Absichtlich habe ich gewählt, als Letzter zu sprechen, und absichtlich habe ich mich für meine Rede überhaupt nicht vorbereitet. Denn nachdem ich nun alle Vorträge hören durfte, kann ich nun gewissermaßen über deren Thema improvisieren. Dies halte ich für eine gute Sache; dieser Tag war so voll von brillanten Ideen, und meine improvisierende Vorgehensweise wäre ohne die ausgezeichneten Vorredner unmöglich, die auf anregende Weise den Weg dafür geebnet haben.
Denken Sie einmal an eine Termitenkolonie. Eine Termitenkolonie kann eine Fülle von Aufgaben bewältigen, die es so scheinen lassen, als sei eine Termitenkolonie eine abgeschlossene Einheit. Wenn ich jedoch fragen würde: "Wie fühlt es sich an, eine Termitenkolonie zu sein?", würden Sie wahrscheinlich antworten: "Nach überhaupt nichts". Betrachten wir nun das menschliche Gehirn. Das menschliche Gehirn besteht aus ungefähr 100 Milliarden Neuronen (zumindest in der Größenordnung), die für sich genommen dümmer als eine Termite sind. Sie sind jedoch alle zu einem guten Teil voneinander unabhängig. Wenn man einen Moment innehält und nachdenkt, wird man sich erinnern, dass all diese Neuronen von freischwimmenden einzelligen Organismen abstammen. Inzwischen mögen sie in einem Schädel gefangen sein und ihre speziellen Ziele verfolgen - in der Tat besteht zwischen diesen Zellen eine Aufgabenteilung. Jedoch wirft sich nun die Frage auf: Worin besteht der wesentliche Unterschied zwischen einem menschlichen Gehirn und einer Termitenkolonie? Wozu ist das menschliche Gehirn in der Lage, was eine Termitenkolonie und in der Tat eine ganze Reihe Tiere nicht schaffen können?
In meinen Augen kennen wir einen Teil der Antwort, und sie ist in dem zu finden, worüber Fiery Cushman gerade gesprochen hatte: Der Unterschied zur Termitenkolonie liegt im logischen Denken sowie in der Kultur, wobei ich betonen möchte, dass beide voneinander abhängen.
Meine aktuelle Arbeit ist die Aufstellung von - natürlich höchst spekulativen, aber soweit möglich auf aktuellen Erkenntnissen basierenden - Thesen, wie die Kultur Einflüsse auf das Gehirn ausgeübt hat, um dieses so zurechtzustutzen, zu zähmen, zu organisieren und zu strukturieren, sodass zunächst Sprache und dann logisches Denken möglich wurden. Wenn sie nun die Huhn-Ei-Frage stellen, das heißt, was war zuerst da, zuerst die Kultur, die uns schlau machte, oder die Schläue, die uns Kultur ermöglichte, so muss ich antworten: Ja! Beides. Es handelt sich um Koevolution.
Was mich besonders fasziniert, ist, dass die Entwicklung von Intelligenz und Kultur zunächst sehr darwinistisch begann, und die darwinistischen Einflüsse dann zurückgingen. Man könnte von einer "De-Darwinisierung der Kultur" sprechen.
Vor langer Zeit, als es bestenfalls Proto-Sprache gab, breitete sich Sprache fast wie eine Invasion aus. Zunächst war dies ziemlich unkontrolliert; die Menschen wussten nicht, wofür Sprache überhaupt gut sein sollte. Dennoch verursachte die Sprache eine Restrukturierung in den Gehirnen, sodass Verhaltensweisen sowie Denkmuster möglich wurden, die es zuvor noch nie gegeben hatte, und die den Menschen Vorteile verschafften. Somit tritt eine Sicht zutage, die sich von den Ansichten der traditionellen Sozial- und Geisteswissenschaften unterscheidet, welche ja jegliche Hochkultur, Kunst, Wissenschaft und Religion als Schätze betrachten, die wir aus Vernunft erhalten und unseren Nachfahren darreichen.
In der Tat können eine Reihe von Mustern in der kulturellen Welt mit einem schon irgendwie ökonomischen Modell erklärt werden. Von Aspekten der Kultur kann man sagen, dass wir sie bewerten, erhalten, mit ihnen handeln, und in sie investieren. Das will ich nicht bestreiten. Jedoch: Dabei handelt es sich nur um den allerneusten Abschnitt der menschlichen Geschichte. Als sich menschliche Kultur gerade erst entfaltete und die ersten Menschen erkannten, wie sinnvoll und nützlich Kultur sein kann, war es ganz anders.
