Wir neigen dazu, von Empathie als eine nur dem Menschen eigene Eigenschaft zu denken. Der Primatologe Frans de Waal erforscht jedoch, wie auch Affen und andere Tiere diese Eigenschaft zeigen. Er zeigt, wie unsere gemeinsame evolutionäre Geschichte eine tief verwurzelte Neigung für das Empfinden der Emotionen anderer nahelegt.
Vor langer Zeit hatten die Vereinigten Staaten einen Präsidenten, der für einen besonderen Gesichtsausdruck bekannt war. Bei einem Akt kontrollierter Emotionen biss er sich auf die Unterlippe und verkündete seinen Zuhörern: „Ich fühle euren Schmerz.“
Ob dieser Ausdruck aufrichtig war, spielt hier keine Rolle; wichtig ist, wie wir von der misslichen Lage des anderen betroffen sind. Die Empathie ist unsere zweite Natur und zwar in einem solchen Ausmaß, dass jeder, der frei von ihr ist, uns gefährlich oder geisteskrank erscheint.
Im Kino können wir nicht anders, als in die Haut der Charaktere auf der Leinwand zu schlüpfen. Wir verzweifeln, wenn ihr gigantisches Schiff sinkt; wir jubeln, wenn sie endlich in die Augen eines seit langem verlorenen Liebhabers starren.
Wir sind so sehr an Empathie gewöhnt, dass wir sie für selbstverständlich halten, doch sie ist lebenswichtig für menschliche Gemeinschaften, wie wir sie kennen. Unsere moralischen Grundsätze hängen von ihr ab: Wie könnte von irgendjemandem erwartet werden, die Goldene Regel zu befolgen ohne die Fähigkeit, geistig die Position eines anderen Menschen einzunehmen? Es ist logisch anzunehmen, dass diese Fähigkeit zuerst entstanden ist und erst dadurch die Entstehung der Goldenen Regel selbst möglich gemacht hat. Der Akt der Perspektivenübernahme wird durch eine der bewährtesten Definitionen der Empathie, die wir haben, zusammengefasst als „den Platz tauschen mit dem Leidenden“ („changing places in fancy with the sufferer“, Adam Smith).
Ein Beispiel für Trostspenden unter Schimpansen: Ein Jungtier legt seinen Arm um ein schreiendes erwachsenes Männchen, das gerade in einem Kampf gegen seinen Rivalen besiegt wurde. Trost spenden spiegelt wahrscheinlich Empathie wieder, da das Ziel des tröstenden Tieres scheinbar das Lindern von Stress bei dem anderen Tier ist.
Frans de Waal
Selbst Adam Smith, der Vater der Volkswirtschaftslehre, der am bekanntesten dafür ist, das Eigeninteresse als das Herzblut menschlicher Wirtschaft zu betonen, verstand, dass die Konzepte des Eigeninteresses und der Empathie sich nicht widersprechen. Empathie lässt uns die Hand nach anderen ausstrecken, zunächst nur emotional, doch später im Leben auch dadurch, dass wir ihre Situation verstehen.
Diese Fähigkeit hat sich wahrscheinlich entwickelt, da sie dem Überleben unserer Vorfahren auf zwei Arten diente: Erstens müssen wir so wie alle Säugetiere empfänglich für die Bedürfnisse unseres Nachwuchses sein. Zweitens ist unsere Spezies auf Kooperation angewiesen, was bedeutet, dass es uns nützt, wenn wir von gesunden, leistungsfähigen Gruppengefährten umgeben sind. Sich um diese zu kümmern ist nur eine Frage des aufgeklärten Eigeninteresses.
Empathie bei Tieren
Es ist schwer vorstellbar, dass die Empathie – ein Merkmal, das für die menschlichen Spezies so grundlegend ist, dass es früh im Leben auftritt und von starken physiologischen Reaktionen begleitet wird – erst in dem Moment entstanden ist, als unsere Abstammungslinie von derjenigen der Affen abzweigte. Sie muss wesentlich älter sein. Beispiele von Empathie bei anderen Tieren würden eine lange evolutionäre Geschichte dieser Fähigkeit im Menschen nahelegen.
