Die Evolution der Empathie – Teil 2

Wir neigen dazu, von Empathie als eine nur dem Menschen eigene Eigenschaft zu denken. Der Primatologe Frans de Waal erforscht jedoch, wie auch Affen und andere Tiere diese Eigenschaft zeigen. Er zeigt, wie unsere gemeinsame evolutionäre Geschichte eine tief verwurzelte Neigung für das Empfinden der Emotionen anderer nahelegt.

Die Evolution der Empathie – Teil 2

Ein bottom-up Blickwinkel auf Empathie

Die oben angeführten Beispiele helfen dabei zu verstehen, weshalb eine russische Puppe für Biologen ein solch befriedigendes Spielzeug ist. Insbesondere dann, wenn sie eine historische Dimension hat. Ich besitze eine Puppe des russischen Präsidenten Vladimir Putin, in sich der Reihe nach Jelzin, Gorbatschow, Breschnew, Kruschtschoff, Stalin und Lenin finden. Ein bisschen von Lenin und Stalin in Putin wiederzufinden wird die meisten Politanalysten kaum überraschen. Dasselbe gilt für biologische Merkmale: Das Alte bleibt stets im Neuen erhalten.

Dugald Stermer

Dies ist für die Debatte um die Ursprünge der Empathie relevant, insbesondere aufgrund der in manchen Disziplinen (wie in der Psychologie) vorherrschenden Neigung, menschliche Fähigkeiten in den Vordergrund zu stellen. Im Kern übernehmen diese Disziplinen einen top-down Ansatz, welcher die Einzigartigkeit der menschlichen Sprache, Bewusstseins und Kognition betont. Doch anstatt zu versuchen, die Empathie in den höheren Bereichen menschlicher Kognition anzusiedeln, ist es wahrscheinlich am Besten, mit einer Untersuchung der einfachsten Prozesse zu beginnen, manche von ihnen vielleicht sogar auf Zellebene. Tatsächlich deuten aktuelle Ergebnisse neurowissenschaftlicher Forschungen darauf hin, dass der Empathie sehr einfache und grundlegende Prozesse zugrunde liegen. Wissenschaftler der University of Parma in Italien haben als Erste berichtet, dass Affen bestimmte Gehirnzellen haben, die nicht nur aktiv werden, wenn der Affe ein Objekt mit seinen Händen greift, sondern auch, wenn er lediglich einem anderen Affen dabei zusieht. Da diese Zellen gleichermaßen sowohl beim Tun als auch beim Zuschauen, wie ein anderer etwas tut, aktiviert sind, wurden sie als Spiegelneuronen oder auch „Monkey see, Monkey do“-Neuronen bekannt.

Aus dem Blickwinkel der Entwicklung und der Evolution betrachtet scheint es, als ob den fortgeschrittenen Formen der Empathie grundlegendere Formen vorausgingen. Die Biologen bevorzugen solche bottom-up Darstellungen. Sie nehmen stets Kontinuität an: zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Kind und Erwachsenem, Mensch und Tier, sogar zwischen Menschen und den primitivsten Säugetieren.

Wie und warum also sollte sich dieses Merkmal in Menschen und anderen Spezies entwickelt haben? Empathie entstand wahrscheinlich im Zusammenhang mit der elterlichen Fürsorge, ein Kennzeichen aller Säugetiere. Indem menschliche Säuglinge ihren Zustand über Lächeln und Weinen anzeigen, drängen sie ihren Versorger dazu, sich um sie zu kümmern. Dies gilt auch für andere Primaten. Den Überlebenswert dieser Interaktionen zeigt das Fallbeispiel eines tauben Schimpansenweibchens, das ich unter dem Namen Krom kannte: Sie hatte eine Reihe von Nachkommen und ein starkes positives Interesse an ihnen. Doch da sie taub war, bemerkte sie das Wehklagen ihrer Babies nicht, selbst wenn sie sich auf sie setzte. Kroms Fall verdeutlicht, dass eine Spezies ohne die angemessenen Mechanismen für das Verstehen und Reagieren auf die Bedürfnisse ihrer Kinder nicht überleben wird.

Innerhalb der 180 Millionen Jahre, in denen sich die Säugetiere entwickelt haben, haben diejenigen Weibchen, welche auf die Bedürfnisse ihres Nachwuchses eingegangen sind, jene Weibchen bei der Reproduktion überholt, welche kalt und distanziert waren. Da wir von einer langen Linie von Müttern abstammen, welche ihre Jungen gesäugt, gefüttert, gesäubert, getragen, getröstet und verteidigt haben, sollten wir nicht über die Geschlechtsunterschiede bei der menschlichen Empathie überrascht sein. Dies könnte etwa auch die Tatsache erklären, dass ein überproportional hoher Anteil der Kinder, die von Autismus betroffen sind (der durch einen Mangel an sozialen Kommunikationsfähigkeiten charakterisiert ist), Jungen sind.