Zu diesem frühen Zeitpunkt kann man wunderbar eine meiner Lieblingsideen einbringen: Das Mem. Die Theorie der Meme funktioniert doch teils wirklich gut, und zur Erklärung des erwähnten frühen Zeitalters scheint sie geradezu notwendig zu sein. Das allerbeste Beispiel zur Erläuterung der Theorie der Meme sind Wörter. Wörter sind ihrer Natur nach Meme, die man laut sagen kann. Wörter und Sprache sind nicht von intelligenten menschlichen Wesen erfunden worden; stattdessen wurden sie auf brillante Weise von kultureller Evolution nach und nach verfeinert. Dieser Vorgang ist analog dazu, wie vielleicht der Flügel eines Vogels durch genetische Evolution nach und nach in seine aerodynamischste Form gebracht wurde. Ich würde sogar sagen: Man kann die menschlichen intellektuellen Fähigkeiten überhaupt nicht nur durch genetische Evolution erklären. Man braucht auch kulturelle Evolution. Und meiner Ansicht nach war diese am Anfang sehr darwinistisch, während dann später die angesprochene "De-Darwinisierung" stattfand.
Ich möchte an dieser Stelle zwei Beispiele einbringen: Der Computer Alan Turings ist ein wunderbares Beispiel für das sogenannte "Top-Down"-Design; hätte Turing nicht von vornherein gute Pläne eingereicht, hätte er niemals Geld bekommen, den Computer zu realisieren. Zuerst war die Vorstellung eines Objektes da, und dann erst wurde das Objekt in der physikalischen Welt erschaffen. Ganz anders ist dies beim sogenannten "Bottom-Up"-Design: Die Termiten-Kolonie, ein treffliches Beispiel für "Bottom-Up"-Design, ist ohne ein vorheriges Verständnis designt worden; die Termiten hatten in einem früheren Entwicklungsstadium keinerlei Vorstellung von einer fertigen Termiten-Kolonie.
Lassen Sie uns räumliche Dimensionen nutzen! Es existiert ein wundervolles dreidimensionales Diagramm meines Kollegen Peter Godfrey Smith, welches ich hier gezeigt hätte, falls das möglich gewesen wäre. Wenn man sich also diesen dreidimensionalen Würfel ansieht, so findet man in der linken unteren Ecke die Kultur früherer Zeiten, die ziemlich darwinistisch war. Es gab zu dieser Zeit wenig wirkliches Verständnis für die erschaffenen kulturellen Objekte; im Gegenteil wurde einfach ausprobiert und geschaut, was funktioniert, wobei diese Versuche ziemlich breit gestreut waren. Dabei spielte der Zufall eine große Rolle, und Ordnung war sehr auf der Mikro- jedoch nicht so sehr auf der Makroebene zu erkennen. In der rechten oberen Ecke - tja, da sieht man dann Genies wie Turing, Gaudí, Einstein, und Picasso. Es existiert ein Satz von Picasso, der in meinen Augen das Wesen dieser rechten oberen Ecke genau beschreibt: "Je ne cherche pas, je trouve" - "Ich suche nicht, ich finde". DAS Credo eines Supergenies. Anstatt durch viele Versuche zu einer Lösung zu gelangen, findet Picasso sofort die richtige Lösung. Natürlich ist eine derart vollkommene Art der Genialität unmöglich. Picasso war ein Angeber! Ein brillanter zwar, doch eine solche Art der Genialität kann auf ihn nicht zutreffen, denn sie kann auf niemanden zutreffen.
Wenn wir Picasso in der oberen rechten Ecke und frühe Kulturen in der unteren linken Ecke lokalisieren, so stellt sich die Frage, was eigentlich in der Mitte los ist. Nun ja, dort sind - die meisten von uns. Meiner Ansicht nach begehen wir eine Art Manipulation von Schwächen: Wir sind wenig perfekt, zusammengeschustert und verstehen nur die Hälfte, und wir befinden uns sowohl in Kooperation als auch im Wettbewerb mit anderen Leuten, deren Imperfektionen wir auszunutzen suchen.
