Das Schiff des Theseus

Ein antikes philosophisches Paradoxon

Das Schiff des Theseus

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Das Schiff des Theseus (auch Theseus–Paradoxon) ist ein antikes philosophisches Paradoxon, das die Frage berührt, welche Faktoren Identität konstituieren.

Die älteste überlieferte Formulierung stammt von Plutarch:

„Das Schiff, auf dem Theseus mit den Jünglingen losgesegelt und auch sicher zurückgekehrt ist, eine Galeere mit 30 Rudern, wurde von den Athenern bis zur Zeit des Demetrios Phaleros aufbewahrt. Von Zeit zu Zeit entfernten sie daraus alte Planken und ersetzten sie durch neue intakte. Das Schiff wurde daher für die Philosophen zu einer ständigen Veranschaulichung zur Streitfrage der Weiterentwicklung; denn die einen behaupteten, das Boot sei nach wie vor dasselbe geblieben, die anderen hingegen, es sei nicht mehr dasselbe.“[1]

Das durch dieses Gedankenexperiment aufgeworfene philosophische Problem ist ein verbreitetes Beispiel in der Philosophiedidaktik und wird auch in der zeitgenössischen Ontologie vielfach debattiert, weil sich eine plausible Theorie darüber, wann ein Objekt als ein und dasselbe (identisch) gelten und als solches auch bei Veränderungen in der Zeit fortdauern kann, daran bewähren muss.

1.1. Das Problem der doppelten Identität

Ein weiteres philosophisches Problem ist das der doppelten Identität, das sich an einem einfachen Beispiel erläutern lässt:

„Theseus besitzt ein etwas älteres, aber seetaugliches Schiff. Er beschließt eines Tages, es in die Werft zu bringen und dort erneuern zu lassen. Er bittet den Werfteigner, die 1000 Planken gegen neue auszutauschen. Der Eigner der Werft besitzt mehrere Docks und findet es schade, die alten Planken von Theseus’ Schiff einfach wegzuwerfen, also beschließt er, in Dock A das Schiff des Theseus nach und nach auseinanderzunehmen und ersetzen zu lassen und die Planken in Dock B zu bringen, wo sie in der ursprünglichen Reihenfolge und an ihrer ursprünglichen Position wieder zu einem Schiff zusammengesetzt werden, was gelingt.“[2]

Zeitpunkt t1:

Schiff 1 (Thesus Schiff) fährt in die Werft ein.

Zeitpunkt t2:

Schiff 2, das Thesus nun benutzt, steht in Dock A.

Schiff 3, das aus den Originalteilen von Schiff 1 zusammengebaut wurde, steht in Dock B.

Wo steht zum Zeitpunkt t2 Thesus Schiff? Bezüglich dieser Frage lassen sich vier verschiedene Grundpositionen einnehmen:

1. Beide Schiffe sind Theseus’ Schiffe (Schiff 2 und Schiff 3).

2. Keines der Schiffe ist mehr das Schiff des Theseus.

3. Das Schiff aus Dock B ist Theseus’ Schiff (Schiff 3).

4. Das Schiff aus Dock A ist Theseus’ Schiff (Schiff 2).

1.1. Warum sollte das Schiff 1 nicht mit beiden Schiffen 2 und 3 identisch sein?

kurze Antwort: Weil diese Annahme gegen Leibniz’ Gesetz verstößt. Nehmen wir einmal an: Schiff 1 = Schiff 2 und Schiff 1 = Schiff 3. Gemäß der Transitivität der Identität resultiert daraus: Schiff 2 = Schiff 3. Aber Schiff 2 und Schiff 3 sind definitiv nicht identisch: Schiff 2 steht zum Zeitpunkt t2 in Dock A und Schiff 3 in Dock B. Nach Leibniz’ Gesetz gilt also: Schiff B ≠ Schiff C.

