So schwer es ist, den Hinduismus zu verstehen, so schwer ist es auch, ihn jemandem zu erklären. Schon allein der Versuch eines „Hinduismus leicht gemacht“-Projekts ist ein idiotisches Unterfangen. Die folgenden Fragen sind ein wenig ungewöhnlich formuliert, da sie nicht abschließend sind, sondern zum Stellen weiterer Fragen anregen sollen. Die Antworten stammen nicht von einem gelehrten Fachmann auf diesem Gebiet; sie stammen nur von jemandem, der das hinduistische Ethos aus erster Hand erlebt, erfahren und erlernt hat – Wer möchte, kann mir widersprechen und mit mir diskutieren.
6. Wie reagiert der Hinduismus auf andere Religionen?
Antwort: Nicht so schlecht, wie ich sagen muss. Jedenfalls, solange sich keine andere Religion mit dem Hinduismus anlegt. Hindus wurde weder eingetrichtert, dass Nicht-Hindus in die Hölle kommen, noch sind sie begierig darauf, im Namen des Hinduismus die Welt zu erobern. Die hinduistischen Vorstellungen von dem Leben nach dem Tod, von Himmel und Hölle basieren auf dem Karma – und nicht auf einem spezifischen Erlöser, Gott oder Propheten. Die lehrgemäße Vielfalt des Hinduismus hat eine generelle Toleranz anderen Glaubensinhalten und Religionen gegenüber hervorgebracht. Dir wird nicht der Kopf abgehackt, wenn du zu einer anderen Religion konvertierst; soziale Ausgrenzung könnte jedoch die Folge sein, wenn man etwa zum Islam konvertiert.
Dem Islam ergeht es schlecht im Hinduismus, da er Polytheismus und Verehrung von Götzenbildern als die schlimmsten Sünden betrachtet. Obwohl viele Hindus und Moslems in ganz Indien mehrere Jahrhunderte lang friedlich zusammenlebten, stellten Invasionen muslimischer Armeen in der indischen Geschichte traumatische Geschehnisse dar, die viele Menschenleben kosteten, ganze Städte verwüsteten und speziell gegen Hindus gerichtet waren. Die Invasionen von Mahmut von Ghazni, Muhammad von Ghor, Timur, Babur und Nadir Shah waren besonders traumatisierend, da die Erinnerungen daran durch die Folklore und durch religiöse Debatten am Leben gehalten werden – so etwa die Erinnerung daran, dass auf die heiligsten hinduistischen Schreine Moscheen gebaut wurden. In muslimisch regierten Königreichen wurden hinduistische Staatsangehörige gezwungen, die Dschizya-Steuer zu entrichten, und mussten Pogromen standhalten, die die Sultane nach Belieben initiierten.
Im Jahr 1947 wurde Indien geteilt und der muslimische Staat Pakistan geschaffen; in der Folge wurden Millionen Hindus und Sikhs aus Pakistan vertrieben – welches eigentlich das Land des Flusses Indus war, in dem die ersten Veden geschrieben worden waren. Wiederholte Viktimisierungen und Vertreibungen der hinduistischen Minderheiten im muslimisch dominierten Pakistan und Bangladesch sowie terroristische Anschläge auf Indien von Terrorgruppen, die von Pakistan finanziert werden, nährten die Wut der Hindus auf die Moslems weiter. Das Vermächtnis der Teilung Indiens und des wachsenden Islamismus ist, dass in den Köpfen vieler Hindus unablässig ein Fragezeichen über der Loyalität indischer Muslime prangt.
Der Glaubenslehre entsprechend stehen sich Christentum und Hinduismus feindlich gesinnt gegenüber, da das Christentum Polytheismus und Götzenverehrung ablehnt - und der Hinduismus wiederum die übereifrigen Versuche des Christentums, Hindus zu konvertieren. Die einzigen Christen jedoch, die eine Herrschaft in Indien errichteten, waren die Briten, die in der Tat dabei halfen, ein säkulares Rechtssystem einzuführen. Die Herrschaft des portugiesischen Katholizismus war hart für die Hindus; sie war jedoch auf Goa und andere kleine Gebiete beschränkt. In Indien leben mehr als 28 Millionen Christen, die im Gegensatz zu den Moslems weitgehend liberal, gebildet und aufwärts mobil sind; für sie steht ihre religiöse Identität nicht im Widerspruch zu ihrer Nationalität. Daher gelingt ihr Zusammenleben mit Hindus gut. Viele Hindus bewundern die Persönlichkeit Jesus, und die Legende, Jesus habe sich auch in Indien aufgehalten, findet viele Abnehmer.