Die Evolution verwirft selten etwas zur Gänze. Stattdessen werden Strukturen umgewandelt, abgeändert, anderen Funkionen zugeschrieben, oder in eine andere Richtung optimiert. Die Vorderflossen der Fische wurden zu den vorderen Gliedmaßen der Landtiere, welche sich im Laufe der Zeit zu Hufen, Pfoten, Flügel und Hände entwickelt haben. Gelegentlich verliert eine Struktur auch all ihre Funktionen und wird überflüssig, doch dies ist ein stufenweiser Prozess, und Merkmale verschwinden nur selten komplett. Daher finden wir winzige Überbleibsel von Beinknochen unter der Haut von Walen und Überreste eines Beckens in Schlangen.
Im Verlauf der letzten Jahrzehnte haben wir zunehmend Nachweise für Empathie bei anderen Spezies entdeckt. Ein Beweis ergab sich unbeabsichtigt aus einer Studie zur menschlichen Entwicklung. Carolyn Zahn-Waxler, eine forschende Psychologin des National Institute of Mental Health, besuchte Familien zu Hause, um herauszufinden, wie junge Kinder auf die Emotionen der Familienmitglieder reagieren. Sie wies Personen an, zu schluchzen, zu weinen, oder zu würgen und bemerkte, dass manche Haustiere genauso besorgt über das vorgegebene Leiden der Familienmitglieder zu sein schienen wie die Kinder. Die Haustiere blieben in der Nähe und legten den Kopf in den Schoß ihres Besitzers.
Doch der vielleicht überwältigendste Nachweis für die Stärke von Empathie bei Tieren stammt aus einer Gruppe von Psychiatern unter der Leitung von Jules Masserman an der Northwestern University. Die Wissenschaftler berichteten im Jahre 1964 im American Journal of Psychiatry, dass Rhesusaffen sich dann weigerten, an einer Kette zu ziehen, welche ihnen Futter lieferte, wenn sie dadurch einem Gefährten einen Elektroschock zufügten. Einer der Affen zog noch weitere 12 Tage, nachdem er beobachtet hatte, wie ein anderer Affe einen Schock erhalten hatte, nicht an der Kette. Diese Primaten hungerten sich buchstäblich selbst aus, um zu verhindern, ein anderes Tier zu schocken.
Kognitive Empathie, bei der man die Lage eines anderen versteht, befähigt zu Hilfeverhalten, welches auf die spezifischen Bedürfnisse des anderen abgestimmt ist. In diesem Fall streckt eine Schimpansenmutter ihren Arm aus, um ihrem Sohn, nachdem er schrie und um ihre Aufmerksamkeit bettelte, von einem Baum zu helfen.
