehr überraschend, dass für einen biblischen Fundamentalisten das Umstürzen von Gott aus der Bibel selbst und nicht von der Wissenschaft kommen müsste. „Wie könnte nur der liebende Gott meiner Kindheit, solche entsetzlichen Dinge tun, so erbarmungslos, so unbarmherzig?“ Die verrückte Art der religiösen Extravaganz der Lehrer von Tim hat ihm nicht mal die Flucht zur Auslegung gestattet: dass Jesus kam, um uns vor Schrecken des Alten Testaments zu erlösen. Für diese Freaks war Jesus persönlich in alles verwickelt , was Jahwe veranstaltet hat. Einschließlich des Abschlachtens aller Männer, Frauen, Kinder, Ochsen oder Eseln, ausgenommen Jungfrauen, „die lasst für euch leben“.

Tom Short scheint ein sympathischer junger Mann zu sein. Seine Beziehung zu seinem Vater ist sehr anrührend, wie auch die Wärme und die Zuwendung (doch gewiss nicht die Indoktrination) mit denen er sich jetzt seinem kleinen Sohn zuwendet. Er schafft es sogar noch eine gewisse Wertschätzung für Liberty „Universität“ beizubehalten, einschließlich den unsäglichen Jerry Falwell, obwohl es wirklich schwer nachzuvollziehen ist. Der Ort scheint in jeder Hinsicht entsetzlich zu sein, aber es ist meine persönliche Schlussfolgerung nach Shorts ehrlichem Bericht und nicht seine eigene Sichtweise. Die Loyalität des ehemaligen Studenten leuchtet durch das Buch hinweg und verstärkt dadurch unser Vertrauen in die Zuverlässigkeit der „Beweise für die Anklage“. Sein Widerwillen, mit dem er sich schließlich von Gott loslöst, ist genauso stark, wie die kognitive Dissonanz, mit der er sich herauszureden versucht.

Wie es sich so zugetragen hat, war Tom Short ein Student an der Liberty, als ich meine eigene kurze Begegnung mit dieser Einrichtung hatte. Eigentlich, hielt ich eine Lesung an dem benachbarten Randolph Macon Women’s College. Tim und seine Kommilitonen von der Liberty waren von ihrem „Professor“ ermuntert worden, an der Veranstaltung teilzunehmen und mich anzuhören. Man hat sie aufgerufen, die Lesung nicht zu stören, höflich und respektvoll bei der Fragestellung zu sein und unter keinen Umständen sollten sie zugeben, von der Liberty zu sein (einige von ihnen haben es aber dennoch getan). Sie sind in einer großen Anzahl erschienen und haben die ersten beiden Reihen des Randolph Macon Auditorium befüllt, und während der anschließenden Fragerunde nach meiner Lesung waren sie auch in der Mehrzahl. Sie waren in der Tat sehr respektvoll. Die Fragen und Herausforderungen, die sie mir dabei gestellt haben, waren schon fast zu peinlich-einfach zu beantworten. Sie können sich das ganze hier anschauen.

Tim Short selbst hat die Gelegenheit verpasst (Auszüge aus dem Buch):

„Einige Tage sind schon vergangen und ich bin sehr enttäuscht, dass ich den Dawkins-Besuch verpasst habe, nachdem ich von dem Medienrummel gehört habe, den er verursacht hat. Innerhalb einer Woche wurden die Videos mit Liberty-Studenten während der Fragerunde auf YouTube hochgeladen. Es war eine Katastrophe, ein Totalausfall.“