1.2. Warum sollte nicht das Schiff 1 mit keinem der beiden Schiff 2 und 3 identisch sein?

kurze Antwort: Wenn Schiff 1 mit keinem der beiden Schiff 2 und 3 identisch ist, dann muss Schiff 1 zwischen t1 und t2 aufgehört haben zu existieren. Die meisten Menschen würden jedoch behaupten, dass wir mit Schiff 1 nichts angestellt, was ein Existenzende nach sich zieht sollte! Weder (De‐)Montage noch Materialaustausch beenden die Existenz eines Gegenstandes, oder? Wenn der Uhrmacher Ihre alte Uhr demontiert und wieder zusammensetzt, um sie zu reparieren, ist das immer noch Ihre alte Uhr (Demontage). Und wenn Sie die Tür Ihres Autos durch eine neue Tür und so Stück für Stück jedes Teil ihres Autos ersetzen lassen, ist das immer noch ihr altes Auto, oder?

1.3. Warum könnte man meinen, dass gilt: Schiff 1 = Schiff 3?

Weil Schiff 1 und Schiff 3 in einer bestimmten Beziehung zueinanderstehen – sie bestehen aus denselben materiellen Teilen.

Schiff 3 ist also identisch mit Schiff 1, insofern das materiale Identitätsprinzip angelegt wird, also wenn gilt: wenn a aus denselben materiellen Teilen wie b besteht, dann gilt auch: a = b.

Für viele Dinge halten wir Gleichheit der materiellen Teile für hinreichend für Identität; man denke z.B. an Lehmklumpen oder Pfannkuchen.

1.4. Warum könnte man meinen, dass gilt: Schiff 1 = Schiff 2?

Weil Schiff 1 und Schiff 2 in einer bestimmten Beziehung zueinanderstehen – Schiff 2 steht in der kontinuierlichen funktionalen Nachfolge von Schiff 1.

Schiff 2 ist also identisch mit Schiff 1, insofern das funktionale Identitätsprinzip angesetzt wird. Also wenn gilt: Wenn a wesentlich eine bestimmte Funktion hat und b der einzige kontinuierliche funktionale Nachfolger von a ist, dann gilt auch: a = b.

Für viele Dinge halten wir kontinuierliche funktionale Nachfolge für hinreichend für Identität; man denke z.B. an Vereine oder Cola-Automaten.

1.5. Eine Auflösung?

Die entscheidende Frage lautet nun: Was ist entscheidend für die Identität von Schiffen – das Material oder die Funktion?

Eine mögliche Antwort: Schiffe bestehen zwar aus materiellen Teilen, sie sind materiell konstituiert. Aber Schiffe sind funktionale Entitäten. Ob ein Schiff A identisch ist mit einem Schiff B, entscheidet sich an der Funktion.

Daraus folgt: Bei vielen Entitäten – z.B. bei Artefakten und Lebewesen – müssen Identität und Konstitution unterschieden werden. Es ist eine Frage, durch welche materiellen Teile eine Orgel oder ein Mensch konstituiert ist. Und es ist eine andere Frage, was für die Fortexistenz der Orgel oder des Menschen wesentlich ist. Und da ist die Funktion entscheidend. Wenn die Einzelteile einer Kirchenorgel über 200 Jahre ausgetauscht werden und sich (fast) alle Körperzellen eines Menschen in 70 Lebensjahren erneuert haben, so sind die Orgel und der Mensch zum Zeitpunkt t1 dennoch identisch mit der Orgel und dem Menschen zum Zeitpunkt t2. Weil sie jeweils dieselbe Funktion des „eine bestimmte Entität-seins“ erfüllen.

Ein Beispiel für eine materielle Entität ist etwa das Mona-Lisa Gemälde. Selbst wenn man eine perfekte Kopie anfertigen könnte, die dem Original bis auf die Anzahl und die Anordnung der Atome gleicht, so wäre es doch nicht „die Mona Lisa“.

Einzelnachweise

1. Plutarch, Vita Thesei 23, Übersetzung von Wilhelm K. Essler, in: Was ist und zu welchem Ende betreibt man Metaphysik?, Dialectica 49 (1995), 281-315

2. Jay F. Rosenberg: Das Schiff des Theseus. Eine Fallstudie, in: ders.: Philosophieren. Ein Handbuch für Anfänger, Vittorio Klostermann Verlag, 1993, Kap. 4, S. 64 ff.

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Kommentare

  1. userpic
    Springeraufb6

    Eine weitere Frage ist ob denn Theseus noch der Originale ist, da sich seine Zellen ja ebenfalls erneuert haben^^.

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