Die Doktrinen der Buddhisten, der Sikhs und der Anhänger des Jina unterscheiden sich zwar vom Hinduismus, doch da sie ebenfalls indische Religionen sind, gibt es in der Praxis keine Unterschiede. Viele Hindus verehren den Gründer des Sikhismus, Guru Nanak, und besuchen den Gottesdienst in den Gurdwaras der Sikh. Gurus der Sikh wie etwa Tej Bahadur und Gobind Singh werden verehrt und vom Hinduismus als Helden betrachtet, da sie Hindus während der Herrschaft des muslimischen Mogulreichs vor Pogromen und Verfolgung schützten. Bis ins 19. Jahrhundert wurde der Sikhismus nicht als eigene Religion betrachtet. Viele Hindus halten Siddhartha Gautama, den Buddha, für eine Inkarnation (einen Avatar) Vishnus, und respektieren und verehren ihn. Ahimsa (Gewaltlosigkeit) ist eine Doktrin, die Hinduismus, Jainismus und Buddhismus gemein ist. Zwischen diesen Religionen gibt es nur wenig kulturelle Unterschiede – wenn es überhaupt welche gibt –, Mischehen und sozialer Kontakt sind häufig.
Es gibt keine überlieferten Zusammenstöße mit dem Zoroastrismus (Parsismus) und dem Bahaitum, die im Iran entstanden, und beide Gemeinschaften haben sich im Laufe der Jahrhunderte gut integriert. Indien ist auch eines der wenigen Länder, in deren Vergangenheit es keinen Antisemitismus gegenüber jüdischen Siedlern gibt. Die einzigen Angriffe auf indische Juden wurden von portugiesischen Katholiken verübt – und in letzter Zeit von islamischen Terrorgruppen.
Synkretismus ist auf dem indischen Subkontinent weit verbreitet. Die meisten Hindus lieben Sai Baba, einen mystischen Fakir, der angeblich ursprünglich ein Muslim war und ein Anhänger des Heiligen Kabir; er ist eine wahre Ikone hinduistisch-muslimischer Harmonie. Sein ganzes Leben lang weigerte er sich, sich entweder als Muslim oder als Hindu zu identifizieren, und setzte sich für Liebe und Frieden ein. Millionen von Menschen, Angehörige aller Religionen, pilgern nach Shirdi, um diesen Heiligen zu verehren. Hindus und Sikhs pilgern zum Mausoleum von Haji Ali in Mumbai, wobei sie an dessen muslimischer Identität keinerlei Anstoß nehmen. Dieses seltene Gewebe eines Glaubens ohne Grenzen wird durch die Verbreitung des Islamismus und die Gegenreaktion extremistischer hinduistischer Führer ernsthaft gefährdet.
7. Führen Hindus „heilige Kriege“?
Antwort: Wird uns jemals ein „hinduistischer Terrorismus“ Sorgen bereiten? Ich bin mir zu 99% sicher, dass das nicht der Fall sein wird. Es gibt kein Konzept, keine Lehre und kein Bemühen, den Rest der Welt zum Hinduismus zu konvertieren. Hindus praktizieren kein „Friss, Vogel, oder stirb (und ab ins Höllenfeuer)“. Hindus, die sich irgendwo auf der Welt niedergelassen haben, bleiben zwar in ihren Gemeinschaften oft eng vernetzt, sie bewegen jedoch niemanden zum Konvertieren und lehnen die Ausübung anderer Glaubensrichtungen nicht ab. In der Geschichte des Hinduismus und des indischen Subkontinents gibt es keinen Beleg hinduistischer Bemühungen, andere Religionen auszulöschen. Das Überleben alter Traditionen wie Jainismus, Buddhismus und Sikhismus belegt dies.