„Nach den ersten Fragen erkundigte sich ein junger Mann aus dem Publikum, ob Dawkins davon wusste, dass im Gang der Liberty University Dinosaurierfossilien ausgestellt seien. Die Dinosaurierfossilien (technisch gesehen, sind es aus Plastik gemachte Nachbildungen und keine echten Fossilien) sind datiert mit dem Alter von weniger als sechstausend Jahre. Dawkins schien zuerst etwas verstört, doch letztlich hat er seine Fassung bewahrt. „Ich würde empfehlen, dass die Studenten dort weggehen und sich an einer echten Universität einschreiben sollten.“ Um das Ganze noch schlimmer zu machen, die durch die ausfällige Aussage des Engländers ausgelöste Diskussion wurde über einige Wochen sehr stark von dem schrillen US-Südstaaten Betonungen dominiert. Dutzende Studenten, mit denen ich mich unterhielt, bezeichneten Dawkins wegen seines Akzents und seines eigenartigen Manierismus als eine „Schwuchtel“. Andere beteten für Dawkins und haben ihm wahrscheinlich freundliche E-Mails geschrieben. Auch ich wollte ihm meine Position deutlich zeigen… doch welche Position? Es stellte sich heraus, dass ich wenigstens zwei davon hatte – die eine vertrat den Standpunkt, dass Dawkins in den meisten wichtigen Themen Recht hatte und die andere wollte zu Jesus über meine Zerrissenheit wehklagen, um Heilung, Weisheit und Geborgenheit zu bekommen. „Ich kann diese Last nicht mehr ertragen, Jesus! Ich bin so einem Intellekt nicht gewachsen. Ich werde meine genügsame und demütige Bestimmung annehmen und wenn eines Tages Dawkins in dem Höllenfeuer brennen wird, da werde ich zurückschlagen und…“ Wie zum Teufel sollte ich bloß noch weiter beten? Warum sollte ich es beschönigen? Was nützt mir das? Es kam mir mittlerweile durch und durch wie Schwachsinn vor.“

„Ich erinnere mich, wie ich mir im Computerlabor der Liberty das Video mit Dawkins‘ Rede immer wieder anschaute mit dem Gefühl, äußerst beleidigt zu sein. Dawkins kann mich mal! Er mag eventuell Recht mit Gott haben, aber er irrt sich doch total… doch wie? Vielleicht hat Dawkins hier nur eine Schlacht in einem hoffnungslosen Krieg gewonnen. Vielleicht bot er mir auf mein Glauben nur eine andere Perspektive? Doch ich werde mein Glauben trotzdem behalten. Wie kann er nur Recht und Unrecht zugleich haben?“

Tim musste eine Weile mit sich selbst ringen und letztendlich, nach einem schweren Kampf, kam er zu einer richtigen Schlussfolgerung. Er kam aus diesem Kampf als ein Atheist hervor. Dann, natürlich, musste er sich um seine trauernden Eltern kümmern. Und das ist eine bewegende Geschichte an sich.

Dieses Buch wurde in 2011 veröffentlicht und ich bedauere, es erst jetzt gelesen zu haben. Dennoch ich kann es nur sehr empfehlen. Nicht zuletzt, weil es einen aufschlussreichen Einblick in die Gedankenabläufe eines Menschen, der durch die gefährliche Indoktrination unterminiert wurde. Es ist auch ein vernichtendes Exposé über die internen Machenschaften einer der führenden amerikanischen Institutionen, die sich einer solchen Indoktrination verschrieben hat.

Das Buch wurde schlecht bis gar nicht redigiert und es ist schade, dass es nicht von einem besseren Verlag herausgegeben wurde. Die kulturellen Anspielungen und Vergleiche können einen nicht US-kundigen Leser ein wenig verwirren, doch das ist nicht gravierend: wen interessiert es schon, ob die Phillies ein Football-Team oder eine Boyband sind? Was wichtig ist, dass es sich hier um eine bewegende Autobiografie eines anständigen und intelligenten jungen Mannes handelt (paradoxerweise wird dieses sentimentale Gefühl durch die schlechte redaktionelle Arbeit und den niedrigen Publikationswert des Buches verstärkt), der sich mutig gegen das erschreckend minderwertige Ausbildungsystem erfolgreich durchsetzt.

Übersetzer: Paul Friesen, Jörg Elbe

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