Der Utilitarismus und seine Unbehagen
Würden Sie Ihr eigenes Bein abschneiden, wenn es der einzige Weg wäre, das Leben einer anderen Person zu retten? Würden Sie jemanden foltern, wenn Sie dachten, es würde zu Informationen führen, die verhindern, dass eine Bombe explodiert und Hunderte von Menschen tötet? Würden Sie ein Volk für eine begrenzte Zeit politisch unterdrücken, wenn dies das allgemeine Wohlbefinden der Bürger erhöhen würde? Wenn Sie diese Fragen bejahen, dann sind Sie vielleicht ein Utilitarist, das Moralsystem, das vom englischen Philosophen Jeremy Bentham (1748-1832) begründet und in dem Prinzip „das größte Glück der größten Zahl“ zusammengefasst wurde.
Der moderne Utilitarismus wird im berühmten Trolley-Gedankenexperiment exemplarisch dargestellt: Sie stehen neben einer Gabelung eines Gleises und einer Weiche, die einen Waggon umleitet, der fünf Arbeiter töten wird, es sei denn, Sie legen die Weiche um und leiten den Wagon in eine Nebenbahn, wo er einen Arbeiter töten wird. Die meisten Leute sagen, dass sie den Schalter umlegen würden – einen töten, um fünf zu retten. Das Problem des Utilitarismus zeigt sich in einem weiteren Gedankenexperiment: Sie sind ein Arzt mit fünf sterbenden Patienten und einer gesunden Person im Wartezimmer. Würden Sie die Organe des einen entnehmen, um die fünf zu retten? Wenn Ihre Antwort ja ist, sind Sie vielleicht ein psychopathischer Mörder.
In einer Abhandlung, die im Dezember 2017 in der Zeitschrift Psychological Review mit dem Titel „Beyond Sacrificial Harm“ veröffentlicht wurde, wollen die Wissenschaftler der University of Oxford, Guy Kahane, Jim A. C. Everett und ihre Kollegen die dunkle Seite des Utilitarismus durch die Trennung seiner beiden Dimensionen rehabilitieren: (1) „instrumentaler Schaden“, in dem es erlaubt ist, die Wenigen zu opfern, um den Vielen zu nützen, und (2) „unparteiischer Nutzen“, in dem man zustimmen würde, dass „es moralisch falsch ist, Geld zu behalten, das man nicht wirklich braucht, wenn man es für Zwecke spenden kann, die zu einer effektiven Hilfe für jene führen , die davon eine großen Nutzen haben.“ Sie können herausfinden, welcher Typ Sie sind, indem Sie die neun Fragen in der Oxford-Utilitarismus-Skala der Autoren beantworten. Ich habe 17 von 63 möglichen Punkten erreicht, was damals als „Du bist überhaupt nicht sehr utilitaristisch“ beschrieben wurde. „Du kan(ns)t nicht davon überzeugt sein, dass es nur darauf ankommt, das Glück zu maximieren.“
Anwendung eines utilitaristischen Kalküls
Der freche Verweis auf Immanuel Kant stellt mit dem „kategorischen Imperativ“ des deutschen Philosophen einen Gegenpol zum Utilitarismus dar, in dem wir Recht und Unrecht bestimmen können, indem wir fragen, ob wir einen Akt verallgemeinern wollen. Zum Beispiel ist es falsch, auch nur in begrenzten Fällen zu lügen, weil wir es nicht für alle Fälle verallgemeinern wollen, was alle persönlichen Beziehungen und sozialen Verträge zerstören würde. Im Arzt-Szenario würden wir nicht in einer Welt leben wollen, in der man jederzeit von der Straße gerissen und im Namen der Vorstellung von einem kollektiven Gut geopfert werden könnte. Historisch gesehen ist die Anwendung eines utilitaristischen Kalküls das, was Hexenjäger dazu veranlasste, Frauen, von denen sie glaubten, dass sie Krankheiten, Plagen, Ernteausfälle und Unfälle verursachten, zu verbrennen – es ist besser, die wenigen einzuäschern, um das Dorf zu schützen. In jüngerer Zeit wurde das utilitaristische Verhältnis von 1:5 allzu gerne verschärft, um eine Million zu töten, damit man fünf Millionen rettet (Juden – „arische“ Deutsche; Tutsi - Hutu), die Rechtfertigung von Völkermördern.