In Indien selbst ist der Hinduismus jedoch mit dem Aufkommen einer politischen Ideologie konfrontiert, die Religion und Nationalismus synthetisiert. Die Anhänger des sogenannten Hindutva fordern, dass sich alle Inder „Hindus“ nennen, auch wenn sie anderen Religionen angehören, da für sie die Bezeichnung „Hindu“ für eine nationale Identität aller loyaler Einwohner Indiens steht. Mitunter forderten sie Loyalitätstests für Moslems und wollen, dass Indien Hindu Rashtra (Hindunation) genannt wird. Sie kupfern die Taktik der amerikanischen religiösen Rechten ab und behaupten, Indiens Säkularismus sei allein dem hinduistischen Ethos geschuldet. In den letzten paar Jahrzehnten orchestrierten hinduistische Extremistengruppen Krawalle gegen Moslems und Angriffe auf christliche Missionare. Ihre Beliebtheit stieg durch den Anstieg des Islamismus und des islamistischen Terrors aus Pakistan weiter an.
8. Wie sieht der Hinduismus Homosexualität?
Antwort: Er betrachtet ihn nicht als etwas Schlechtes. Viele heilige Schriften und mythische Erzählungen des Hinduismus rücken zwischengeschlechtliche, androgyne und homosexuelle Charaktere in ein positives Licht. Die Schriften, Mythen und die Tempelkunst anerkennen sexuelle Vielfalt.
Nichtsdestoweniger ist Homophobie in Indien weit verbreitet. Hinduistische Nationalisten versuchen, inspiriert von der Strategie der religiösen Rechten, schwule und lesbische Inder zu verteufeln, obwohl das hinduistische Erbe nachweislich toleranter ist. Der Rechtsstreit gegen ein Gesetz aus der viktorianischen Zeit, Paragraf 337 des indischen Strafgesetzbuchs, der homosexuelle Handlungen kriminalisiert, dauert an - wobei niemandem die Ironie entgeht, dass hier hinduistische Nationalisten eine viktorianische christliche Gesetzesvorschrift verteidigen (abgesehen von den Nationalisten selbst).
9. Was halte ich für das Beste am Hinduismus?
Antwort: Die Dauer der legitimen und langen Tradition des Freidenkertums. Der „Hinduismus“ bzw. die religiösen und philosophischen Systeme Indiens beinhalten die Charvaka-Denkschule, welche meint, dass es keinen Gott gibt, dass die Naturgesetze für sich allein Bestand haben und keine leitende Gottheit benötigen, und dass Materialismus und Hedonismus nicht missbilligt werden sollten, sondern vielmehr legitime Quellen des Glücks sind. Das klingt für mich sehr nach etwas, das von Christopher Hitchens stammen könnte, nur dass dies vor mindestens 3000 Jahren gesagt wurde, bevor wir etwa von der DNA oder unserem Sonnensystem wussten.
Obwohl es auch im Hinduismus einen gewissen Anteil an Fanatismus und Bigotterie gibt, ist er jedoch kein absolutistischer Glaube wie die abrahamitischen Religionen. Sein Ethos wurde durch die enorme Vielfalt an philosophischen und theistischen Denkschulen sowie durch die schiere Zahl an regionaler und kultureller Spielarten geprägt. Vielleicht erklärt dies die historische Fähigkeit der hinduistischen Gesellschaft zu Toleranz und Anpassung, wenn nicht sogar deren wahrhaftige intellektuelle Freiheit.
Die Literatur und Dichtkunst sind außergewöhnlich und brillant. Das Mahabharata ist ein zutiefst faszinierendes, ergreifendes und spannendes Werk. Man muss nicht daran glauben, dass Krishna ein „Gott“ ist – tatsächlich ist Krishna als Philosoph und Staatsmann, als gerissener, geistreicher und durchtriebener Stratege eine bei weitem faszinierendere und überzeugendere Persönlichkeit. Die moralischen Themen im Ramayana befassen sich mit dem uralten Streben der Menschheit nach einer moralischen Lebensführung. Ich bestreite viele seiner Lektionen, doch gerade dadurch wird er zum Quell einer tiefgehenden und interessanten Debatte. Ich könnte endlos erzählen von den komplexen und faszinierenden Geschichten der hinduistischen Mythologie, aber es genügt wohl zu sagen, dass ich sehr stolz auf diesen Anteil des Kulturerbes bin.
