Die Frage von Schuld und Verantwortung

Der freie Schriftsteller, Publizist und Rezitator Rainer Schepper schrieb einen theoretischen Aufsatz über die “Frage von Schuld und Verantwortung aus deterministischer Sicht”. Der Humanistische Pressedienst hat sich entschlossen, den Text in voller Länge zu veröffentlichen, auch wenn er länger als gewöhnlich ist.

Die Frage von Schuld und Verantwortung

Vorbemerkung

Oberstes Postulat und unverzichtbares Theorem aller monotheistischen Religionen ist die Willensfreiheit des Menschen, der Indeterminismus. Er gilt als unantastbares Axiom und ist grundgelegt in der dubiosen Paradiesesgeschichte, in der vier handelnde Personen auftreten, nämlich Gott als Schöpfergott, sein Widersacher, der Satan oder Teufel in Gestalt einer redenden Schlange, Adam, als Gottes Ebenbildnis aus Erdmasse erschaffen und Eva, als eine seiner Rippen von ihm genommene und ihm untergeordnete Kreatur. Diese beiden verfügen über einen freien Willen, mit dem sie sich dafür entscheiden, lügenhaften Einflüsterungen der Schlange zu glauben, wonach sie die Strafe auf sich nehmen müssen, aus dem Paradiese für immer vertrieben zu werden. Sie sündigten wider ihren Schöpfer, und diese Sünde übertrug sich laut monotheistischer Lehre auf alle ihre Nachkommen, also auf die gesamte Menschheit, die ihrerseits mit dem freien Willen begabt war, sich für Gutes oder Böses zu entscheiden, also sündig, schuldig zu werden oder sich von Schuld frei zu halten. Schuld und Strafe gehören nach dieser Lehre von Anbeginn der Menschheit her zur menschlichen Existenz.

Abgesehen von dieser ideologisch motivierten These hat aber der Indeterminismus auch eine pragmatische, eine praktische, eine praktikable Seite. Indem man dem Menschen den freien Willen und damit Schuldfähigkeit und Strafwürdigkeit zuerkennt, unterwirft man ihn gleichzeitig Sanktionen, macht ihn beherrschbar und, soweit man ihn nicht beherrschen kann, zumindest diffamabel, nimmt sich das Recht heraus, ihn schuldig zu sprechen, verantwortlich für seine Verfehlungen. So erscheint die Lehre und das Postulat der Willensfreiheit primär weltanschaulich fundiert.

Der Mensch sträubt sich gegen eine Schicksalslehre, weil er sich durch sie entwürdigt wähnt, aber damit unterliegt er der Verwechslung von Tun und Wollen. Das Vermögen der Freiheit des Handelns erzeugt in ihm die Illusion der Willensfreiheit.

Abgesehen von diesem psychologischen Sachverhalt hebt das Axiom des freien Willens den Menschen, auf sich selbst bezogen, über alle anderen Wesen hinaus, setzt sich (und ihn) von ihnen ab, da ihn die freie Entscheidungsfähigkeit, die sich über jede Art Instinkt und Trieb erhebt, zu einer Art Souverän werden lässt, für den er sich denn auch halten darf. Er verfügt über eine sich von allen andern Wesen unterscheidende Selbstbestimmung, mit der ihm eine göttliche oder doch gottähnliche Eigenschaft zuerkannt ist.

Allein der Gedanke, nicht selbstbestimmt zu sein, keinen freien Willen zu haben, sondern determiniert denken und handeln zu müssen, nimmt ihm, wie er meint, seine Menschenwürde, die als Fundament aller freiheitlichen Verfassungen ausdrücklich formuliert und anerkannt ist. Und so wird der Indeterminismus unversehens und unmittelbar zu einem unverzichtbaren, unantastbaren Politikum, wie er denn auch von jeher die Kultur des Abendlandes bestimmt und beherrscht und aus den Köpfen der Menschen kaum noch wegzudenken ist. Das gesamte Gesetzesgefüge – nicht nur – des Abendlandes ist auf dem Indeterminismus aufgebaut, insbesondere aber das Strafrecht, das an dem Verurteilten die Rache der Gesellschaft auslässt, ohne je etwas Besserndes, also Nützliches bewirkt zu haben.

Es erben sich Gesetz und Rechte
Wie eine ew´ge Krankheit fort,
Sie schleppen von Geschlecht sich zu Geschlechte
Und rücken sacht von Ort zu Ort,
Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage:
Weh dir, daß du ein Enkel bist!
Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
Von dem ist leider! nie die Frage.
(Goethe, Faust I, Studierzimmer, 1972–1979)

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