Die Grenzen zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft

Was sollten wir glauben?

Die Grenzen zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft

Foto: Pixabay.com / geralt

Wenn ich an Hochschulen und Universitäten Vorlesungen über Wissenschaft und Pseudowissenschaft halte, werde ich, nachdem ich gängige Überzeugungen vieler Studenten in Frage gestellt habe, unweigerlich gefragt: „Warum sollten wir Ihnen glauben?“ Meine Antwort: „Das sollten Sie nicht.“

Ich erkläre dann, dass wir die Dinge selbst überprüfen müssen und, wenn das nicht möglich ist, zumindest grundlegende Fragen stellen sollten, die die Gültigkeit jeder Behauptung auf den Punkt bringen. Das nenne ich „Unsinn-Erkennung“, in Anlehnung an Carl Sagan, der den Ausdruck „Baloney Detection Kit“ geprägt hat. Um Unsinn zu erkennen, das heißt, um zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft zu unterscheiden, schlage ich 10 Fragen vor, die man stellen sollte, wenn man auf eine Behauptung stößt.

1. Wie zuverlässig ist die Quelle der Behauptung?

Pseudowissenschaftler scheinen oft recht vertrauenswürdig zu sein, aber wenn man genau hinsieht, sind die Fakten und Zahlen, die sie zitieren, verzerrt, aus dem Zusammenhang gerissen oder gelegentlich sogar gefälscht. Natürlich macht jeder mal einen Fehler. Und wie der Wissenschaftshistoriker Daniel Kevles in seinem Buch „The Baltimore Affair“ so wirkungsvoll gezeigt hat, kann es schwierig sein, ein betrügerisches Signal im Hintergrundrauschen der Schlamperei zu erkennen, die ein normaler Teil des wissenschaftlichen Prozesses ist. Die Frage ist: Zeigen die Daten und Interpretationen Anzeichen einer absichtlichen Verzerrung? Als ein unabhängiges Komitee, das zur Untersuchung eines möglichen Betrugs eingerichtet wurde, eine Reihe von Forschungsnotizen im Labor des Nobelpreisträgers David Baltimore untersuchte, deckte es eine überraschende Anzahl von Fehlern auf. Baltimore wurde entlastet, weil die Fehler in seinem Labor zufällig und nicht zielgerichtet waren.

2. Stellt diese Quelle oft ähnliche Behauptungen auf?

Pseudowissenschaftler haben die Angewohnheit, weit über die Fakten hinauszugehen. Flutgeologen (Kreationisten, die glauben, dass Noahs Flut viele der geologischen Formationen der Erde erklären kann) stellen immer wieder ungeheuerliche Behauptungen auf, die keinen Bezug zur geologischen Wissenschaft haben. Natürlich gehen einige große Denker in ihren kreativen Spekulationen häufig über die Daten hinaus. Thomas Gold von der Cornell University ist berüchtigt für seine radikalen Ideen, aber er hat oft genug Recht gehabt, so dass andere Wissenschaftler auf seine Aussagen hören. Gold schlägt zum Beispiel vor, dass Öl gar kein fossiler Brennstoff ist, sondern das Nebenprodukt einer tiefen, heißen Biosphäre (Mikroorganismen, die in unvermuteten Tiefen innerhalb der Kruste leben). Kaum ein Geowissenschaftler, mit dem ich gesprochen habe, glaubt, dass Gold recht hat, dennoch halten sie ihn nicht für einen Spinner. Achten Sie auf ein Muster von Randgruppen-Denken, das konsequent Daten ignoriert oder verzerrt.