Denken Sie doch über Folgendes nach: Haben Sie noch nie eine Schachpartie gespielt, durch Zufall einen richtig guten Zug zustande gebracht, und dann verleugnet, dass dieses Zustandebringen Zufall war? Sie hatten einfach nur Glück, aber Sie haben später rationalisiert. Tatsächlich vermute ich, dass so etwas ständig vorkommt. Einen großen Teil unseres durch die Evolution sehr gut geformten Verhaltens verstehen wir eigentlich überhaupt nicht; wir denken nur, dass wir es verstehen. Tatsächlich verstehen wir nur einen sehr kleinen Teil davon, und wir müssen es auch gar nicht so gut verstehen wie traditionelle Ansichten behaupten.
Lassen Sie sich nicht von Aussagen einer humanistischen Tradition täuschen, die das "göttliche" menschliche Gehirn für die Leistungen der Kultur und unsere wunderbaren Fähigkeiten verantwortlich machen. Diese sind nämlich in Wahrheit Produkte eines eher darwinistischen Ausprobier-Prozesses, der den Verlauf der kulturellen Entwicklung bestimmte. Eigentlich sind wir Menschen mehr Nutznießer denn Erschaffer von kulturellen Strukturen.
Dieser Gedanke sollte auch auf das Gehirn angewandt werden. Das menschliche Gehirn ist eine Struktur, die nicht nur auf genetischer Evolution basiert. Im Prinzip ist die Erziehung eines Kindes nichts weiter als die Installation von Software - und Meta-Software - auf die Hardware des Gehirns, die dabei von traditioneller Computer-Hardware so verschieden sind, weil die ganzen Neuronen des Gehirns doch teils recht eigenständig und individuell sind. Aufgabe ist nun, herauszufinden, wie Kultur auf das Gehirn installiert wird. Aber sogar darüber gibt es schon Erkenntnisse.
Ich weiß gar nicht, ob Sie das beeindruckende "Humansprachomprojekt" (Human Speechome Project) von Deb Roy schon kennen. Er hat die sprachliche Entwicklung seines Sohnes verfolgt und dabei eine Unzahl von Daten zusammengetragen. Unter anderem konnte er dabei herausfinden, wie oft ein Wort (durchschnittlich) in Gegenwart seines Sohnes gesprochen wurde, bevor dieser es in sein eigenes Vokabular aufnahm. Die Antwort: Gerade einmal fünf Mal. Die durch das Projekt zu Tage geförderten Daten haben bereits mannigfach interessante Muster enthüllt, und werden wahrscheinlich auch fortfahren, dies zu tun. Jedoch zurück zur Frage: Wie installiert man ein Mem? Nun, ein Wort ist ein Mem, und es wird durch einen fließenden Prozess installiert: Beim ersten Hören ist es völlig neu, beim zweiten Mal klingt es dann schon etwas vertrauter, und irgendwann manifestiert sich das Wort und wird zu einer kleinen Routine im Gehirn, welche dann bei Bedarf genutzt werden kann, was natürlich nicht immer in richtiger Weise geschehen muss.
Irgendjemand hat heute früh von Stroop-Tests gesprochen. Stroop-Tests sind ein klassisches Beispiel dafür, dass gewisse Routinen des Gehirns schon so angewöhnt sind, dass es unmöglich ist, sie auszublenden. Wenn man z. B. einen Text sieht, so liest man ihn schon fast automatisch, ohne dass man es verhindern kann. Normalerweise ist diese starke Gewöhnung wirklich sinnvoll, im Setting von Stroop-Tests sorgen sie jedoch für eine höhere Fehlerquote.
Fiery hat heute darüber gesprochen, wie sich einerseits mehr oder weniger kontrollierte Gedankengänge und andererseits eher unfreiwillig-gemeine Assoziationen gegenüberstehen. Ich glaube, sein Vortrag war auf der richtigen Spur. Er hat darüber gesprochen, dass ein hoch kontrollfähiges Gehirn in Wahrheit ein Flickenteppich aus der Nutzung verschiedenster elementarer Routinen ist, die teils durchaus angeboren sein mögen, jedoch teils sicher auch durch Konditionierung in früher Kindheit hervorgebracht wurden.
Soviel von meiner Seite.
