Wie treffen wir gute Entscheidungen?
„Wir dürfen uns auf nichts anderes verlassen als auf Tatsachen: Diese werden uns von der Natur vorgelegt und können nicht täuschen. Wir sollten in jedem Fall unsere Überlegungen der Prüfung durch das Experiment unterziehen und die Wahrheit nie anders als auf dem natürlichen Weg des Experiments und der Beobachtung suchen.“
(Antoine Lavoisier, 1743-94).„Nichts ist zu wunderbar, um wahr zu sein, wenn es mit den Naturgesetzen übereinstimmt“
(Michael Faraday, 1791-1867).
Die evidenzbasierte Medizin wurde in einem einflussreichen Artikel im British Medical Journal 1996 als „die gewissenhafte, ausdrückliche und umsichtige Verwendung der aktuell besten Evidenz bei Entscheidungen über die Versorgung einzelner Patienten“ definiert. Es scheint überraschend, dass dies überhaupt definiert werden musste. Wie könnte eine vernünftige Medizin nicht evidenzbasiert sein? Die Autoren erwägen und verwerfen die sich gegenseitig widersprechenden Argumente, dass einerseits „alle Ärzte dies ohnehin tun“ und andererseits „es sich um eine gefährliche Neuerung handelt, die dazu dient, die Freiheit der Ärzte zur Ausübung ihres klinischen Urteils zu unterdrücken“. Ich möchte die Argumente verallgemeinern und für das plädieren, was ich als „Auf Beweise gestütztes Leben“ bezeichne.
In jedem Augenblick unseres Lebens stehen wir vor Entscheidungen. Was soll ich als nächstes tun? Woran soll ich glauben? Um uns bei der Entscheidung über das weitere Vorgehen zu helfen, können wir uns auf eine Fülle von Beweisen stützen: die Beweise unserer Sinne, Beweise aus Büchern, aus Gesprächen, aus Zeitungen, aus dem Internet. Wir haben Beweise aus der Vergangenheit (Was geschah, als ich früher in dieser Situation war und dies und jenes tat?). Wir haben Beweise aus einer Art Zukunft, da wir mögliche Zukünfte in der Fantasie simulieren (ich sehe mich selbst so und so handeln und kann mir die Konsequenzen vorstellen). Wir können Ratschläge von Freunden oder Mentoren, Büchern oder traditionellen Weisheiten annehmen - und das kann als stellvertretende Anleihe der vergangenen Erfahrungen und simulierten Zukünfte anderer Menschen betrachtet werden.
Ähnlich verhält es sich mit dem, was wir glauben. Ich nehme an, dass die Welt rund ist, weil ich über Asien nach Australien geflogen und über Amerika zurückgekehrt bin. Ich glaube es, weil ich Fotos aus dem Weltraum gesehen habe. Ich glaube es, weil ich Bücher gelesen habe, weil ich in der Schule von Lehrern unterrichtet wurde, die zu wissen schienen, wovon sie sprachen, und so weiter. Ich glaube es, weil mir Physikbücher von einem Prinzip erzählen, nach dem große Körper unter dem Einfluss der Schwerkraft dazu neigen, kugelförmig zu werden. Vieles von dem, was wir wissen, selbst das, was tatsächlich auf soliden wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht, müssen wir einfach glauben, weil wir nicht die Zeit oder die Fähigkeit haben, es im Detail zu untersuchen.
Selbst erfahrene Wissenschaftler haben weder die Zeit noch das Fachwissen, um andere Wissenschaften als ihre eigene zu bewerten. Die meisten Biologen sind schlecht dafür gerüstet, die moderne Physik zu verstehen. Und umgekehrt, wenn auch, wie ich zugeben muss, in geringerem Maße. Auf jeden Fall hat niemand die Zeit, all die detaillierten Forschungsarbeiten in einer Zeitschrift wie Nature oder Science in vollem Umfang zu berücksichtigen, selbst wenn wir sie verstehen könnten. Wenn wir eine Meldung lesen, dass Gravitationswellen zuverlässig nachgewiesen wurden, die von einer Kollision zwischen zwei weit entfernten Galaxien ausgehen, dann glauben die meisten von uns das einfach. Es hört sich fast so an, als würden wir es einfach glauben. Aber es ist ein Glaube, der fester verankert ist als, sagen wir, der religiöse Glaube. Das ist eine Untertreibung. Wenn Biologen wie ich „Glauben“ an die Erkenntnisse der Physik äußern, wissen wir, dass die Vorhersagen der Physiker durch experimentelle Messungen auf ihre Richtigkeit überprüft wurden. Ganz anders als der „Glaube“ beispielsweise an die Transsubstantiationslehre, die keinerlei Vorhersagen macht, geschweige denn überprüfbare und getestete.