3. Wurden die Behauptungen von einer anderen Quelle verifiziert?

Typischerweise machen Pseudowissenschaftler Aussagen, die nicht verifiziert sind oder nur von einer Quelle innerhalb ihres eigenen Glaubenskreises verifiziert wurden. Wir müssen fragen: Wer überprüft die Behauptungen, und sogar wer überprüft die Überprüfer? Das größte Problem beim Debakel der kalten Fusion war zum Beispiel nicht, dass Stanley Pons und Martin Fleischman falsch lagen. Es war, dass sie ihre spektakuläre Entdeckung auf einer Pressekonferenz verkündeten, bevor andere Labors sie verifiziert hatten. Schlimmer noch, als die kalte Fusion nicht repliziert wurde, hielten sie weiterhin an ihrer Behauptung fest. Eine Überprüfung von außen ist entscheidend für gute Wissenschaft.

4. Wie passt die Behauptung zu dem, was wir darüber wissen, wie die Welt funktioniert?

Eine außergewöhnliche Behauptung muss in einen größeren Zusammenhang gestellt werden, um zu sehen, wie sie hineinpasst. Wenn Leute behaupten, dass die ägyptischen Pyramiden und die Sphinx vor mehr als 10.000 Jahren von einer unbekannten, fortgeschrittenen Rasse erbaut wurden, präsentieren sie keinen Kontext für diese frühere Zivilisation. Wo sind die restlichen Artefakte dieser Menschen? Wo sind ihre Kunstwerke, ihre Waffen, ihre Kleidung, ihre Werkzeuge, ihr Müll? Auf diese Weise funktioniert Archäologie einfach nicht.

5. Hat sich jemand die Mühe gemacht, die Behauptung zu widerlegen, oder wurde nur nach unterstützenden Beweisen gesucht?

Dies ist der Bestätigungsfehler, oder die Tendenz, bestätigende Beweise zu suchen und nicht bestätigende Beweise abzulehnen oder zu ignorieren. Der Bestätigungsfehler ist mächtig, allgegenwärtig und für jeden von uns fast unmöglich zu vermeiden. Das ist der Grund, warum die Methoden der Wissenschaft, die das Überprüfen und Nachprüfen, die Verifizierung und Replikation und vor allem die Versuche, eine Behauptung zu falsifizieren, betonen, so entscheidend sind.

6. Weist das Übergewicht der Beweise auf die Schlussfolgerung des Behaupters hin oder auf eine andere?

Die Evolutionstheorie zum Beispiel wird durch eine Konvergenz von Beweisen aus einer Reihe unabhängiger Untersuchungslinien bewiesen. Kein einziges Fossil, kein einziges biologisches oder paläontologisches Beweisstück trägt die Aufschrift „Evolution"; stattdessen fügen sich Zehntausende von Beweisstücken zu einer Geschichte über die Evolution des Lebens zusammen. Kreationisten ignorieren diesen Zusammenfluss bequemerweise und konzentrieren sich stattdessen auf triviale Anomalien oder derzeit unerklärliche Phänomene in der Geschichte des Lebens.

7. Wendet der Behaupter die akzeptierten Regeln der Vernunft und Werkzeuge der Forschung an, oder wurden diese zugunsten anderer aufgegeben, die zu der gewünschten Schlussfolgerung führen?

Es kann eine klare Unterscheidung zwischen SETI-Wissenschaftlern (Suche nach extraterrestrischer Intelligenz) und UFO-Forschern gemacht werden. SETI-Wissenschaftler beginnen mit der Nullhypothese, dass ETIs nicht existieren und dass sie konkrete Beweise liefern müssen, bevor sie die außergewöhnliche Behauptung aufstellen, dass wir nicht allein im Universum sind. UFOlogen beginnen mit der positiven Hypothese, dass ETIs existieren und uns besucht haben, und setzen dann fragwürdige Forschungstechniken ein, um diesen Glauben zu stützen, wie z.B. hypnotische Regression (Enthüllungen von Entführungserfahrungen), anekdotische Argumentation (zahllose Geschichten von UFO-Sichtungen), verschwörerisches Denken (Vertuschung von Alien-Begegnungen durch die Regierung), minderwertige visuelle Beweise (unscharfe Fotos und körnige Videos) und anomalistisches Denken (atmosphärische Anomalien und visuelle Fehlwahrnehmungen durch Augenzeugen).

