Die logischen Fehlschlüsse identitärer Ideologie

Identitätsdenken, von links wie von rechts, gefährdet die Individualität und verschleiert die wahren Ursachen sozialer Ungleichheit

Die logischen Fehlschlüsse identitärer Ideologie

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Fragen der Identität stehen immer häufiger im Fokus der politischen Debatte. Angetrieben wird dieser Trend von lautstarken Kommentaren seitens der rechten identitären Bewegung, als auch von Vertretern linker Identitätspolitik. Beide Lager, obwohl ideologisch scheinbar unvereinbar, basieren auf erstaunlich ähnlichen logischen Strukturen und Annahmen. Während die rechte Identitäre Bewegung kulturelle und ethnische Unterschiede betont, um Exklusion und Überlegenheit zu rechtfertigen, verfolgt die linke Identitätspolitik das Ziel der Inklusion und des Ausgleichs historischer Ungerechtigkeiten. Doch beide Denkschulen unterliegen grundlegenden logischen Fehlschlüssen, die nicht nur ihre eigenen Argumente schwächen, sondern auch das gesellschaftliche Miteinander gefährden. Dieser Artikel untersucht die ideologischen Ursprünge beider Strömungen, zeigt die Gemeinsamkeiten auf und legt schließlich dar, warum die Fokussierung auf identitäre Merkmale - unabhängig von der politischen Ausrichtung - zu irreführenden und oft gefährlichen Schlussfolgerungen führt. Ziel ist es, eine differenzierte Perspektive aufzuzeigen, die über den simplifizierenden Dualismus dieser Ideologien hinausgeht und das Individuum in den Mittelpunkt stellt.

Rechts-identitäres Denken und die Illusion des Ethnopluralismus

Rechts-identitäre Ideologie basiert auf der Vorstellung, dass ethnische und kulturelle Homogenität bewahrt werden muss, um die Identität einer Gruppe, eines Volkes oder einer Nation zu erhalten. Identität wird dabei nicht als dynamisches oder individuelles Konstrukt verstanden, sondern als kollektives Erbe, das von einer ethnischen Gruppe über Generationen hinweg weitergegeben wird und in ständiger Gefahr ist, durch äußere Einflüsse wie Migration, kulturelle Vermischung oder Globalisierung verwässert oder zerstört zu werden. Kurz gesagt, möchten Anhänger rechts-identitärer Ideen Menschen aufgrund bestimmter Merkmale aus der Gesellschaft ausschließen. Von der Rassenlehre des Nationalsozialismus hebt sich diese Ideologie mit einem Konzept ab, das von seinen Proponenten euphemistisch als „Ethnopluralismus“ bezeichnet wird. Im Gegensatz zur Rassenhierarchie der Nazis, strebt das identitäre Konzept also eine „Völkervielfalt“ an, in der verschiedene Kulturen und Ethnien als gleichwertig gelten, aber strikt voneinander getrennt leben. In der Praxis dient Ethnopluralismus oft als Vorwand, um diskriminierende und exkludierende Ideen zu rechtfertigen. Bei genauerem Hinsehen entpuppt er sich als kaum mehr als klassischer Rassismus mit Extraschritten, der vor allem bei Menschen beliebt ist, die Überlegenheitsgefühle aufgrund ihrer Herkunft oder Ethnie hegen.

Prominenteste Ausprägung dieser Ideologie ist die Identitäre Bewegung (IB), die in den frühen 2000er Jahren in Frankreich entstand und in den letzten 12 Jahren auch in Deutschland und Österreich Fuß gefasst hat. Die IB bedient sich immer wieder auffälliger, medienwirksamer Aktionen - z.B. ein Versuch, im Alleingang Flüchtende im Mittelmeer zu stoppen - und nutzt soziale Medien, um ihre Ideen zu verbreiten und vor allem junge Menschen zu mobilisieren. Hauptziel der Bewegung ist es, einen „Kulturkampf“ zu beschwören, der darauf abzielt, die öffentliche Meinung zu Themen wie Migration und Multikulturalismus zu beeinflussen. Manche Anhänger fallen auch durch Straftaten auf, darunter Körperverletzung und Nötigung. Die Bewegung wird seit 2016 vom Verfassungsschutz beobachtet und seit 2019 offiziell als rechtsextrem eingestuft.

