Das Versagen des Deutschen Ethikrates

gbs kritisiert Überrepräsentanz kirchlicher Interessen

Das Versagen des Deutschen Ethikrates

Foto: Die Säkulare Buskampagne 2019 in Weimar, wo 100 Jahre zuvor die Trennung von Staat und Kirche beschlossen wurde

Der Deutsche Ethikrat sollte rational, evidenzbasiert und weltanschaulich neutral argumentieren, was aber durch die Überrepräsentanz kirchlicher Interessenvertreter allzu oft verhindert wird“, kritisiert der Philosoph und Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung Michael Schmidt-Salomon. Die am 30. April erfolgte Neubesetzung des Gremiums habe dieses Problem keineswegs behoben, sondern eher noch verschärft.

„Dass sich die Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Ethikrates gegen Selbstbestimmungsrechte am Lebensende aussprachen und für ein Gesetz votierten, das per einstimmigen Beschluss der Karlsruher Richter für verfassungswidrig erklärt wurde, ist ein Skandal, der noch nicht hinreichend thematisiert wurde“, meint Schmidt-Salomon, der bei der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts als „Sachverständiger Dritter“ für die später erfolgte Aufhebung des § 217 StGB plädiert hatte. „Die Unterstützung eines verfassungswidrigen Gesetzes ist nur eines von vielen Indizien dafür, dass der Deutsche Ethikrat in seiner Funktion immer wieder versagt. Interessanterweise kommt es dazu vor allem dann, wenn religiöse Interessen im Spiel sind, wie auch die Debatten zur Knabenbeschneidung oder Präimplantationsdiagnostik gezeigt haben. In einem gewissen Ausmaß kann man solche Defizite tolerieren, aber: Wenn sich – wie im Fall der Sterbehilfe-Diskussion – herausstellt, dass die Mitglieder des wichtigsten Ethikrates des Landes mehrheitlich nicht in der Lage sind, auf dem ethischen Niveau des deutschen Grundgesetzes zu argumentieren, ist dies keine Lappalie, die man auf die leichte Schulter nehmen könnte.“

Nach der deutlichen Rüge aus Karlsruhe hätte man eigentlich eine Umorientierung in der inhaltlichen Ausrichtung sowie der personellen Zusammensetzung des Ethikrates erwarten dürfen, doch die am 30. April erfolgte Neubesetzung des Gremiums weise in eine andere Richtung, führt Schmidt-Salomon aus: „Durch die Neubesetzung ist der Rat nicht pluraler, liberaler oder kompetenter geworden. Immerhin gab es 2017 neun Ethikratsmitglieder, die sich in einem Minderheitsvotum für eine Stärkung der Selbstbestimmungsrechte am Lebensende ausgesprochen hatten. Von diesen liberalen Dissidenten sind nun zwei Drittel, also sechs Personen, nicht mehr im aktuellen Ethikrat vertreten. Bei den neu hinzugekommenen Mitgliedern des Rates sind Personen mit religiös-konservativen Werthaltungen überproportional stark vertreten – Menschen, von denen man leider annehmen muss, dass sie 2017 ebenfalls für ein verfassungswidriges Gesetz votiert hätten.“

Die Besetzung des Deutschen Ethikrates ist nicht repräsentativ

Nehme man die aktuellen Mitglieder des Ethikrats unter die Lupe, falle eine „gravierende weltanschauliche Schieflage“ auf, so Schmidt-Salomon: „Unter den 24 Mitgliedern des Deutschen Ethikrats hat knapp die Hälfte einen eindeutig religiösen Hintergrund. Neun Mitglieder, überwiegend Theologinnen und Theologen, bekleiden Funktionen innerhalb der christlichen Kirchen oder deren Wohlfahrtsverbände, zwei weitere vertreten den Islam oder das Judentum, nur ein einziges Mitglied des aktuellen Ethikrats, nämlich der Philosoph Julian Nida-Rümelin, hat sich in der Vergangenheit wahrnehmbar für die Interessen konfessionsfreier Menschen eingesetzt.“ Hinzu komme, so Schmidt-Salomon, dass es weitere Ethikratsmitglieder gebe, „die zwar keine offiziellen Kirchenfunktionen wahrnehmen, aber doch entschieden für kirchliche Positionen eintreten“. Ein Beispiel hierfür sei der Jurist Steffen Augsberg, der die Anliegen radikaler „Lebensschützer“ mit entsprechenden Analysen untermaure (siehe etwa diesen Beitrag in der „Zeitschrift für Lebensrecht") und der „rhetorisch äußerst geschickt für ein Verbot professioneller Freitodbegleitungen gestritten“ habe – sowohl als Mitglied des Deutschen Ethikrates als auch als Prozessbevollmächtigter der Bundesregierung in dem Verfahren zu § 217 StGB vor dem Bundesverfassungsgericht.

Schmidt-Salomons Fazit: „Insgesamt muss man feststellen, dass der Deutsche Ethikrat in seiner aktuellen Zusammensetzung nicht repräsentativ für die Wertehaltungen der deutschen Bevölkerung ist (siehe hierzu auch die zahlreichen referierten Studien auf der Website der "Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland"). Er spiegelt weder die Überzeugungen der konfessionsfreien Menschen wieder, die immerhin 38 Prozent der deutschen Bevölkerung stellen, noch die Überzeugungen der nominellen Kirchenmitglieder, die in ethischen Fragen von den amtskirchlichen Vorgaben mehrheitlich abweichen.“ Hinzu kommt für den Stiftungssprecher noch ein zweites Problem: „Bedauerlicherweise repräsentiert der Deutsche Ethikrat summa summarum auch nicht das Niveau der akademischen Debatte auf dem Gebiet der Praktischen Ethik. Zwar gibt es Ethikratsmitglieder, die sehr wohl auf der Höhe des universitären Diskurses argumentieren, aber sie bilden in dem Gremium eher eine Minderheit. Hier rächt sich, dass für die Berufung in den Ethikrat die Übereinstimmung mit parteipolitischen Präferenzen größere Bedeutung hat als die fachliche Qualifikation der jeweiligen Kandidatinnen und Kandidaten.“

Was tun?

