Das genetische Totenbuch

Richard Dawkins beantwortet die Frage, welcher wissenschaftliche Begriff oder welches wissenschaftliche Konzept mehr Menschen bekannt sein sollte.

Das genetische Totenbuch

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Die natürliche Auslese stattet jedes Lebewesen mit den Genen aus, die seinen Vorfahren – einer wortwörtlich ununterbrochenen Abstammungslinie von ihnen – in ihrer jeweiligen Umwelt das Überleben ermöglichte. Zu dem Grad, wie seine gegenwärtige Umwelt derjenigen seiner Vorfahren ähnelt, ist ein modernes Tier für das Überleben und für die Weitergabe seiner Gene gut gerüstet. Die „Adaptionen“ eines Tieres, seine anatomischen Details, Instinkte und seine interne Biochemie, sind eine Serie von Schlüsseln, die genau in die Schlösser der Umwelt seiner Vorfahren passen.

Hat man einen Schlüssel, kann man das Schloss nachbauen, in das er passt. Geht man von einem bestimmten Tier aus, sollte man in der Lage sein, die Umwelt zu rekonstruieren, in der die Vorfahren jenes Tieres überlebten. Ein Zoologe mit dem entsprechenden Fachwissen kann anhand eines ihm vormals unbekannten Tieres einige der Schlösser nachbauen, die man mit den passenden Schlüsseln öffnen kann. Viele von diesen sind offensichtlich. Füße mit Schwimmhäuten verweisen auf ein Leben am oder im Wasser. Tiere mit einem Tarnmuster und einer Tarnfarbe auf dem Fell tragen wortwörtlich ein Bild der Umwelt auf ihrem Rücken, in der ihre Vorfahren einst Raubtieren entwischt sind.

Die meisten Schlüssel, mit denen ein Tier ausgestattet ist, sind allerdings nicht offensichtlich. Viele sind tief in der zellulären Chemie vergraben. Alle von ihnen sind auf eine noch schwerer identifizierbare Weise auch in ihrem Genom verborgen. Könnten wir nur das Genom auf eine angemessene Weise lesen, so wäre es eine Art Negativbild-Abdruck uralter Welten, eine Beschreibung der uralten Umwelt der Spezies: das genetische Totenbuch.

„Könnten wir nur das Genom auf eine angemessene Weise lesen, so wäre es eine Beschreibung der uralten Umwelt der Spezies: das genetische Totenbuch.“

Natürlich werden die Inhalte des Buches die zeitlich näher an der Gegenwart liegenden Umweltbedingungen der Vorfahren bevorzugt behandeln. Das Buch des Kamel-Genoms beschreibt die vergangenen Jahrtausende, als die Vorfahren des Kamels durch Wüsten wanderten. Es muss darin aber auch Beschreibungen der Meere des devonischen Zeitalters geben, bevor die weit entfernten Vorfahren des Säugetiers einst auf das Land gekrochen sind. Das genetische Buch einer Riesenschildkröte beschreibt den Lebensraum seiner jüngsten Vorfahren auf den Galapagos-Inseln am lebhaftesten; und daraufhin die Zeit davor auf dem südamerikanischen Festland, wo ihr kleinerer Vorfahre gediehen ist. Wir wissen aber auch, dass sich alle modernen Landschildkröten einst aus Meeresschildkröten entwickelt haben und darum wird das genetische Buch der Galapagos-Schildkröte etwas ältere Meeresszenen beschreiben. Diese älteren Meeresschildkröten stammten allerdings selbst von noch viel älteren Landschildkröten aus dem Trias-Zeitalter ab. Und wie alle Landwirbeltiere stammen diese Trias-Schildkörten von Fischen ab. Das genetische Buch der Galapagos-Riesenschildkröte ist ein verwirrendes Palimpsest aus Wasser, das von Land bedeckt ist, auf dem Wasser liegt, das von Land bedeckt ist.

Wie sollen wir das genetische Totenbuch lesen? Ich weiß es nicht und aus diesem Grund habe ich den Begriff geprägt: Um andere zu motivieren, sich eine Methode zu überlegen. Ich habe eine vage Vorstellung eines Plans. Damit ich ihn nachvollziehbarer darstellen kann, bleibe ich hier bei Säugetieren. Fertigen Sie eine Liste mit Säugetieren an, die im Wasser leben, und wählen Sie diese so taxonomisch vielfältig wie möglich aus: Wale, Seeschweine, Seehunde, Wasserspitzmäuse, Otter, Schwimmbeutler. Fertigen Sie nun eine Liste von Säugetieren an, die in Wüsten leben: Kamele, Wüstenfüchse, Wüstenspringmäuse, etc. Eine weitere Liste mit taxonomisch vielfältigen Säugetieren, die auf Bäumen leben: Affen, Eichhörnchen, Koalas, Kurzkopfgleitbeutler. Eine weitere Liste mit Säugetieren, die unter der Erde leben: Maulwürfe, Beutelmullen, Goldmullen, Graumullen. Nun borgen Sie sich statistische Techniken der Zahlensystematiker, aber verwenden Sie diese umgedreht. Wählen Sie Arten aus all diesen Säugetieren aus und messen Sie so viele morphologische, biochemische und genetische Eigenschaften wie möglich. Geben Sie nun all diese Messungen in den Computer ein und bitten Sie ihn (hier werde ich unbestimmt und muss wiederum Mathematiker um Hilfe bitten), all die Eigenschaften zu finden, die all die Meerestiere gemein haben, die all die Wüstentiere gemein haben und so weiter. Einige davon werden offensichtlich sein, wie die Füße mit Schwimmhäuten. Andere werden nicht offensichtlich sein und darum ist es den Aufwand wert. Die interessantesten dieser nicht-offensichtlichen Eigenschaften werden in den Genen liegen. Und sie werden uns in die Lage versetzen, das genetische Totenbuch zu lesen.

„Das genetische Totenbuch enthüllt noch andere Aspekte der Geschichte.“

Das genetische Totenbuch verrät uns nicht nur etwas über die Umweltbedingungen ausgestorbener Lebewesen, sondern es enthüllt noch andere Aspekte der Geschichte. Zum Beispiel die Demographie. Eine Koaleszenz-Analyse meines eigenen Genoms durch meinen Co-Autor (und ehemaligen Studenten) Yan Wong zeigte auf, dass die Population, der ich entsprang, einen großen Flaschenhals zu bewältigen hatte, der wahrscheinlich mit einer Massenauswanderung aus Afrika vor ungefähr 60000 Jahren zusammenhängt. Yans Analyse könnte der einzige Fall sein, als ein Co-Autor eines Buches detaillierte historische Schlüsse aus der Lektüre des genetischen Buches des anderen Co-Autors zog.

Übersetzung: Andreas Müller

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