Rechts-identitäre Ideologie ist jedoch nicht auf die Mitglieder der IB beschränkt. Mit wachsender Angst vor „Überfremdung“, der Verschwörungstheorie vom „Großen Austausch“ und schamvoll-populären Remigrationsfantasien, haben sich identitäre Ideen auch in der Mitte der Gesellschaft verbreitet. Die psychologischen Ursachen, die Menschen dafür öffnen, mögen gut verstanden sein - etwa Ängste, insbesondere die Angst vor dem Fremden; das Bedürfnis, sich mit etwas zu identifizieren, das größer ist als man selbst; Minderwertigkeitskomplexe in einer Ära, die großen Wert auf wirtschaftlichen Erfolg legt und zugleich von wachsender ökonomischer Unsicherheit geprägt ist. Doch beim Ethnopluralismus handelt es sich keinesfalls um einen wünschenswerten Lösungsansatz: Die strikte Trennung von „Völkern“ gemäß schwammiger Identitätsmerkmale wie Kultur, Ethnie und Religion sowie umstrittener geographischer Grenzen würde - das zeigt die Geschichte - eher in blutigen Territorialkonflikten und ethnischen Säuberungen münden als in einem utopischen Nebeneinander.

Mit humanistischen Werten und einer offenen, pluralistischen Gesellschaft ist rechts-identitäres Denken definitiv unvereinbar. Die Popularität solchen Gedankenguts sollte kritischen Geistern jedoch zu denken geben, da identitäre Ideologie auch die Gesetzgebung und das Handeln von Individuen beeinflusst und damit enorme Schäden anrichtet: Allein im letzten Jahr sind 3.155 Menschen beim Versuch, über das Mittelmeer in die „Festung Europa“ zu fliehen, ums Leben gekommen. Fremdenhass und die Zunahme von Angriffen gegen Ausländer sind auf dem Vormarsch und alarmierende Zeichen dafür, wie tief ideologische Konzepte in die Gesellschaft eindringen und welch verheerende Auswirkungen das haben kann.

Die Widersprüche und Gefahren linker Identitätspolitik

Die Identitätspolitik der Linken ist in den sozialen Bewegungen der 1960er Jahre und der sogenannten „kritischen Theorie“ (Critical Theory) verwurzelt. Sie basiert auf der Idee, dass die Identität marginalisierter Gruppen - sei es aufgrund von Rasse, Geschlecht, Sexualität oder anderer Merkmale - den Schlüssel zur politischen Mobilisierung und sozialen Gerechtigkeit darstellt. Akademische Arbeiten der Critical Theory und ihrer Teilbereiche zielen darauf ab, Machtstrukturen zu analysieren und soziale Ungerechtigkeit zu dekonstruieren, wobei Identität als kollektives Konstrukt verstanden wird, das auf gemeinsamen Erfahrungen von Diskriminierung und Unterdrückung basiert. Neben dem Geschlecht wird der Hautfarbe dabei das größte Gewicht als identitätsbestimmendes Merkmal beigemessen.