Auch bei Kooperation spielt die Empathie eine Rolle. Wir müssen den  Aktivitäten und Zielen anderer genügend Aufmerksamkeit widmen, um effektiv zusammen zu arbeiten. Eine Löwin muss schnell merken, wenn die anderen Löwinnen in den Jagdmodus wechseln, damit sie sich ihnen anschließen und zum Erfolg des Rudels beitragen kann. Ein Schimpansenmännchen muss aufmerksam die Konkurrenzkämpfe und Rangeleien seines Kameraden mit anderen Schimpansen verfolgen, damit er, falls es nötig werden sollte, helfen kann, um damit den politischen Erfolg ihrer Partnerschaft zu gewährleisten. Eine effektive Zusammenarbeit erfordert, dass man in hohem Maße auf die emotionalen Zustände und Ziele anderer eingestellt ist.

In einem bottom-up Rahmen liegt der Schwerpunkt weniger auf dem höchsten Niveau der Empathie als vielmehr auf ihren einfachsten Formen, und darauf, wie diese mit erhöhter Kognition zusammenspielen, um komplexere Formen der Empathie zu produzieren. Wie ist diese Umwandlung vonstatten gegangen? Die Evolution der Empathie verläuft von geteilten Emotionen und Intentionen zwischen Individuen bis hin zu einer größeren Ich/Andere - Unterscheidung – ein „Klären“ der Linien zwischen Individuen. Als Ergebnis lässt sich die eigene Erfahrung von der einer anderen Person unterscheiden, obwohl wir gleichzeitig stellvertretend von der Erfahrung des anderen beeinflusst sind. Dieser Prozess gipfelt in einer kognitiven Einschätzung des Verhaltens und der Situation des anderen: Wir übernehmen die Perspektive des anderen.

Doch wie bei einer russischen Puppe beinhalten die äußeren Schichten einen inneren Kern. Anstatt dass die Evolution einfachere Formen der Empathie durch fortgeschrittenere ersetzt, sind letztere Formen lediglich sorgfältigere Ausführungen der alten und bleiben von diesen abhängig. Dies bedeutet auch, dass Empathie in unserer Natur liegt. Sie ist nicht etwas, das wir nur später im Leben lernen oder das kulturell konstruiert ist. Im Grunde genommen ist Empathie eine fest verdrahtete Reaktion, welche wir im Verlauf unseres Lebens feinabstimmen und ausarbeiten, bis sie einen Grad erreicht, an dem es schwer wird, ihren Ursprung in einfacheren Reaktionen wiederzuerkennen, wie etwa bei der Körpermimikry und der Gefühlsansteckung.

An der Leine

Die Biologie hält uns, mit den trefflichen Worten des Biologen Edward Wilson gesagt, „an der Leine“, und wird uns nicht weit davon abweichen lassen, wer wir sind. Wir können unser Leben so gestalten, wie wir möchten, doch ob wir Erfolg haben werden, hängt davon ab, wie gut dieses Leben zu unseren menschlichen Veranlagungen passt.

Ich zögere damit, vorherzusagen, was wir Menschen tun können und was nicht, doch wir müssen bei der Entscheidung, was für eine Art von Gesellschaft wir aufbauen möchten, unsere biologische Leine bedenken; insbesondere, wenn es um Ziele wie universelle Menschenrechte geht.

Wenn es uns gelänge, Menschen auf anderen Kontinenten als Teil von uns zu betrachten, sie in unseren Ring aus Gegenseitigkeit und Empathie aufzunehmen, dann würden wir auf unserer Natur aufbauen, anstatt gegen sie zu arbeiten.

Im Jahre 2004 löste beispielsweise der israelische Justizminister einen politischen Eklat aus, weil er mit dem Feind fühlte. Yosef Lapid stellte den Plan der israelischen Armee, tausende palästinensischer Häuser in einer Zone entlang der ägyptischen Grenze zu zerstören, infrage. Er war durch Bilder in den Abendnachrichten berührt worden: „Als ich im Fernsehen ein Bild von einer alten Frau auf allen Vieren in den Trümmern ihres eigenen Hauses sah, wie sie unter ein paar Bodenplatten nach ihrer Medizin suchte, dachte ich: „Was würde ich sagen, wenn das meine Großmutter wäre?“ Lapids Großmutter war ein Opfer des Holocaust gewesen.

Dieses Ereignis zeigt, wie eine einfache Emotion die Definition der eigenen Gruppe erweitern kann. Lapid hatte auf einmal erkannt, dass auch die Auswirkungen auf die Palästinenser ihn etwas angingen. Empathie ist die einzige Waffe im menschlichen Repertoire, die uns von dem Fluch der Fremdenfeindlichkeit (Xenophobie) befreien kann.