Frans de Waal
Die Menschenaffen, unsere nahesten Verwandten, sind sogar noch bemerkenswerter. Im Jahre 1925 berichtete Robert Yerkes, wie sein Bonobo, Prinz Chim, so außerordentlich fürsorglich und besorgt um seinen kränklichen Schimpansengefährten Panzee war, dass das wissenschaftliche Establishment seine Behauptung nicht akzeptieren würde: „Wenn ich jemals von seinem altruistischen und offenkundig mitfühlenden Verhalten Panzee gegenüber erzähle, würde ich in den Verdacht geraten, einen Affen zu idealisieren.“
Nadia Ladygina-Kohts, eine Pionierin der Primatologie, bemerkte ähnliche empathische Neigungen bei ihrem jungen Schimpansen Joni, welchen sie zu Beginn des letzten Jahrhunderts in Moskau aufzog. Kohts, die Jonis Verhalten minutiös analysierte, entdeckte, dass der einzige Weg, um ihn nach einem Fluchtversuch von ihrem Hausdach zu bekommen – wesentlich effektiver als jede Belohnung oder Androhung von Strafe – das Wecken von Mitgefühl war:
„Wenn ich meine Augen schließe und vorgebe zu weinen, dann beendet Joni sofort sein Spiel oder jede andere Aktivität, rennt ganz aufgebracht und schnell von den entlegensten Orten im Haus, wie das Dach oder die Decke seines Käfigs zu mir. Es sind Orte, von denen ich ihn sonst nicht herunterholen kann, trotz beharrlichen Rufens und Flehens. Er rennt hastig um mich herum, als ob er nach dem Angreifer Ausschau hielte; Während er mein Gesicht anschaut, nimmt er meine Wange zärtlich in seine Handfläche, berührt mein Gesicht sanft mit seinem Finger, als ob er verstehen wollte, was los ist, dreht sich um und ballt seine Zehen zu festen Fäusten.“
Diese Beobachtungen legen nahe, dass Affen neben einer emotionalen Verbundenheit einen Sinn für die Lage des anderen haben und einen gewissen Grad an Perspektivübernahme aufweisen. Ein eindrucksvoller Bericht in diesem Zusammenhang handelt von einem Bonoboweibchen namens Kuni, welche in ihrem Gehege im Twycross Zoo in England einen verwundeten Vogel entdeckte. Kuni hob den Vogel auf, und als ihr Wärter sie dazu drängte, ihn frei zu lassen, kletterte sie zur höchsten Stelle im höchsten Baum, spannte sorgsam die Flügel des Vogels weit auf, mit einem Flügel in jeder Hand, bevor sie ihn so kräftig wie möglich zum Rand des Geheges warf. Als der Vogel abstürzte, kletterte Kuni hinunter und beschützte ihn den Rest des Tages, bis er wieder in Sicherheit flog. Was Kuni getan hatte, wäre einem Mitglied ihrer eigenen Spezies gegenüber offensichtlich unangebracht gewesen. Indem sie Vögel schon oft im Flug gesehen hatte, schien sie eine Ahnung davon zu haben, was gut für einen Vogel ist, und gibt uns folglich eine anthropoide Veranschaulichung von Smiths „Platztausch mit dem Leidenden“.
Damit ist nicht gesagt dass Anekdoten alles sind, was wir haben. Es wurden systematische Studien zum sogenannten „Trost“-Verhalten durchgeführt. Trost wird definiert als freundliches oder beruhigendes Verhalten eines Zuschauers gegenüber einem Opfer von Aggression. Ein Beispiel: Schimpanse A greift Schimpansen B an, danach kommt der Zuschauer C dazu und umarmt und putzt B. Auf der Grundlage hunderter solcher Beobachtungen wissen wir, dass Trostverhalten regelmäßig vorkommt und das Grundniveau von Sozialkontakten übersteigt. Anders ausgedrückt: Es ist eine nachweisbare Neigung, die wahrscheinlich Empathie wiederspiegelt, da das Ziel des Tröstenden die Linderung von Leid bei dem anderen zu sein scheint. Tatsächlich ist die gewöhnliche Wirkung dieser Art von Verhalten, dass der Getröstete zu Schreien aufhört und auch keine anderen Zeichen von Stress mehr zeigt.
Fortsetzung folgt.
Übersetzung von: Robert Keller, Daniela Bartl
Kommentare
Ein wirklich klasse Beitrag!
Ich bin kein Evolutionsbiologe, sondern Prähistoriker, aber ich betrachte es als interdisziplinäre Grundlagenforschung!
Vieles von dem, was heute in den Gesellschaften schief läuft, sehe ich begründet darin, daß uns diese "genetische Gabe" der Empathie schon von klein auf aberzogen wird...
... hoffentlich schaffen wir es noch, aus unsern Elfenbeinturm heraus und uns Verhör zu verschaffen, bevor es das dritte mal kracht!
Antworten
Neuer Kommentar