Der Mut zum aufrechten Gang

Raif Badawi und Ensaf Haidar wurden in Frankfurt mit dem Deschner-Preis der Giordano-Bruno-Stiftung ausgezeichnet

Der in Saudi-Arabien zu 10 Jahren Haft und 1000 Stockhieben verurteilte Blogger Raif Badawi und seine Frau, die Menschenrechtsaktivistin Ensaf Haidar, wurden am vergangenen Samstag im Rahmen eines bewegenden Festakts in der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt mit dem Deschner-Preis der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) ausgezeichnet. Badawi und Haidar erhielten den mit 10.000 Euro dotierten Preis für ihren "gemeinsamen, mutigen und aufopferungsvollen Einsatz für Säkularismus, Liberalismus und Menschenrechte".

In seinem Eröffnungsstatement sagte gbs-Vorstandssprecher Michael Schmidt-Salomon, der Festakt sei eine "Protestveranstaltung gegen das barbarische Unrecht", das Badawi in Saudi-Arabien widerfahren sei, aber auch eine "Feier des freien Geistes, der sich selbst unter grausamsten, diktatorischsten Verhältnissen nicht gänzlich unterdrücken lässt". Raif Badawi und Ensaf Haidar haben, so Schmidt-Salomon, den "Mut zum aufrechten Gang" in eindrucksvoller Weise bewiesen und seien so zu "Vorbildern für Männer und Frauen weltweit geworden, die sich mit totalitärer Politik, religiöser Bevormundung und patriarchalen Rollenmodellen nicht länger abfinden wollen".

Scharf ins Gericht ging der gbs-Sprecher mit der deutschen Bundesregierung, die im Januar 2016 jegliche Sanktionen gegen Saudi-Arabien ablehnte. Schmidt-Salomon wörtlich: "Auf dem Gebiet der Menschenrechte zeigt die Bundesregierung keinerlei Profil, sondern verfolgt eine rückgratlose Appeasementpolitik gegenüber Despoten, mit der sich die Werte der Freiheit und Gleichberechtigung aller Menschen nicht verteidigen lassen!" (Wir dokumentieren den vollständigen Text der Eröffnungsrede am Ende dieses Artikels.)

Die Autorin und Nahostexpertin Andrea C. Hoffmann, die in Zusammenarbeit mit Ensaf Haidar deren Autobiografie "Freiheit für Raif Badawi, die Liebe meines Lebens" verfasste, stellte in ihrem Beitrag heraus, dass ohne Ensaf Haidar heute niemand etwas vom Schicksal Raif Badawis wüsste. Dass Raif noch am Leben sei, sei vor allem Ensaf zu verdanken, die so gar nicht dem Stereotyp der schüchternen und zurückgezogenen Saudi-Araberin entspreche. Daher begrüßte es Hoffmann sehr, dass der Deschner-Preis sowohl an Raif Badawi als auch an Ensaf Haidar verliehen wird: "Wir alle haben mittlerweile erkannt, was für eine starke Frau hinter diesem beeindruckenden Mann steht".

Dies betonte auch Hamed-Abdel-Samad, der die Laudatio auf die Preisträger hielt. Sichtlich bewegt schilderte Abdel-Samad, der seit Monaten unter Personenschutz steht, wie groß die Bedeutung von Raif Badawi und Ensaf Haidar für die säkulare Bewegung in den arabischen Ländern ist. Durch Ensaf Haidars Engagement sei das Schicksal ihres Mannes der Weltöffentlichkeit bekannt geworden – im Unterschied zu den Schicksalen der vielen anderen politischen Gefangenen. Badawi und Haidar seien zu Symbolfiguren des Widerstands gegen den politischen Islam geworden, nicht zuletzt durch ihre ethische und politische Standfestigkeit. So sei Raif Badawi dem Vorschlag eines "bedeutenden europäischen Politikers" nicht gefolgt, der ihm nahegelegt hatte, sich für sein Eintreten für Freiheit und Menschen zu "entschuldigen", um so die Chance zu erhöhen, früher entlassen zu werden.

