Eine Botschaft des türkischen Dichters Orhan Veli an die künftigen Generationen
Vorbemerkung
Wenn man einen einigermaßen gebildeten Türken danach fragt, wer wohl der größte türkische Dichter der Moderne sei, dürfte gewiss der Name Nâzım Hikmets genannt werden. Ohne dies bestreiten zu wollen, war es jedoch in meinem Fall viel mehr Orhan Veli, der ab 1934 aufgrund der Namensreform Atatürks den Nachnamen Kanık trug, der mich mit seinen Gedichten in meiner von Sturm und Drang geprägten Jugendzeit begeistern sollte. Meine Liebe für Orhan Velis Gedichte ging so weit, dass ich mir als Teenager in den Kopf setzte, sämtliche Originalausgaben von Yaprak, (Blatt) aufzutreiben, jene Zeitschrift für Literatur und Kultur, die er und seine Freunde ab 1949 bis zum tragischen Tod Orhan Velis im November 1950 herausgegeben hatten. Diese Zeitschrift war in den genannten Jahren in der Form eines einzelnen und beidseitig gedruckten Zeitungsblattes herausgegeben worden.
Nach intensiver Suche, die zunächst nicht wirklich hoffnungserweckend war, wurde ich in Sahaflar Çarşısı, dem großen Bücherbazar in Istanbul für antiquarische Bücher, fündig. Mit Ausnahme von Son Yaprak (Letztes Blatt), der berühmten letzten Ausgabe von Yaprak, war die Sammlung komplett. Für meine damaligen finanziellen Verhältnisse bezahlte ich recht viel an den Buchhändler; beinahe mein gesamtes Ferientaschengeld war damit aufgebraucht, aber ich war glücklich und bin es heute noch. Jahre später sollte ich Son Yaprak geschenkt bekommen, womit ich heute stolzer Eigentümer der kompletten Sammlung bin.
Orhan Velis Gedichte sind in der Türkei auch heute noch sehr beliebt. Weitestgehend unbekannt sind jedoch andere Texte von ihm, die mit Poesie nichts zu tun haben, weil diese meines Wissens nie Eingang in Bücher fanden. Gedichtsbände von Orhan Veli gibt es viele, aber keine Publikationen (und schon gar nicht in deutscher Sprache), die den nachfolgenden Text beinhalten, die in der Ausgabe von Yaprak vom 15. Juni 1950 erschienen ist. Es ist eine Botschaft Orhan Velis an die künftigen Generationen. Das schreibt er ausdrücklich in seinem Text:
„Damit wollen auch wir unsere Gedanken für die künftigen Generationen in der Form eines Dokuments hinterlassen. Deshalb wollen auch wir einige wenige Sätze dazu sagen“.
Orhan Velis Text steht im Zusammenhang mit der ersten Amtshandlung der Regierung von Adnan Menderes, des Führers der konservativen Demokratischen Partei, die 1950 an die Macht gekommen und damit die Einparteienherrschaft der Republikanischen Volkspartei (CHP) beendet hatte: Der Gebetsruf sollte nicht mehr auf Türkisch, sondern wieder auf Arabisch erklingen, nachdem auf Geheiß Atatürks ein entsprechendes Gesetz verabschiedet worden war. Ähnlich wie bei einem Reformator bestand bei ihm der Wunsch, dass die Menschen den Text ihres „heiligen Buches“ in einer Sprache lesen und hören konnten, die sie wirklich auch verstanden. Diese Reform Atatürks aus dem Jahr 1932 hatte Menderes mit der folgenden Erklärung aufgehoben:
„Wir haben unsere bis jetzt unterdrückte Religion von der Unterdrückung befreit. Ohne das Geschrei der besessenen Reformisten zu beachten, haben wir den Gebetsruf wieder auf das Arabische umgestellt, den Religionsunterricht an den Schulen eingeführt und im Radio die Rezitation des Koran zugelassen. Der türkische Staat ist muslimisch und wird muslimisch bleiben. Alles, was der Islam fordert, wird von der Regierung eingehalten werden.“
In diesem historischen Kontext ist diese Botschaft Orhan Velis zu verstehen, die nach wie vor aktuell ist.
Der Gebetsruf
Eine der ersten Angelegenheiten, die sich die erste Regierung der Demokratischen Partei in die Hand nahm, war die Gebetsruf-Angelegenheit. Der Grund ist offensichtlich: Wir hielten es nicht noch eine weitere Woche aus, den Gebetsruf auf Türkisch zu hören. Wenn der Wechsel zu einem arabischen Gebetsruf nicht sofort erfolgt wäre, wären wir alle zusammen gestorben.