Die Giordano-Bruno-Stiftung hat bereits 2011 eine Neubesetzung des Deutschen Ethikrats gefordert, nachdem dieser eine logisch inkonsistente und weltanschaulich parteiische Empfehlung zur Präimplantationsdiagnostik (PID) abgegeben hatte. Im Zuge der parlamentarischen Neuberufung des Gremiums am 30. April sind nun ähnliche Rufe laut geworden. Die Stiftung begrüßt diese Forderungen nach Angaben ihres Sprechers ausdrücklich, ist aber skeptisch, dass sie von Erfolg gekrönt sein werden. Aus der Erfahrung, dass Appelle zu Umbesetzungen des Ethikrates ungehört im politischen Raum verhallen, sei die Giordano-Bruno-Stiftung in den letzten Jahren vermehrt dazu übergegangen, Institutionen zu gründen, welche unter anderem auch die Arbeit des Deutschen Ethikrates kritisch begleiten.

Zu nennen seien in diesem Zusammenhang vor allem das Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) sowie das Hans-Albert-Institut (HAI): „Das ifw verfasst rechtspolitische Gutachten zu aktuellen Gesetzesinitiativen und begleitet Verfahren, die zu einer Aufhebung verfassungswidriger, insbesondere weltanschaulich parteiischer Regelungen führen können. Derzeit etwa unterstützt es unter anderem die auf Basis des umstrittenen § 219a StGB verurteilte Ärztin Kristina Hänel in ihrem Verfahren, von dem wir hoffen, dass es letztlich ähnlich erfolgreich enden wird wie die Verfassungsbeschwerden zu § 217 StGB.“ Das Hans-Albert-Institut wiederum könne man, so Schmidt-Salomon, als einen „Kritisch-Rationalen Ethikrat“ verstehen, gewissermaßen als eine „inoffizielle, nicht-staatliche Alternativorganisation“ zum Deutschen Ethikrat: „Das HAI soll sich ähnlichen Themen zuwenden wie der Deutsche Ethikrat, allerdings unter einer deutlich anderen Perspektive und unabhängig von jeder parteipolitischen Beeinflussung. Die zentrale Aufgabe des Instituts wird darin bestehen, rationale, evidenzbasierte und weltanschaulich neutrale Lösungen für Probleme zu entwickeln, die aufgrund ihrer religiösen bzw. weltanschaulichen Aufladung ethisch und politisch besonders schwer zu bewältigen sind.“

Ein notwendiges Korrektiv

Wie die künftige Arbeit des Hans-Albert-Institut aussehen könnte, zeige beispielhaft die vor wenigen Wochen veröffentlichte Stellungnahme "Patientenautonomie in der Krise", mit der das Institut auf die ad-hoc-Empfehlung des Deutschen Ethikrates zu Triage-Situationen regierte: „In der Stellungnahme des Deutschen Ethikrates gab es viele vernünftige Argumente, dennoch ging unseres Erachtens ein wichtiger Aspekt des Themas unter, nämlich dass es in einem humanen Gesundheitssystem nicht um die Verlängerung des Lebens um jeden Preis gehen sollte, sondern um das Wohl des Patienten und die Beachtung des Patientenwillens.“

Natürlich sei das Anfang 2020 gegründete Hans-Albert-Institut in der Öffentlichkeit noch weitgehend unbekannt, räumt der gbs-Sprecher ein: „Die Corona-Krise hat leider verhindert, dass wir mit dem Hans-Albert-Institut so an den Start gehen konnten, wie wir es ursprünglich geplant hatten. Aber ich bin überzeugt, dass sich das Institut mit der Zeit einen ähnlich guten Ruf erwerben wird wie das Institut für Weltanschauungsrecht. Schon jetzt hat das HAI viele renommierte Expertinnen und Experten in seinen Reihen versammelt. Daher bin ich guten Mutes, dass das Institut in absehbarer Zeit als ein notwendiges Korrektiv wahrgenommen wird, das die Dinge aus einer weltanschaulich neutralen Perspektive richtigstellt, falls der Deutsche Ethikrat künftig zu ähnlich fragwürdigen Empfehlungen kommen sollte wie in der Vergangenheit.“

Zusatz-Info: Problematische personelle Entscheidungen trifft die deutsche Politik nicht nur im Fall des Deutschen Ethikrates: Am vergangenen Freitag, dem 15. Mai, wurde mit Stephan Harbarth ein CDU-Politiker zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts gewählt, der 2015 für ein verfassungswidriges Gesetz (nämlich § 217 StGB) gestimmt hatte. Auf ihrer Facebookseite gab die Giordano-Bruno-Stiftung am Freitag ihrer Hoffnung Ausdruck, „dass Harbarth in seiner neuen Funktion als ‚fünfter Mann des Staates‘ die weltanschaulich neutralen Prinzipien des Grundgesetzes höher gewichten wird als seine katholischen Glaubensüberzeugungen“, was ihm als Bundestagsabgeordneter weder bei der Sterbehilfe-Debatte noch bei der „Ehe für alle“ gelungen sei. Die Stiftung erinnerte in diesem Zusammenhang an einen bereits im März 2020 veröffentlichten Kommentar von Jacqueline Neumann (Koordinatorin des Instituts für Weltanschauungsrecht).

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