Hierzu erklärte Hamed Abdel Samad, seine Sorge sei nicht die "Islamisierung Europas", sondern der "rückgratlose Opportunismus der europäischen Politik", die nicht entschieden genug für die Werte der offenen Gesellschaft eintrete. Hier sollte Europa von Raif Badawi und Ensaf Haidar lernen, von ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit. Wie Schmidt-Salomon meinte auch Abdel-Samad, der als Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung vorgeschlagen hatte, Raif Badawi und Ensaf Haidar mit dem Deschner-Preis auszuzeichnen, dass Deutschland den Druck auf Saudi-Arabien unbedingt erhöhen müsse, sollte das Land weiterhin schwere Menschenrechtsverletzungen begehen.

Ensaf Haidar, die bei der Preisübergabe von den rund 300 Teilnehmern des Festakts mit Standing Ovations gefeiert wurde, stellte in ihrer Dankesrede heraus, wie wichtig internationale Auszeichnungen wie der Deschner-Preis für Raif seien, da sie zeigen, dass Raif und die vielen anderen politischen Gefangenen nicht alleine stehen und ihr Einsatz für Menschenrechte international wertgeschätzt würde. Sie sei überwältigt von dem Festakt in der Nationalbibliothek und dankte ihren unzähligen Unterstützern weltweit, vor allem in Deutschland, wo das Engagement für Raif und die anderen politischen Gefangenen besonders groß sei.

Ein hervorragendes Beispiel hierfür ist die Frankfurter Amnesty International-Gruppe, die bei dem Festakt in der Deutschen Nationalbibliothek mit einem eigenen Stand vertreten war und schon seit Januar 2015 jeden Donnerstag vor dem saudischen Konsulat in Frankfurt gegen die Inhaftierung Raif Badawis protestiert. Im Anschluss an den Festakt, der unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen stattfinden musste,  gab gbs-Sprecher Michael Schmidt-Salomon bekannt, dass sich die Giordano-Bruno-Stiftung selbstverständlich weiterhin für die Freilassung Raifs und der anderen politischen Gefangenen in den islamischen Ländern einsetzen werde. Hierzu sei auch eine engere Zusammenarbeit der gbs mit der von Ensaf Haidar gegründeten Raif Badawi Foundation geplant.

Dokumentation der Eröffnungsrede von Michael Schmidt-Salomon

Der Mut zum aufrechten Gang

Warum die Giordano-Bruno-Stiftung Raif Badawi und Ensaf Haidar mit dem Deschner-Preis auszeichnet

Meine sehr geehrte Damen und Herren,

es ist mir eine große Ehre und Freude, Sie zu diesem Festakt anlässlich der Verleihung des Deschner-Preises der Giordano-Bruno-Stiftung an

Raif Badawi und Ensaf Haidar begrüßen zu dürfen. Wie Sie sicherlich schon beim Einlass bemerkt haben, mussten wir für diese Veranstaltung besondere Sicherheitsmaßnahmen ergreifen. Und vielleicht sind einige von ihnen auch mit einem leicht mulmigen Gefühl nach Frankfurt angereist.

Ich denke, jeder, der sich auf dem Gebiet der Religionskritik, insbesondere der Islamkritik, betätigt, kennt dieses Gefühl. Ich persönlich habe es vor 9 Jahren besonders stark empfunden, als wir den Zentralrat der Ex-Muslime mit seiner Kampagne "Wir haben abgeschworen!" im Haus der Bundespressekonferenz präsentierten. Es war das erste Mal, dass sich ehemalige Muslime so offensiv zur Apostasie, zum Abfall vom Glauben, bekannten – wie Sie wissen: ein todeswürdiges Vergehen aus radikal-islamischer Sicht.

Entsprechend scharf waren die Sicherheitsvorkehrungen bei dieser Pressekonferenz. Und ich erinnere mich noch immer mit einem leichten Schaudern an die angespannte Atmosphäre, die im Saal herrschte, als ich die beiden damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Ex-Muslime vorstellte, zwei sehr mutige Frauen, Mina Ahadi und Arzu Toker, die, was uns besonders freut, heute auch unter unseren Gästen sind.

Ich bin mir sicher: Hätte es bei dieser Pressekonferenz am 28. Februar 2007 draußen gewittert, hätten sich viele der Anwesenden aus Angst vor einem Terrorakt beim ersten Donnerschlag auf den Boden geworfen. Selten zuvor und selten danach wurde mir derart bewusst, wie zerbrechlich dieses zarte Pflänzchen "Freiheit" ist, das wir gewöhnlich als Selbstverständlichkeit erachten.