Identitätspolitik ist der Versuch, die Ideologie der Critical Theory in der Gesetzgebung zu verankern. Während das Ziel dabei grundsätzlich lobenswert sein - die Förderung von Inklusion und Gleichberechtigung für marginalisierte Gruppen - bringt dieser Ansatz erhebliche logische und praktische Probleme mit sich. In ihrer Praxis führt Identitätspolitik oft zu einer übermäßigen Fokussierung auf Gruppenzugehörigkeit und Identitätsmerkmale, was neuen Formen der Exklusion und Polarisierung verursacht. Theorien, die beispielsweise pauschal behaupten, dass alle weißen Menschen Rassisten seien, neigen dazu, komplexe soziale Realitäten zu vereinfachen und Stereotypen zu verfestigen. Diese Simplifizierungen führen nicht zu einem konstruktiven Dialog, sondern verstärken gesellschaftliche Spannungen. Zudem ist es offensichtlich, dass Aussagen wie „alle Menschen mit [Hautfarbe A] sind [B]“ einer zutiefst rassistischen Logik folgen - nichtsdestotrotz werden solche Ideen von vermeintlich antirassistischen Vertretern der Critical Theory entwickelt und verbreitet. Weist man auf den logischen Fehlschluss hin, wird man häufig mit einem falschen Dilemma präsentiert, das behauptet, dass es nur zwei mögliche Ansichten zu diesem Thema gibt: „Entweder unterstützt man die Identitätspolitik oder man leugnet Rassismus.“ Tatsächlich gibt es viele differenzierte Positionen, die sowohl die Existenz von Rassismus anerkennen als auch Kritik an bestimmten Aspekten der Identitätspolitik üben. Diese Reduktion auf nur zwei Positionen fördert eine Polarisierung und verhindert einen konstruktiven Diskurs, der die Komplexität sozialer Phänomene berücksichtigt.

Ein weiteres problematisches Element der Identitätspolitik ist das Konzept der kulturellen Aneignung. Ursprünglich als Kritik an der Ausbeutung von Minderheitskulturen gedacht, wird der Begriff zunehmend als Werkzeug genutzt, um kulturelle Interaktionen zu regulieren - sprich, „Cancel Culture“ zu betreiben, die als linker Gegenpol zu den rechten Kulturkampf-Fantasien fungiert. In der Praxis führt kulturelle Aneignung zu einer paradoxen Situation, in der interkultureller Austausch, der historisch gesehen eine Quelle von Innovation und gegenseitigem Verständnis war, als problematisch und unterdrückerisch dargestellt wird. Kritiker argumentieren, dass diese Sichtweise bestehende Grenzen verfestigt und den natürlichen, dynamischen Charakter von Kultur untergräbt. Zudem ist es fragwürdig, ob alle Menschen, die bestimmte identitätsmerkmale einer vom Kolonialismus betroffenen Kultur teilen, eine lebenslange, generationenübergreifende Opferrolle anstreben. Die Logik der kulturellen Aneignung führt rasch ins Absurde: genau genommen wäre jemand, der den Satz des Pythagoras anwendet, ohne griechischer Herkunft zu sein, ein Rassist. Ein Ende von interkulturellem Austausch würde zu kultureller Stagnation führen, da Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder Hautfarbe von bestimmtem Wissen und Praktiken ausgeschlossen sein würden. Mit dem Streben nach universeller Wahrheit, das wissenschaftliche Forschung und kritische Geister zumeist bewegt, ist solches Denken somit klar unvereinbar.

Die fehlerhafte Logik im theoretischen Fundament der Identitätspolitik macht sich auch in der Praxis bemerkbar. Beispiele dafür, dass gut gemeinte identitätspolitische Gesetze oft unbeabsichtigte negative Konsequenzen haben, finden sich in meiner Heimat Spanien: So hat das Transgender-Gesetz, das eine unkomplizierte Änderung des amtlichen Geschlechts ermöglicht, dazu geführt, dass zahlreiche Gewalttäter ein Betretungsverbot und eine rechtliche Verfolgung aufgrund geschlechtsspezifischer Gewalt abwenden konnten, indem sie sich als Transfrauen registrieren ließen. Schon zuvor hatte das „Nur Ja heißt Ja“-Gesetz, das eigentlich Vergewaltigungsopfer schützen sollte, in der Praxis zu einer frühzeitigen Entlassung von hunderten Vergewaltigern geführt. Die rechtliche Definition von Vergewaltigung wurde so weit gefasst, dass auch das Strafmaß reduziert werden musste.