10. Was halte ich für das Schlechteste am Hinduismus?
Antwort: Fatalismus. Nicht nur das Kastensystem an sich, so verachtenswert es auch ist, da es keine Gesellschaft auf der Welt geschafft hat, irgendeiner Form von Gliederung, Stammesbildung, Rassismus oder Sklaverei zu widerstehen.
Nein, ich meine den Fatalismus, der aus den Lehren von Karma und Wiedergeburt heraus entstand. Einer Person, die in eine niedrige Kaste oder als „Unberührbarer“ geboren wird, wird eingetrichtert, dass sie sich aufgrund eines Verbrechens in einem früheren Leben in dieser Lage befindet und leiden muss. Daher musst du Sklaverei und Erniedrigung als Buße für ein Verbrechen erdulden, von dem du nie wissen wirst, ob „du“ es begangen hast. Nie wirst du etwas an deiner Positionierung im Leben ändern können – leiste keinen Widerstand, sonst stehen dir göttliche Vergeltung und eine Geburt in einem noch tieferen Stand bevor.
Dieser Fatalismus hat viele Generationen von Indern davon abgehalten, Reformen jeglicher Art zu wünschen und voranzutreiben. Die ersten Bemühungen, die „Unberührbarkeit“ zu beenden, begannen in der Tat erst, als die Briten ein modernes Bildungswesen und Wissenschaft in Indien einführten. Die höheren Kasten betrachteten es lange als ihr gottgegebenes Recht, die Menschen aus niederen Kasten als Teil von deren fortdauernder Bestrafung für diese mythischen Sünden wie Sklaven zu behandeln. Das Schlimmste daran ist jedoch, dass dieser Fatalismus lange schon in die „unberührbaren“ Klassen selbst eingesickert ist – viele Generationen lang waren sie nicht nur uneinig bezüglich ihres Widerstandes und ihres Unwillens gegen diese Grausamkeit, sondern bildeten oftmals untereinander wiederum Unterkasten von „Unberührbaren“.
Diese gänzliche Hilflosigkeit der festgelegten „göttlichen“ Ordnung gegenüber bedeutet, dass viele Generationen von Indern einer Hysterie über Aberglauben, Ritualismus, Numerologie und Astrologie unterlagen – ihre einzigen Mittel, um zu erkennen, was auf sie zukommt und wie sie Schaden abwehren können. Priester müssen bezahlt, verehrt und ernährt werden, damit sie die Zeremonien durchführen, durch die dein geliebter Verstorbener in den Himmel kommt und nicht in der Hölle landet – viele Millionen armer Inder wurden geschröpft und emotional gefoltert, damit sie Priester bezahlen, die sie mit der Vorstellung quälen, die Seelen ihrer Familienmitglieder seien auf dem Weg zur Hölle.
Dass eine trauernde Familie in ihrer schwersten Stunde emotional eingeschüchtert und skrupellos ausgebeutet werden kann, und dass diese Praxis sogar unter vielen liberalen und gebildeten Hindus fortbesteht, ist etwas, das ich selbst miterlebt habe und das ich als das Böse in Reinkultur bezeichnen möchte.
Hoffentlich fallen dir mittlerweile noch mehr Fragen zum Hinduismus ein, die nach Antworten verlangen. Der Hinduismus ist durch und durch indisch, er ist aber auch die älteste Religion, die trotz des Aufkommens des Monotheismus besteht und floriert. Ihn zu verstehen ist erforderlich, wenn man die menschliche Natur wahrhaft verstehen will, und wenn man bedenkt, wie wichtig er im Leben von mehr als 900 Millionen Menschen ist, dann dient sein Verständnis auch dem Aufstieg und dem Fortschritt der Menschheit.
Übersetzung: Daniela Bartl, Elisabeth Mathes
Kommentare
** sehr gut aber es wurde zu viel Text verwendet und zu wenig Bilder **
Mit freundlichen Grüßen dr. Prof. Herr Yeet
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