Dennoch sind wissenschaftliche Beweise nicht immer zuverlässig. Auch bei bestem Willen, können Wissenschaftler sich selbst täuschen. Die medizinische Forschung hat den Doppelblindversuch eingeführt, ein bewundernswertes Mittel, um jede Möglichkeit der subjektiven Voreingenommenheit auszuschließen. Vor langer Zeit haben meine damalige Frau Marian (heute Fellow der Royal Society) und ich es zum Spaß in einem trivialen Demonstrationsexperiment verwendet. Wir wollten wissen, wer die besten Rasierklingen für die Rasur herstellt, Gillette oder Wilkinson. Unser Qualitätskriterium war, wie lange eine Klinge halten würde, bevor ich die Rasur als unangenehm empfand und sie entsorgte. Das war natürlich eine subjektive Einschätzung. Es war wichtig, dass ich nicht wissen durfte, welche Klingenmarke ich zum Rasieren benutzte. Marian war also allein dafür verantwortlich, jedes Mal eine neue Klinge in meinen Rasierer einzusetzen, wenn ich die vorherige für abgenutzt erklärte. Hätte sie die Klingen abgewechselt, Gillette, Wilkinson, Gillette, Wilkinson usw., hätte mir das einen Anhaltspunkt geben können. So wählte sie die Klingen nach einer vorher aufgeschriebenen zufälligen Reihenfolge aus, die ich nicht sehen durfte. Nach einer vorher festgelegten Anzahl von Klingenwechseln (ich kann mich nicht mehr erinnern, wie viele es waren, aber sie musste im Voraus festgelegt werden) haben wir uns die Daten angesehen, die aus einer Reihe von Zeitdauern bestanden, die in Tagen gemessen wurden, bevor jede Klinge abgenutzt war. Wir werteten die Daten statistisch aus und kamen zu dem Schluss, dass die Wilkinson-Klingen deutlich überlegen waren.
Dies war technisch gesehen eine Einfachblindversuch. Es bestand die Möglichkeit, dass Marian versehentlich meine Entscheidung beeinflusst hat, wann ich eine Klinge für erschöpft erkläre - der sogenannte Kluger-Hans-Effekt. Ein deutsches Pferd namens Kluger Hans war offenbar in der Lage, einfache Rechenaufgaben zu lösen, indem es zum Beispiel fünfmal mit dem Huf klopfte, wenn es gefragt wurde: „Was ist zwei plus drei?“ Es stellte sich schließlich heraus, dass sein Trainer ihm unbewusst Zeichen gab und seine Körpersprache subtil veränderte, wenn Hans' Hufschläge die richtige Zahl erreichten. Idealerweise hätte unser Experiment nicht einfach blind, sondern doppelt blind sein sollen: Die Person, die die Klingen in den Rasierer einführt, hätte nicht wissen sollen, welche welche ist - etwas schwieriger zu arrangieren, aber nicht unmöglich. Jemand anderes, weder Marian noch ich, hätte eine zufällige Abfolge von Klingen vorbereitet, und Marian hätte sie ausgeben müssen, wenn ich die vorherige Klinge für verbraucht erklärt hätte. Klinische Versuche mit neuen Arzneimitteln werden heutzutage in der Regel nach dem Doppelblindprinzip durchgeführt: Die Patienten, die Ärzte oder Krankenschwestern, die die Dosen verabreichen, und die Experimentatoren, die die Wirksamkeit des Medikaments beurteilen, wissen nicht, welche Patienten das von ihnen kontrollierte Medikament erhalten. Ohne die strengen Regeln des Doppelblindversuchs besteht immer die Gefahr, dass sich subjektive Urteile einschleichen.