Doch die Empathie ist zerbrechlich. Unter unseren engen Verwandten in der Tierwelt wird sie durch Ereignisse innerhalb der Gemeinschaften eingeschaltet, etwa wenn ein Jungtier unter Stress steht, doch ebenso schnell wird sie wieder ausgeschaltet in Bezug auf Außenseiter oder Mitglieder einer anderen Spezies, wie etwa Beutetiere. Die Art, wie ein Schimpanse einem lebenden Affen den Schädel an einem Baumstamm einschlägt, ist keine Werbung für Empathie unter Affen. Bonobos sind weniger brutal, doch auch bei ihnen muss die Empathie einige Filter durchlaufen, bevor sie zum Ausdruck kommt. Oftmals verhindern die Filter den Ausdruck von Empathie, da kein Menschenaffe sich es erlauben kann, jederzeit für jedes Lebewesen Mitleid zu empfinden. Dies gilt in gleicher Weise für Menschen. Unser evolutionärer Hintergrund macht es uns schwer, uns mit Außenseitern zu identifizieren. Wir haben uns evolutionär entwickelt, unsere Feinde zu hassen, Personen, die wir kaum kennen, zu ignorieren und jedem zu misstrauen der nicht aussieht wie wir. Selbst wenn wir innerhalb unserer Gemeinschaften weitestgehend kooperativ sind, haben wir im Bezug auf den Umgang mit Fremden eine gänzlich andere Seite.

Dies ist die Herausforderung unserer Zeit: Die Globalisierung durch eine stammesartige Spezies. Bei dem Versuch, die Welt auf eine Weise zu gliedern, wie sie zur menschlichen Natur passt, muss im Kopf behalten werden, dass politische Ideologen per Definition nur einen beschränkten Blick haben. Sie sind blind für das, was sie nicht sehen möchten. Die Möglichkeit, dass Empathie ein Teil unseres Erbes als Primaten ist, sollte uns glücklich machen, doch wir sind es nicht gewöhnt, unsere Natur bereitwillig anzunehmen. Wenn Menschen sich gegenseitig töten, dann nennen wir sie „Tiere“. Doch wenn sie den Armen etwas geben, dann loben wir sie als „human“. Es gefällt uns, die letztere Neigung für uns zu beanspruchen. Doch es wird schwierig sein, irgendetwas zu finden, das wir an uns mögen, das nicht Teil unseres evolutionären Hintergrunds ist. Was wir daher brauchen, ist eine Gesamtbild der menschlichen Natur, welche all unsere Neigungen umfasst: die guten, die schlechten, und die hässlichen.

Unsere größte Hoffnung, über stammesbezogene Gegensätze hinwegzukommen, basiert auf den moralischen Emotionen, denn Emotionen setzen sich über Ideologien hinweg. Im Prinzip kann Empathie sämtliche Regeln darüber, wie man andere behandeln soll, aufheben. Als beispielsweise Oskar Schindler im Zweiten Weltkrieg Juden vor den Konzentrationslagern rettete, hatte er klare Befehle von seiner Gesellschaft darüber, wie man Menschen behandeln solle. Doch seine Gefühle griffen ein.

Mitfühlende Emotionen können zu subversiven Handlungen führen, wie im Falle eines Gefängniswärters, welcher in Zeiten des Krieges angewiesen war, seine Häftlinge nur mit Wasser und Brot zu versorgen, jedoch gelegentlich ein hartgekochtes Ei für sie einschmuggelte. So gering seine Geste auch war, sie prägte sich dem Gedächtnis der Häftlinge dennoch ein als ein Zeichen dafür, dass nicht all ihre Feinde Monster waren. Und schließlich gibt es noch die zahlreichen Fälle von Befehlsverweigerung, wie etwa, wenn Soldaten ihre Gefangenen ohne negative Auswirkungen hätten töten können, sich jedoch dazu entschlossen, es nicht zu tun. Im Krieg kann Zurückhaltung eine Form des Mitgefühls sein.

Emotionen übertrumpfen Regeln. Aus diesem Grund sprechen wir, wenn es um moralische Rollenvorbilder geht, von ihrem Herz, nicht von ihrem Gehirn (obwohl das Herz, wie jeder Neurowissenschaftler an dieser Stelle betonen würde, als Sitz von Emotionen eine überholte Vorstellung ist). Beim Lösen moralischer Dilemmata verlassen wir uns mehr auf das, was wir fühlen, als auf das, was wir denken.

Es ist nicht so, dass Religion und Kultur keine Rolle spielen würden. Doch die Bausteine der Moralität gehen der Menschlichkeit deutlich voraus. Wir erkennen sie bei unseren Verwandten, den Primaten; wobei Empathie am deutlichsten bei Bonobos, und Gegenseitigkeit am deutlichsten bei Schimpansen ausgeprägt ist. Moralische Regeln sagen uns, wann und wie wir unsere empathischen Neigungen einsetzen sollen, doch die Neigungen selbst bestehen schon seit alters her.

Übersetzung von: Robert Keller, Daniela Bartl

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