Weder die Teuerung der Lebenserhaltungskosten spielte eine Rolle noch die Gesetze, die uns einengen und fesseln. Weder musste man an die Fortentwicklung der Landbevölkerung und deren Zuführung in die Moderne denken noch daran, dass man die Zahl der Schulen erhöhen könnte, noch dass man die Heimat ausbessern sollte. Die erste Arbeit, die man mit Nachdruck verfolgen sollte, war diese Gebetsruf-Angelegenheit, weil sie unsere Heimat geradezu in die Katastrophe führte. Wir hatten die Demokratische Partei ja nur deshalb in die Regierung gebracht, damit sie sofort diese Arbeit erledigen konnte.
Spaß beiseite. Dieses Ereignis hat in unserer Presse unterschiedliche Echos, unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Was wir sagen werden, wird dem bereits Gesagten nicht viel hinzufügen. Damit wollen auch wir unsere Gedanken für die künftigen Generationen in der Form eines Dokuments hinterlassen. Deshalb wollen auch wir einige wenige Sätze dazu sagen:
Sofern aufgrund eines Wunsches von Atatürk – im Zeitpunkt, als er noch gesund war – kein Gesetz erlassen worden wäre, dass der Gebetsruf auf Türkisch vorgetragen werde und wenn der Gebetsruf heute nach wie vor auf Arabisch verlesen würde, hätten wir heute vermutlich keine Gebetsruf-Angelegenheit gehabt. Wir würden vermutlich die Gedanken, die wir heute haben, nicht haben. Wenn man aber auf einen Entscheid, den wir als unverdächtig einstuften, zurückkommen will, weil dieser in die Zukunft zeigte, wird daraus eine andere Angelegenheit. Dann ist diese Angelegenheit nicht mehr bloß eine Gebetsruf-Angelegenheit. Es wird zu einem Anfang von vielen weiteren rückständigen Dingen sowie zu einem Vorzeichen der stillschweigenden Billigung von vielen weiteren rückständigen Dingen. Es wäre vielleicht nötig gewesen es abzuwarten, ob diese Gedanken von uns sich als richtig oder falsch erweisen würden. Aber auch dazu gibt es keinen Bedarf mehr. Unmittelbar nachdem die Religionsstudenten die Erklärung des Ministerpräsidenten gehört hatten und sich mit ihren Turbanen und Talaren auf die Straßen begaben, haben diese es sehr schnell bestätigt, dass unsere Gedanken richtig sind. Lasst uns auch die Turbane und die Talare ebenfalls zu den unwichtigen Dingen zählen. Aber, dass es nicht dabeibleiben wird, darauf kann man sich hundertprozentig verlassen. Auch denken wir darüber nach, was noch alles geschehen könnte und diese Dinge kommen uns in den Sinn:
Seht, gleich beginnt der Ramadan. Wir könnten von denjenigen, die das Essen während der Fastenzeit als eine Eigenschaft von Ungläubigen (kufr) halten, sehr wohl auch gesteinigt werden. Die Zahl solcher Leute könnte zunehmen. Was diese Leute als eine Eigenschaft von Ungläubigen einstufen, wird nicht bloß beim Essen während der Fastenzeit als Gottesdienst verstanden werden. So wie die Dinge, die wir für als Nutzen für unser Vaterland sehen wollen, als kommunistisch angesehen wird, werden diese eines Tages sogar als eine Eigenschaft von Ungläubigen betrachtet werden. Sie machen dann alle gemeinsam einen Aufstand. Die „Nationale Begeisterung“ [ein Slogan der Türkischen Republik im Zusammenhang mit deren Modernisierung]“ wird dann ersetzt von einer „Religiösen Begeisterung“. Die Regierung wäre unfähig, diese letztere Begeisterung zu beruhigen. Die „Religiöse Begeisterung“ würde damit anfangen, alles umzusetzen, was sie will. Wo diese Dinge dann enden würden? Wir wollen es nicht sehen, aber wohl ginge es in eine sehr schlechte Richtung.
Die Gebetsruf-Angelegenheit ist für sich alleine betrachtet nichts. Was zählt, ist das, was am Schluss geschieht. Der Punkt, worüber wir erstaunt und traurig sind, ist auch der, dass der Ministerpräsident nicht in der Lage war, diese Gefahr zu sehen und darüber nachzudenken.“
- Orhan Veli -
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