Blindversuche stellen nur eine der Waffen im Arsenal der Wissenschaft gegen die Irreführung durch subjektive Urteile dar. Experimente werden wiederholt. Wissenschaftliche Arbeiten werden vor der Veröffentlichung streng begutachtet und anschließend einer kritischen Prüfung unterzogen. Das Experiment selbst ist der einzige ultimative Schutz gegen die berüchtigte Binsenweisheit „Korrelation muss nicht zwangsläufig Kausalität bedeuten“. Eine Korrelation impliziert tatsächlich eine Kausalität, wenn die vermeintliche Ursache dadurch eintritt, dass ein Experimentator sie herbeiführt, anstatt darauf zu warten, dass sie spontan auftritt. Natürlich muss der Experimentator dafür sorgen, dass dies bei einer großen Anzahl unabhängiger Ereignisse geschieht, und zwar nach dem Zufallsprinzip und nicht nach einem regelmäßigen Muster, das eine falsche Korrelation hervorrufen könnte. Schließlich muss es unwahrscheinlich sein, dass die Korrelation zufällig zustande gekommen ist - unwahrscheinlich nach einem vereinbarten Kriterium wie: „Wenn wir das ganze Experiment tausendmal wiederholen würden, würden wir erwarten, dass nur eine dieser Wiederholungen ein so extremes Ergebnis wie dieses zufällig ergibt.“ Dafür sind Überprüfungen zur statistischen Signifikanz da.
Wenn ich mich für ein auf Beweise gestütztes Leben ausspreche, heißt das natürlich nicht, dass wir statistisch analysierte Doppelblindversuche durchführen sollten, bevor wir eine Entscheidung treffen oder etwas glauben. Das Leben ist zu kurz, und es gibt viele andere Gründe, warum das nicht praktikabel wäre. Aber es lohnt sich, sich die geistige Haltung der evidenzbasierten Medizin zu eigen zu machen, indem man sich bewusst über mögliche Quellen der Voreingenommenheit Gedanken macht. Habe ich die verfügbaren Beweise unvoreingenommen geprüft oder habe ich Beweise, die meinen früheren Überzeugungen widersprachen, unterbewertet oder gar ignoriert? Oder Beweise, die den Überzeugungen meines Stammes (Religion, politische Partei, bevorzugter Meinungsführer usw.) widersprochen haben könnten? Lese ich nur den Guardian und ignoriere den Telegraph? Oder andersherum. Schaue ich nur Fox News und ignoriere CNN? Schalte ich ab, wenn ich Nachrichten oder Ansichten höre, die meinen Vorurteilen widersprechen? Beruhen meine Ansichten über den Klimawandel (Impfungen, Covid-Schutzmasken) auf den besten verfügbaren Beweisen, oder sind sie von politischen oder religiösen Vorurteilen oder irgendwelchen Stammeszugehörigkeiten geprägt?
Ein auf Beweise gestütztes Leben könnte der Anlass für ein ganzes Buch sein, nicht nur einen kurzen Aufsatz wie diesen. Lassen Sie mich daher nur einige der heimtückischeren und verführerischeren Alternativen nennen, die uns von der Evidenz wegführen könnten. Ich werde sie in Form von Überschriften auflisten, auf die ich in zukünftigen Beiträgen zurückkommen könnte.
Das ist mein Gefühl. Das mag für Sie nicht zutreffen, aber für mich ist es wahr.
Alternative „Wege des Wissens“ sind genauso gültig wie die Wissenschaft, die nur die Mythologie eines weißen, männlichen Stammes ist.
Ich brauche keine Wissenschaft, ich habe mein heiliges Buch.
Ich brauche keine Wissenschaft, der gesunde Menschenverstand reicht mir aus.
Meine biologischen Tatsachen zeigen eindeutig, dass ich männlich bin, aber ich fühle mich als Frau, also bin ich eine Frau.
Übersetzung: Jörg Elbe
The Poetry of Reality ist der Blog des weltbekannten Evolutionsbiologen und Bestsellerautor Professor Richard Dawkins, der von Intellektuellen und Wissenschaftlern in aller Welt für seine aufrichtige Kritik an der Religion und seinen Einsatz für kritisches Denken gefeiert wird.
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