------ Fragen & Antworten ------
MULLAINATHAN: Ich verstehe den Zusammenhang zwischen kulturell geprägten und den genetischen Komponenten des Gehirns noch nicht ganz. Was mir zum Beispiel im Moment durch den Kopf geht, ist, dass Kinder, wenn sie Sprache lernen, die Pluralbildung zunächst einmal richtig verwenden.
DENNETT: Und dann erkennen sie das System und wenden es direkt auch auf unregelmäßige Wörter an.
CHRISTAKIS: Genau, und dann sprechen sie von "Lexikons", bis sie die Ausnahmen neu lernen.
DENNETT: "Kaktusse" und so Zeugs. Genau. Und dann kehren sie zur richtigen Variante zurück.
CHRISTAKIS: Und dieser Rückfall ist verlockend, weil er einen näher an die wahre Natur des Mems heranbringt; das genaue Kopieren desselben fühlte sich zunächst gut an. Ein solcher Rückfall mag im Einzelfall dadurch verursacht sein, dass ein Erwachsener das Kind auf seinen Fehler bei der Pluralbildung hingewiesen hat; aber so wie ich die aktuelle Literatur zu dem Thema verstehe, handelt es sich eher um das Wiederhervorbrechen der ursprünglichen Prägung. Interessanterweise ergibt sich aus dieser Betrachtung für mich, dass für die Konstitution menschlichen Verhaltens sowohl kulturelle Faktoren, als auch biologische, angeborene Faktoren verantwortlich sein müssen. Ich frage mich, was Sie von einer solchen Teilung der Verantwortlichkeit halten. Ich habe das Gefühl, dass angeborene Komponenten vorhanden sein müssen.
DENNETT: Angesichts Ihrer Aussage werde ich versuchen, zur Gegenseite überzulaufen. Ich bin der Ansicht, dass angeborene Komponenten stark überschätzt werden. In der Tat glaube ich, dass auch ohne großartige solche Komponenten optimale Lösungen für zwischenmenschliche Kommunikation gefunden werden können, und zwar durch Ausprobieren. Wie das genau funktioniert, ist noch nicht bekannt.
Als Beispiel möchte ich die nicaraguanische Gebärdensprache anführen. Diese begann zunächst ganz einfach, doch schon bald entwickelte sich eine komplexe Grammatik. Ich bin nicht der Ansicht, dass dies ein Indiz für besondere angeborene Fähigkeiten für Grammatik ist. Stattdessen glaube ich, dass es ein Indiz für einen starken angeborenen Kommunikationsdrang ist. Die Kinder an den Schulen, wo sich die Sprache entwickelte, hatten viel Zeit, waren neugierig und hatten Spaß daran, viele verschiedene Möglichkeiten auszuprobieren. Auf diese Weise entstand dann vor unseren Augen eine neue Sprache.
Und tatsächlich glaube ich ferner, dass der Grund dafür, warum alle Sprachen irgendwie ähnlich sind, nicht der ist, dass wir gewisse angeborene Strukturen in unseren Gehirnen besitzen, sondern dass alle Sprachen mehr oder weniger lokal optimale Lösungen eines Prozesses kultureller Evolution sind. Vielleicht ist dies zu simpel gesprochen. Aber ich bin der Ansicht, dass man angeborenen Mustern im Gehirn eine gewisse Skepsis entgegenbringen sollte, denn falls es solche gibt, so müsste es auch Biologen geben, die in der Lage sind, zu erklären, wie genetisch determinierte Muster durch einen genetisch-evolutionären Prozess überhaupt in unser Gehirn gelangten.
CHRISTAKIS: Also, ein Beispiel für solche Muster sehe ich in der Tat bei gewissen Arten von Vogelgesang. Gewisse Vogelgesänge werden von Vögeln einer Spezies selbst dann uniform gesungen, wenn die Individuen nie miteinander in Kontakt gekommen sind; obwohl natürlich auch Gesänge gelernt werden, sogar von (häufig verwandten) anderen Arten. Hier sieht man, dass man zumindest bei manchen Tierarten, wenn auch noch nicht beim Menschen, zeigen kann, dass tatsächlich sowohl gelernte als auch angeborene Sprachmuster vorhanden sind. Ich bin geneigt, die Resultate von Vögeln auf das menschliche Gehirn zu übertragen.
DENNETT: Es mag tatsächlich angeborene Sprachmuster im Menschen geben, aber wahrscheinlich weniger, als man aktuell vermutet.
Übersetzung von: Adrian Fellhauer, Joseph Wolsing
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