8. Liefert der Behaupter eine Erklärung für die beobachteten Phänomene oder leugnet er lediglich die bestehende Erklärung?

Dies ist eine klassische Debattenstrategie: Kritisiere deinen Gegner und behaupte nie, was du glaubst, um Kritik zu vermeiden. Es ist nahezu unmöglich, Kreationisten dazu zu bringen, eine Erklärung für das Leben anzubieten (außer „Gott hat es getan"). Intelligent Designs (ID) Kreationisten sind dabei nicht besser. Sie hacken sie auf den Schwächen wissenschaftlicher Erklärungen für schwierige Probleme herum und bieten an deren Stelle „ID hat es getan“ an. Dieser Kniff ist in der Wissenschaft inakzeptabel.

9. Wenn der Behaupter eine neue Erklärung vorschlägt, erklärt sie dann so viele Phänomene wie die alte Erklärung?

Viele HIV/AIDS-Skeptiker argumentieren, dass der Lebensstil AIDS verursacht. Doch ihre alternative Theorie erklärt nicht annähernd so viele der Daten wie die HIV-Theorie. Um ihr Argument vorzubringen, müssen sie die vielfältigen Beweise ignorieren, die für HIV als kausalen Vektor bei AIDS sprechen, während sie die signifikante Korrelation zwischen dem Anstieg von AIDS bei Bluterinnen und Bluter kurz nachdem HIV versehentlich in die Blutversorgung eingebracht wurde, ignorieren.

10. Treiben die persönlichen Überzeugungen und Voreingenommenheit des Behaupters die Schlussfolgerungen voran oder umgekehrt?

Alle Wissenschaftler haben soziale, politische und ideologische Überzeugungen, die möglicherweise ihre Interpretationen der Daten verfälschen könnten, aber wie beeinflussen diese Vorurteile und Überzeugungen ihre Forschung in der Praxis? Normalerweise werden eine solche Voreingenommenheit und Überzeugungen während des Peer-Review-Systems ausgerottet, oder die Arbeit oder das Buch wird abgelehnt.

Natürlich gibt es keine narrensicheren Methoden, um Unsinn zu erkennen oder die Grenze zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft zu ziehen. Dennoch gibt es eine Lösung: Die Wissenschaft arbeitet mit unscharfen Anteilen von Gewissheiten und Ungewissheiten, wobei der Evolution und der Urknall-Kosmologie eine Wahrscheinlichkeit von 0,9 und dem Kreationismus und den UFOs eine Wahrscheinlichkeit von 0,1 zugewiesen werden kann, wahr zu sein. Dazwischen liegen Grenzfälle: Die Superstring-Theorie könnte man mit 0,7 bewerten und die Kryonik mit 0,2. In allen Fällen bleiben wir aufgeschlossen, flexibel und sind bereit, unsere Einschätzungen zu überdenken, wenn neue Beweise auftauchen. Das ist es, was die Wissenschaft für viele Menschen so flüchtig und frustrierend macht; es ist aber auch das, was die Wissenschaft zum wunderbarsten Produkt des menschlichen Geistes macht.

Übersetzung: Jörg Elbe

Video zum Artikel (optionale deutsche Untertitel).

Der US-amerikanische Psychologe und Wissenschaftsjournalist Dr. Michael Shermer ist Gründer der Skeptics Society, Herausgeber des Magazins SKEPTIC und Verfasser vieler grundlegender Werke rund um die Unterscheidung zwischen Glauben und Wissen. Er hat sich besonders als Kritiker des Kreationismus und der Holocaust-Leugnerszene einen Namen gemacht.

Im November 2018 erschien die deutsche Ausgabe von „The Moral Arc“: Der moralische Fortschritt im Alibri Verlag (gefördert von der Richard Dawkins Foundation Deutschland).

Sein aktuelles Buch Giving the Devil his Due - Reflections of a Scientific Humanist hat er im Juni 2020 in einem Livestream vorgestellt.

http://www.michaelshermer.com
http://www.skeptic.com

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