Der schmale Grat zwischen Pseudo-Spiritualität und Pseudo-Wissenschaft

Ich werde oft gefragt, was einmal die organisierten Religionen ersetzen wird. Ich glaube, die Antwort ist Nichts und Alles.

Der schmale Grat zwischen Pseudo-Spiritualität und Pseudo-Wissenschaft

Nichts muss ihre lächerlichen und spaltenden Doktrinen ersetzen – wie etwa die Idee, dass Jesus auf die Erde zurückkehren wird und die Ungläubigen in einen See aus Feuer schleudern wird, oder dass der Tod in Verteidigung des Islam das höchste Gut sei. Das sind furchterregende und entwürdigende Vorstellungen. Aber was ist mit Liebe, Mitgefühl, moralischer Güte und der Überwindung des eigenen Selbst? Viele Menschen glauben immer noch, dass Religion die  wahre Quelle dieser Tugenden sei. Um das zu ändern, müssen wir über die ganze Bandbreite menschlicher Erfahrung auf eine Weise nachdenken, die so frei von Dogma, kulturellen Vorurteilen und Wunschdenken ist, wie es die beste Wissenschaft bereits ist. Dies ist das Thema meines nächsten Buchs „Waking Up: A Guide to Spirituality without Religion“.

Autoren, die versuchen, eine Brücke zwischen Spiritualität und Wissenschaft zu schlagen, neigen dazu, einen von zwei Fehlern zu machen: Wissenschaftler beginnen normalerweise mit einer ungeschmückten Sichtweise auf spirituelles Erleben, in der Annahme, dass es eine grandiose Art ist, normale Bewusstseinszustände zu beschreiben – elterliche Liebe, künstlerische Inspiration, Ehrfurcht vor der Schönheit des Nachthimmels. In diesem Sinne empfindet man Einsteins Erstaunen über die Klarheit der Naturgesetze so, als wäre es eine Art mystische Einsicht.

New Age Denker steigen für gewöhnlich auf der anderen Seite des Weges in den Graben: Sie idealisieren veränderte Bewusstseinszustände und ersinnen fadenscheinige Verbindungen zwischen subjektiven Erfahrungen und den spukhafteren Theorien aus den Grenzbereichen der Physik. Hier wird uns weiß gemacht, dass Buddha und andere kontemplative Charaktere die moderne Kosmologie oder Quantenmechanik vorhergesagt haben und dass man durch die Überwindung des eigenen Selbst seine Einheit mit dem Einen Verstand, der den ganzen Kosmos erschaffen hat, verwirklichen kann.

Am Ende bleibt uns zwischen Pseudo-Spiritualität und Pseudo-Wissenschaft zu wählen.

Wenige Wissenschaftler und Philosophen haben große Fähigkeiten der Introspektion entwickelt – tatsächlich zweifeln viele daran, dass solche Fähigkeiten überhaupt existieren. Umgekehrt wissen viele der größten kontemplativen Figuren nichts über die Wissenschaft. Ich kenne brillante Wissenschaftler und Philosophen, die nicht in der Lage zu sein scheinen, die grundlegendsten Unterscheidungen bezüglich ihrer Moment-zu-Moment-Erfahrungen zu treffen; und ich habe kontemplative Personen gekannt, die Jahrzehnte lang in stiller Meditation verbracht haben, und vermutlich dachten, die Erde sei flach. Und doch gibt es eine Verbindung zwischen wissenschaftlichen Fakten und spiritueller Weisheit, und sie ist unmittelbarer, als die meisten Menschen vermuten.

 

Übersetzung von: Joseph Wolsing, Robert Keller

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