So gut ihre Ziele auch gemeint sein mögen, birgt Identitätspolitik das Risiko, die gesellschaftliche Spaltung zu vertiefen und neue Formen der Ungerechtigkeit zu schaffen. Die Fokussierung auf Gruppenidentitäten anhand von Merkmalen wie Ethnie, Geschlecht oder sexueller Orientierung kann zu einer sozialen Fragmentierung führen, da sie Menschen in starre Kategorien einteilt und dadurch das Potenzial für Solidarität und gemeinschaftliche Ziele schwächt. Statt eine inklusive Gesellschaft zu fördern, riskiert Identitätspolitik also, neue Ausschlüsse zu schaffen, indem sie äußere Unterschiede überbetont und den universellen Anspruch auf gleiche Rechte und Chancen untergräbt. In einer pluralistischen und offenen Gesellschaft sollte der Fokus auf universellen Rechten und individuellen Freiheiten liegen, statt auf der Sortierung von Menschen gemäß starrer Identitätskategorien.

Was linkes und rechtes Identitätsdenken gemeinsam haben

Obwohl linke Identitätspolitik und rechts-identitäre Ideologie auf den ersten Blick gegensätzliche Ziele verfolgen, teilen sie grundlegende ideologische Gemeinsamkeiten. Beide Bewegungen bewerten Individuen anhand von Identitätsmerkmalen wie Herkunft und Ethnie und stellen diese Merkmale über das Individuum. Linke Identitätspolitik betont beispielsweise die Zugehörigkeit zu unterdrückten Gruppen als zentralen Faktor für die eigene Identität und die daraus resultierenden sozialen Ansprüche. Rechte Identitäre hingegen propagieren die Überlegenheit oder Schutzwürdigkeit der eigenen ethnischen Gruppe und lehnen kulturelle Vermischung strikt ab. In beiden Fällen werden Stereotype verwendet, um komplexe soziale und individuelle Realitäten zu vereinfachen, was zu Generalisierungen und Vorurteilen führt.

Das eigentliche Problem im identitären Denken liegt darin, dass es Menschen auf wenige Merkmale reduziert und die Vielfalt und Komplexität des Individuums vernachlässigt. Selbst wenn es statistisch messbare Unterschiede zwischen Gruppen mit bestimmten inhärenten Merkmalen gibt - etwa, dass Männer im Durchschnitt aggressiver sind als Frauen, oder dass Armut unter schwarzen Menschen in den USA weiter verbreitet ist, als unter weißen Menschen - lassen sich daraus keine verallgemeinernden Rückschlüsse über alle Individuen dieser Gruppen ableiten. Aussagen wie „alle Männer sind aggressiv“, „alle schwarzen Menschen sind arm“ oder „alle weißen Menschen sind privilegiert“ sind offensichtliche Trugschlüsse, die sich empirisch widerlegen lassen. Zudem können sich Menschen über unzählige Merkmale definieren - Beruf, Interessen, Hobbies, Freundeskreis, politische Ansichten, Literatur-, Musik-, Kaffee-Präferenzen, um nur einige zu nennen. Diese Merkmale sind oft dynamisch und ändern sich im Laufe des Lebens. Inhärente Merkmale wie Herkunft, Ethnie, Geschlecht, Sehkraft oder Körpergröße, die sich nicht einfach ändern lassen, erlauben keine Rückschlüsse auf Persönlichkeit oder Charakter. Es ist daher irrational, Menschen anhand dieser Merkmale zu bewerten. Analog dazu ist es kein Indikator für Intelligenz oder moralische Überlegenheit, Stolz auf die eigene Rasse oder die sexuelle Orientierung zu sein. Identitäre Ideologie, ob von links oder rechts, ignoriert die Tatsache, dass es falsch ist, Menschen auf solche Identitätsmerkmale zu reduzieren - selbst im Namen scheinbar nobler Ziele. Die Überbetonung der Gruppenidentität führt zu einer Verengung des Blicks auf die Komplexität des menschlichen Seins und fördert letztlich eine gesellschaftliche Spaltung. Sowohl linke als auch rechte Identitätsideologie verfolgt das Ziel, die individuelle Freiheit und die universellen Menschenrechte dem Kollektivismus unterzuordnen, was langfristig zu neuen Formen der Diskriminierung führt und fruchtbaren Boden für die Entstehung totalitärer Systeme bietet.