Wenn die Einschüchterungsversuche militanter Islamisten selbst hier, in einem so säkularen Land wie Deutschland, derartige Wirkungen hervorrufen, wie viel bedrückender, wie viel dramatischer muss die Lage erst für freiheitsliebende Menschen sein, die in den Zentren dieses Terrors leben? Wie viel Selbstüberwindung muss es kosten, dort Widerstand zu leisten? Wie viel Mut muss man aufbringen, um die Beachtung der Menschenrechte in einem Land einzufordern, in dem die Missachtung der Menschenrechte zum Dogma erhoben wurde?

Raif Badawi hat diesen Mut aufgebracht – und er hat teuer dafür bezahlen müssen. Seine Forderung nach Gleichbehandlung aller Menschen, unabhängig von Religion und Weltanschauung, Herkunft und Geschlecht, wurde bekanntlich als "Beleidigung des Islam" eingestuft und mit 10 Jahren Haft sowie 1000 Stockhieben bestraft. Dieser Festakt ist in erster Linie eine Protestveranstaltung gegen das barbarische Unrecht, das in diesem Urteil zum Ausdruck kommt, aber er ist durchaus mehr als das. Wir verstehen diesen Festakt auch als eine Feier des freien Geistes, der sich selbst unter grausamsten, diktatorischsten Verhältnissen nicht gänzlich unterdrücken lässt.

Eben dies haben Raif Badawi und Ensaf Haidar gezeigt. Mit diesem Festakt wollen wir sie dafür feiern, dass sie die Fähigkeit zum aufrechten Gang so eindrucksvoll beweisen haben – und deshalb fühlen wir uns sehr geehrt, dass Ensaf den Weg aus Kanada auf sich genommen hat, um den Deschner-Preis heute Abend in der Deutschen Nationalbibliothek entgegenzunehmen. Herzlich willkommen, Ensaf Haidar!

Die Giordano-Bruno-Stiftung verleiht den mit 10.000 Euro dotieren Deschner-Preis für Religions- und Ideologiekritik an Raif Badawi und Ensaf Haidar für ihren gemeinsamen, mutigen und aufopferungsvollen Einsatz für Säkularismus, Liberalismus und Menschenrechte, der weit über Saudi-Arabien hinaus Bedeutung hat. Raif und Ensaf sind zu Vorbildern geworden für Männer und Frauen weltweit, die sich mit totalitärer Politik, religiöser Bevormundung und patriarchalen Rollenmodellen nicht länger abfinden wollen. Dadurch haben sie nicht nur in die muslimische Welt hineingewirkt, sondern auch die Wahnideen westlicher Rechtspopulisten ad absurdum geführt, die in "den" Muslimen, "den" Flüchtlingen, nur Anhänger des Dschihad erkennen können.

Als die Bilder von Raifs öffentlicher Auspeitschung im Internet auftauchten, ging ein Aufschrei der Empörung durch die Welt. Die massive Reaktion der globalen Zivilgesellschaft setzte Saudi-Arabien so sehr unter Druck, dass die Prügelstrafe ausgesetzt wurde. Auf dem Höhepunkt der Proteste, Ende Januar 2015, war der Druck sogar so stark, dass sich der saudische Botschafter in Berlin genötigt sah, eine frühzeitige Freilassung Badawis in Aussicht zu stellen.

Offenkundig rechnete Saudi-Arabien zu diesem Zeitpunkt noch mit ernsthaften außenpolitischen Konsequenzen. Jedoch: Zu wirklichen Konsequenzen oder auch nur zur Androhung solcher Konsequenzen ist es danach nicht gekommen – ein fataler Fehler der internationalen, insbesondere auch der deutschen Politik. Statt klare Kante zu zeigen, verfielen die führenden Politiker zurück in den alten Kurs der Kuscheldiplomatie und fädelten Milliarden-Geschäfte mit einem Land ein, das den sunnitisch-wahhabitischen Terror seit Jahren maßgeblich unterstützt. Die verheerenden Menschenrechtsverletzungen, die Saudi-Arabien Tag für Tag begeht, wurden – wenn überhaupt – nur in Nebensätzen erwähnt, was die Gegenseite souverän überhören konnte.