Doch wenn Sie in Syrien leben und eine Gruppe von IS-Verbrechern an Ihre Tür klopft, um zu wissen, ob Sie Homosexuelle verstecken, die sie, durch den falschen Glauben, das Wort Gottes zu erfüllen, ermorden wollen - und Sie verstecken sie - würden nur wenige Moralisten etwas dagegen einwenden, dass Sie lügen, um sie zu retten.
In diesem Fall werden sowohl der Utilitarismus als auch die kantische Ethik von der Naturrechtstheorie übertrumpft, die vorschreibt, dass man mit dem Recht auf Leben und Freiheit von Körper und Geist geboren wird, mit Rechten, die nicht verletzt werden dürfen, auch nicht, um dem größeren Wohl zu dienen oder eine universelle Regel zu erfüllen. Deshalb haben wir insbesondere einen Bill of Rights (in Deutschland: Grundrechte im GG), um uns vor der Tyrannei der Mehrheit zu schützen. Und deshalb ist der moralische Fortschritt allgemein das Ergebnis der Idee, dass einzelne fühlende Wesen natürliche Rechte haben, die die moralischen Ansprüche von Gruppen, Stämmen, Rassen, Nationen und Religionen außer Kraft setzen. Dennoch, wenn wir die Opferseite des Utilitarismus von seinen wohltätigeren Vorschriften abkoppeln können, kann der moralische Fortschritt etwas an Dynamik gewinnen. Noch besser wäre es, wenn wir alle unsere moralischen Überlegungen zur Güte als inneres Gut und nicht als ethisches Kalkül einbeziehen würden. Sei gut um des Guten willen.
Übersetzung: Jörg Elbe
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Zitat: „In diesem Fall werden sowohl der Utilitarismus als auch die kantische Ethik von der Naturrechtstheorie übertrumpft, die vorschreibt, dass man mit dem Recht auf Leben und Freiheit von Körper und Geist geboren wird, mit Rechten, die nicht verletzt werden dürfen, auch nicht, um dem größeren Wohl zu dienen oder eine universelle Regel zu erfüllen.“
Wenn ich lese, dass die Naturrechtstheorie den Utilitarismus übertrumpft, dann fühle ich mich unzureichend aufgeklärt!
An der Naturrechtstheorie gibt es einige Kritikpunkte:
- Aus einer (angeblich) gottgestifteten Seinsordnung (so die katholische Naturrechtslehre), aus einem (angeblichen) Ur- oder Idealzustand der menschlichen Gesellschaft oder aus der „Natur des Menschen“ lasse sich als Naturrecht nur das herauslesen, was man zuvor als theologische oder moralische Prämissen hineingelegt habe. Solches normativ aufgeladene Naturrecht beruht also auf einem Zirkelschluss.
- Die Naturrechtslehre birgt in sich unvereinbare Widersprüche. Sie kann im guten Sinne gebraucht wie im bösen mißbraucht werden, je nachdem es der zugrunde gelegte, schillernde Begriff der ‚Natur‘ erlaubt.
- Ein auf die Vernunft sich stützendes Naturrecht sei nicht in der Lage, Einheitlichkeit zu begründen und eine sichere Grundlage für das Recht zu bieten.
- Dass das Naturrecht vieldeutig ist, ist auch daraus ersichtlich, dass die Sklaverei die nach heutigem Verständnis wohl den gravierendsten Bruch der Menschenrechte darstellt, von der griechisch-römischen Antike bis ins 19. Jahrhundert naturrechtlich begründet wurde.
Quelle: Wikipedia, Naturrecht, Kritik
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