Warum sprechen wir so wenig über ökonomische Ungleichheit?

Während sich linke und rechte Proponenten identitärer Ideologie vornehmlich auf äußerliche und kulturelle Identitätsmerkmalen fokussieren, bleibt aus rein praktischer Sicht eine fundamentale Wahrheit bestehen: Arme Menschen sind am wenigsten privilegiert. Die größte und realste Form der Ungerechtigkeit ist es, in Armut zu leben, und diese Ungerechtigkeit wird durch die ungezügelte Akkumulation und Konzentration von Wohlstand aufrechterhalten. Dies ist meines Erachtens der entscheidende Faktor, der soziale Unterschiede schafft und verstärkt - nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Identitätsgruppe. Vermutlich erkennt auch die IB diese grundlegende Wahrheit und lenkt deshalb bewusst den Fokus auf sogenannte „Kulturkämpfe“. Indem sie Debatten über Rasse, Geschlecht und Sexualität anheizt, trägt sie möglicherweise dazu bei, dass die politische Linke von ihrem traditionellen Thema - den ökonomischen Unterschieden - abgelenkt wird. Die Konzentration auf identitäre Fragen schwächt die linke Bewegung, weil sie das eigentliche Fundament der sozialen Ungleichheit, nämlich die ökonomischen Bedingungen, aus den Augen verliert.

Ein anschauliches Beispiel für die Bedeutung von Wohlstandsunterschieden im Vergleich zu visuellen Identitätsmerkmalen zeigt sich in der Betrachtung der Top-Verdiener in den USA. Auf der Liste der höchstbezahlten US-Stars sind schwarze Menschen überproportional vertreten - aktuell sind Kylie Jenner und Howard Stern die einzigen beiden Weißen in den Top-6. Dies erweckt den Anschein, dass die Hautfarbe kaum noch einen Einfluss auf die ökonomischen Chancen einer Person hat. Doch ein Blick auf die Forbes-Liste der wohlhabendsten Amerikaner offenbart ein ganz anderes Bild: unter dem 100 reichsten Amerikanern gibt es nur eine einzige schwarze Person - der Investor Robert F. Smith, der aktuell Position 89 belegt. Man könnte argumentieren, dass diese überwältigende Präsenz von Weißen unter den Reichsten ein Indiz für fortbestehenden strukturellen Rassismus ist. Doch was Kanye West und andere Schwarze Top-Verdiener wirklich von den Menschen auf der Liste der vermögendsten Amerikaner unterscheidet, ist nicht die Farbe der Haut oder die fehlende Chance auf ein hohes Einkommen, sondern der nicht-vorhandene Zugang zu Kapital, das über viele Generationen angehäuft wurde. Es scheint also, dass generationenübergreifender Besitz und die Kontrolle von Vermögen heute ein stärker trennender Faktor in unserer Gesellschaft sind als die Hautfarbe. Anstatt über Identitätskategorien wie Rasse oder Geschlecht zu debattieren, sollten wir also vielleicht vielmehr über die Kategorien „Besitzlose und Besitzende“, „Schuldner und Gläubiger“, „Mieter und Vermieter“, „Arme und Reiche“ sprechen. Im Bereich der identitären Politik, ob links oder rechts, hat sich die politische Debatte jedoch von ökonomischen Metriken entfernt und konzentriert sich stattdessen vollends auf visuelle und kulturelle Identitätsmerkmale. Diese Verschiebung lenkt von den wirklichen Ursachen der Ungleichheit ab und führt dazu, dass die strukturellen Probleme, die durch die uneingeschränkte Konzentration von Wohlstand entstehen, weitgehend unbeachtet bleiben.