Dabei hätte es durchaus anders laufen können. Bereits im Januar 2015 reichten die Bundestagsfraktionen der Grünen und der Linken Anträge ein, die darauf abzielten, den Druck auf Saudi-Arabien zu erhöhen. Die vorgeschlagenen Sanktionen waren wohlbegründet und hätten in der Bevölkerung zweifellos Rückhalt gefunden. Doch mit den Stimmen der CDU/CSU und der SPD wurden die Anträge zunächst in allen relevanten Bundestags-Ausschüssen und schließlich, Anfang dieses Jahres, auch im Parlament abgelehnt.

In den Medien hat man von diesem skandalösen Vorgang kaum etwas erfahren. Dabei bewies die im Januar 2016 vom Bundestag beschlossene Ablehnung jeglicher Sanktionen gegen Saudi-Arabien noch sehr viel mehr als die vieldiskutierte "Merkel-Erdogan-Böhmermann-Affäre", woran es der deutschen Politik mangelt, nämlich an Rückgrat. Auf dem Gebiet der Menschenrechte zeigt die Bundesregierung keinerlei Profil, sondern verfolgt eine rückgratlose Appeasementpolitik gegenüber Despoten, mit der sich die Werte der Freiheit und Gleichberechtigung aller Menschen nicht verteidigen lassen und gegen die wir mit aller Entschiedenheit protestieren müssen!

Meine Damen und Herren, das Verhalten des saudischen Botschafters im Januar 2015 hat gezeigt, dass Saudi-Arabien sehr wohl auf Druck von außen reagiert. Deshalb wäre es Aufgabe der Politik, diesen Druck durch Androhung von Sanktionen zu verstärken, die das Regime tatsächlich schmerzen bzw. die den fortschrittlicheren Kräften innerhalb des Regimes ein zusätzliches Argument verschaffen, um sich gegen die Hüter des Status quo durchzusetzen. Constantin Schreiber, der Raif Badawis Texte in deutscher Sprache herausgegeben hat, wies Anfang 2016 darauf hin, was Deutschland tun könnte, ja: tun müsste, falls Saudi-Arabien auf dem Gebiet der Menschenrechte im Allgemeinen und im Fall Badawi im Besonderen nicht einlenkt:

Sofortiger Stopp aller Rüstungsexporte Einreisebeschränkungen für Saudis, insbesondere für die reisefreudige saudische Königsfamilie mit ihren über 10.000 Mitgliedern Konsequenter Verzicht auf saudisches Öl Aufkündigung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Saudi-Arabien, das auf deutsche Technologie in besonderem Maße angewiesen ist.

Zudem müsste endlich umgesetzt werden, was die Fraktion der Linken bereits im Januar 2015 forderte: So sollte sich die Bundesregierung nicht nur für die sofortige Freilassung von Raif Badawi einsetzen, sondern ihm Asyl anbieten und den deutschen Botschafter in Saudi-Arabien unverzüglich damit beauftragen, Raif regelmäßig im Gefängnis zu besuchen. Letzteres wäre nur ein kleiner Schritt für Deutschland, hätte aber für Raif große Bedeutung.

Würde die deutsche Politik tatsächlich eine solche Agenda verfolgen, könnte sie in der Welt sehr viel glaubwürdiger die Werte von Humanismus und Aufklärung vertreten, die die Grundlage des modernen Rechtsstaats bilden. Und sie könnte auf diese Weise auch sehr viel glaubwürdiger dafür werben, dass "Säkularismus" tatsächlich "die Lösung" ist, wie es Raif in seinem Brief aus dem Gefängnis formulierte. Denn so viel ist sicher: Ohne säkulare Gesellschaftsnormen, ohne Trennung von Staat und Religion, wird es in keinem Land der Erde Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit geben.

Es ist ein bemerkenswertes Phänomen, dass der Begriff "Säkularismus" vorwiegend bei Intellektuellen aus dem muslimischen Kulturraum auftaucht, während wir hier im Westen in der Regel die Passiv-Form "Säkularisierung" verwenden. Die Ablösung religiöser Deutungs- und Herrschaftsmuster durch weltliche Übereinkünfte im Rahmen einer freien Zivilgesellschaft – das scheint aus europäischer Perspektive ein Prozess zu sein, der irgendwie von selbst abläuft, ohne dass man sich dafür groß engagieren müsste. Dies jedoch ist ein Trugschluss, wie man nicht zuletzt daran ablesen kann, dass erschreckend viele Migrantenfamilien auch nach mehreren Generationen nicht wirklich in dieser Gesellschaft angekommen sind, was den Nährboden dafür bereitet, dass so viele junge Männer und Frauen den dumpfen Botschaften salafistischer Hassprediger auf den Leim gehen.

Wenn man etwas genauer hinschaut, erkennt man schnell, dass Säkularisierung alles andere als ein passiver Prozess ist, der einfach so geschieht. Denn Säkularisierung verlangt entsprechende Akteure, verlangt Säkularisten, die die absoluten Moralsetzungen religiöser Dogmatiker zurückweisen und die Idee des Gesellschaftsvertrags propagieren, in der die Normen des Zusammenlebens eben nicht religiös vorgegeben sind, sondern unter den Gesellschaftsmitgliedern frei ausgehandelt werden.

Raif Badawi und Ensaf Haidar hatten den Mut, unter den denkbar schwierigsten Bedingungen für die offene Gesellschaft einzutreten. Dadurch haben sie der starken, jedoch noch im Untergrund wirkenden Bewegung der Säkularisten in den muslimischen Ländern Stimme und Gesicht verliehen. Allein dies hat die Welt verändert. Würdigere Träger des Deschner-Preises kann ich mir nicht vorstellen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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Kommentare

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    Norbert Schönecker

    Raif Badawi und Ensaf Haidar haben ganz sicher einen Preis verdient. Ich bewundere ihren Mut und ihren Einsatz und ich begrüße es, dass die Giordano-Bruno-Stiftung diesen Einsatz sowie die Unterdrückung Andersdenkender in Saudi Arabien öffentlich bekannter gemacht hat.

    Auch Schmidt-Salomons Rede finde ich weitgehend sehr gut. Bei einem Satz bin ich aber doch stutzig geworden, und zwar bei diesem:
    "Ohne säkulare Gesellschaftsnormen, ohne Trennung von Staat und Religion, wird es in keinem Land der Erde Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit geben."
    Was genau heißt hier "Trennung von Staat und Religion"?
    Ein paar Sätze später scheint Schmidt.-Salomon die Antwort zu geben: Er meint einen "Gesellschaftsvertrag, in dem die Normen des Zusammenlebens eben nicht religiös vorgegeben sind, sondern unter den Gesellschaftsmitgliedern frei ausgehandelt werden."
    Nun sind aber die Religionen und ihre Mitglieder auch Teile der Gesellschaft. Insofern darf man Staat und Religion nicht trennen. Man darf gemäß der zweiten Forderung Schmidt-Salomons höchstens fordern, dass die Religionen (bzw. deren Mitglieder und Vertreter) die Normen des Zusammenlebens nicht diktieren, sondern nur als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft mitausverhandeln.
    Es gibt übrigens Staaten wie z.B. Norwegen, wo der Staat und die Staatskirche (in diesem Fall die lutherische) sehr eng verbunden sind. Staat und Religion sind dort also ganz und gar nicht getrennt. Und doch scheint mir (ohne dass ich es aus Augenschein wüsste), dass gerade in Norwegen "Friede, Freiheit und soziale Gerechtigkeit" ziemlich gut gedeihen.

    Diese Kritik ändert nichts daran, dass ich Raif Badawi und Ensaf Haidar für absolut würdige Preisträger halte, selbst wenn ich persönlich wahrscheinlich ziemlich andere weltanschauliche und politische Positionen vertrete. Ich wünsche ihnen viel Erfolg bei ihrem Einsatz für die Menschenrechte in Saudi Arabien.

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      Bernd Kammermeier

      Lieber Herr Schönecker,

      ich kenne ja Ihre Grundeinstellung zur Genüge und auch Ihre monetäre Abhängigkeit vom System "Kirche", so dass Sie sicher eine eher engere Verbandelung zwischen Staats- und Kirchenmacht wünschen.

      Sie schreiben: "Nun sind aber die Religionen und ihre Mitglieder auch Teile der Gesellschaft. Insofern darf man Staat und Religion nicht trennen."

      Warum? Fußballvereine, Esoteriksekten oder Feinschmeckerzirkel sind auch Teile der Gesellschaft, doch sind diese - aus gutem Grund - vom Staat getrennt. Staat hat nämlich zwei Bedeutungen: zum einen bilden alle Bürger den Staat. Jedoch wählen diese aus ihrer Mitte Volksvertreter, die für das Volk stellvertretend die Staatsführung bilden. Die Trennung von Staat und Kirche meint hier nicht etwa die Trennung der Kirche von den Bürgern, genauso wenig, wie Fußballvereine, Esoteriksekten oder Feinschmeckerzirkel von den Bürgern getrennt werden sollen.