Die kleinste Minderheit

Am Ende des Tages ist das Individuum die kleinste und wichtigste Minderheit, weshalb humanistische Prinzipien großen Wert auf den Schutz der individuellen Rechte und Freiheiten legen. In diesem Sinne müssen wir uns stets daran erinnern, dass es immer ein Vorurteil ist, jemanden allein aufgrund äußerlicher Merkmale wie Hautfarbe, Geschlecht oder ethnischer Herkunft zu beurteilen. Jeder Mensch trägt seine eigenen Lasten, und ererbte visuelle Merkmale sind kein verlässlicher Indikator dafür, wie schwer jemandes Lebensweg war oder wie privilegiert er oder sie tatsächlich ist.

Das bedeutet nicht, dass Sexismus, Rassismus, Transphobie und andere Formen der Diskriminierung keine realen Probleme darstellen, die Aufmerksamkeit erfordern. Aber die Praxis, Menschen pauschal als „privilegiert“ zu bezeichnen, ohne ihre individuellen Erfahrungen und Herausforderungen zu berücksichtigen, ist keine Lösung. Im Gegenteil: Wenn identitäre Linke Menschen aufgrund oberflächlicher Merkmale in Kategorien einteilen und sie als privilegiert anprangern, riskieren sie, potenzielle Verbündete zu entfremden und ihrer eigenen Sache zu schaden.

Die wirkliche Herausforderung besteht darin, eine Gesellschaft zu schaffen, in der das Individuum als einzigartige Person anerkannt wird, nicht als Vertreter einer bestimmten Identitätsgruppe. Nur durch die Anerkennung und den Schutz der individuellen Rechte können wir eine gerechte und inklusive Gesellschaft aufbauen, in der alle Menschen - unabhängig von ihren äußeren Merkmalen - die gleichen Chancen und Freiheiten genießen.

Johannes C. Zeller studierte Linguistik und Medienwissenschaft an der Karl-Franzens-Universität Graz. Als erfahrener Journalist übt er sich gerne in kritischem Denken und bietet Einblicke in den Mediendiskurs - zum Beispiel in seinem Blog auf icallbs.substack.com.

Kommentare

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    Andreas Edmüller

    Der Aufklärung verdanken wir die Einsicht, dass die zentrale normative Einheit in Moral und Gerechtigkeit die Person ist: Die klassischen Individual- und Freiheitsrechte sollen sie auch und gerade vor den Ansprüchen diverser Gemeinschaften (Volk, Nation, Rasse, Klasse, Glaubensgemeinschaft ...) schützen. Diesen Gedanken hat seit einiger Zeit die (identitäre) Linke aufgegeben und die inhaltliche Schnittmenge mit dem Rechtsextremismus damit noch weiter vergrößert.

    Herr Zeller arbeitet das sehr klar und deutlich heraus. Zur Abrundung und Veranschaulichung ein Zitat aus dem Zentrum der Critical Race Theory:

    Virtually all of Critical Race Theory is marked by deep discontent with liberalism, a system of civil rights litigation and activism characterized by incrementalism, faith in the legal system, and hope for progress, among other things. Indeed, virtually every essay in this book can be seen as an effort to go beyond the legacy of mainstream civil rights thought to something better. (Delgado & Stefancic: Critical Race Theory: The Cutting Edge. Philadelphia, 2013, S.7).

    Seit Jahrzehnten und bis heute versteckt sich hinter einer ideologisch-verbalen Nebelwand, was dieses "something better" genau sein soll.

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