      Es geht um die Trennung der Kirche von der Staatsführung, die noch lange nicht vollzogen ist, wie Carsten Frerks Buch "Kirchenrepublik Deutschland" eindrucksvoll belegt. Und genau diese Verknüpfung bereitet regelmäßig größte Probleme für freiheitlich denkende Bürger in sogenannten "Gottesstaaten", bei denen zwischen Staats- und Religionsführung nicht mehr zu unterscheiden ist.

      "Man darf gemäß der zweiten Forderung Schmidt-Salomons höchstens fordern, dass die Religionen (bzw. deren Mitglieder und Vertreter) die Normen des Zusammenlebens nicht diktieren, sondern nur als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft mitausverhandeln."

      Aber Religionen diktieren noch immer die Normen des Zusammenlkebens, zumindest wird permanent der Versuch dazu unternommen, wie in Deutschland die Einflussnahme beim Beschneidungsgesetz 2012 (zulasten unmündiger Knaben), der Sterbehilfe 2015 (zulasten todkranker Menschen) und anderen wichtigen Gesetzen zeigt. Kirchentage, die Luther-Dekade und andere Veranstaltungen werden ohne Scham der Politiker/Kirchenfürsten durch den Steuerzahler finanziert. Zwangsweise! Ich verweise hier auf Carsten Frerks akribische Recherchearbeit und meine eigenen Erfahrungen mit dem Kirchenstaatssender ZDF.

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        Norbert Schönecker

        S.g. Herr Kammermeier!

        Zunächst: Ich bin selbstbewusst und materiell genügsam genug, um mir keine Sorgen um mein monetäres Auskommen zu machen, selbst wenn ich nicht mehr kirchlich angestellt sein sollte.

        Dass die Forderung, Kirchen als gleichberechtigte (also nicht privilegierte) Mitglieder der Gesellschaft zu behandeln, durchaus vertretbar ist, habe ich klar und deutlich geschrieben. (zur Klarstellung: ich halte diese Forderung für eine vertretbare, nicht aber für die einzig vertretbare; es gibt schon auch Argumente für die Privilegierung von Religionsgemeinschaften, aber eben auch sehr vernünftige Argumente dagegen).

        Manche Fußballvereine - um Ihre Aufzählung aufzugreifen - werden in Österreich übrigens aus öffentlicher Hand unterstützt und genießen Steuerprivilegien (Grundsteuer). Und wenn private Vereine wie Rotes Kreuz, Amnesty International oder Gewerkschaften bei den politischen Parteien lobbyieren, dann ist das ein ganz normaler Vorgang. Warum sollte das bei Kirchen anders sein?

        Ich habe nichts dagegen, wenn die Giordano Bruno Stiftung Lobbying betreibt (v.a. bei so sinnvollen Anliegen wie dem aus dem obigen Artikel). Ich habe auch nichts dagegen wenn der Humanistische Verband Deutschlands um Steuerprivilegien ansucht (z.B. für seine Hospize, die gewiss unterstützungswürdig sind). Und ich habe auch nichts dagegen, wenn hinterfragt wird, ob z.B. manche Feiertagsgesetze zu unserer pluralistischen Gesellschaft passen. Und wenn Carsten Frerk über die Verflechtung von Kirchen und Parteien ein Buch schreibt, dann ist das sein gutes Recht.

        Aber die Entscheidungen der vom Volk gewählten Vertreter sind zur Kenntnis zu nehmen. Zu vermuten, dass unsere Volksvertreter unter der Fuchtel der Kirche stehen, oder dass die Wähler mehrheitlich von der Kirche manipuliert sind, ist entweder hochmütig oder verschwörungstheoretisch. Die Mehrheit der Wähler und Politiker geht nicht regelmäßig in den Gottesdienst. Ganz offensichtlich bestimmt also die Kirche in Deutschland (und Österreich) nicht das Leben des Durchschnittsmenschen. Wenn die Kirche Einfluss hat, dann führe ich das darauf zurück, dass sie in vielen Bereichen hohe Kompetenz und Engagement besitzt.

        Zusammenfassung:
        Wenn Normen, wie Schmidt-Salomon fordert, "frei ausgehandelt" werden sollen, dann darf auch die Kirche frei mithandeln. Auch beim Thema Sterbehilfe.

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