Die offene Gesellschaft und ihre Feinde

„The Open Society and Its Enemies“ ist ein 1945 erschienenes Buch des Philosophen Karl Popper.

Die offene Gesellschaft und ihre Feinde

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In ihm kritisiert Popper die Philosophien von Platon, Hegel und Marx, die seiner Ansicht nach totalitäre Systeme wie den Faschismus, den Nationalsozialismus und den Kommunismus theoretisch mitbegründet und praktisch befördert haben. Insbesondere deren Lehre von einer Gesetzmäßigkeit der Geschichte (Historizismus) steht im Zentrum seiner Kritik. Als positives Gegenbild zu diesen „geschlossenen Gesellschaften“, die am Reisbrett geplant wurden, entwirft er das gesellschaftstheoretische Konzept einer „offenen Gesellschaft“. Offene Gesellschaften bestehen aus willensfreien Individuen, die den Lauf der eigenen Geschichte in einem pluralistischen und fortwährenden Prozess vonVerbesserungsversuchen und Irrtumskorrekturen selbst bestimmen können.

Institutionen und Gesetze sind zwar unumgänglich, müssen sich in Offenen Gesellschaften aber einer ständigen Kritik stellen und immer veränderbar bleiben. Um eine solche Kritik und damit gesellschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen, ist ein intellektueller Austausch und damit die Gewährleistung der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sowie einer strikten weltanschaulichen Neutralität unerlässlich (offener Diskurs). Der Nationalstaat ist in einer Offenen Gesellschaft lediglich ein momentanes Übel, das langfristig überwunden werden kann. Er soll eine ausreichende Grundversorgung sichern, vor allem aber eineegalitäre Gesellschaftsstruktur ohne die Herrschaft von „Eliten“ ermöglichen. Popper schlägt als Maxime statt der Maximierung des Glücks die bescheidenere Minimierung des Leidens vor (negativer Utilitarismus).

Die beste Staatsform ist nach Popper die Demokratie, die Popper jedoch neu definiert als eine Herrschaftsform, in der es möglich ist, die Regierung gewaltfrei abzuwählen. Dies, und nicht etwa die Behauptung, dass die Mehrheit Recht habe, sei der größte Vorzug der Demokratie. Der offenen Gesellschaft steht einerseits die Laissez-Faire-Gesellschaft gegenüber, andererseits die totalitären, am holistisch-kollektivistischen Denken ausgerichteten „geschlossene Gesellschaften“, die Popper auch ironisch den „Himmel auf Erden“ nennt, weil sie als solcher propagiert werden.

Poppers Buch ist geprägt von seinen persönlichen Negativerfahrungen mit den beiden großen totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts Faschismus und Kommunismus, die er in einen historischen Zusammenhang stellt. Popper war 1937 vor den Nazis nach Neuseeland geflohen, wo er unter großen Entbehrungen das Buch schrieb. Es ging ihm aber nicht nur um den praktischen Kampf gegen den Totalitarismus, sondern auch um die theoretische Implementierung seiner kritisch-rationalistischen Methode in ein sozialwissenschaftliches Konzept (siehe: kritischer Rationalismus). Popper zeigt auf, „dass sich diese Zivilisation noch immer nicht von ihrem Geburtstrauma erholt hat“ – gemeint ist der Übergang von der Stammesgesellschaft mit ihrem magischen Denken zu einer offenen Gesellschaft, deren bestimmendes Merkmal es ist, „die kritischen Fähigkeiten des Menschen“ freizusetzen.

Die offene Gesellschaft und ihre Feinde ist ein groß angelegtes Werk, das in zwei Teilen erschienen ist und in alle Weltsprachen übersetzt wurde (laut Popper leider schlecht ins Deutsche). Indem Popper die geistigen Wurzeln totalitären Denkens in der Antike verordnet, vor allem bei Platon, schlägt er einen kühnen Bogen und vielen Platonliebhabern vors Gesicht. Popper brilliert dabei mit einer profunden Kenntnis antiker Quellen, sein klarer, weitgehend emotionsloser und stringenter Stil erinnert an das typisch britische Understatement. Der erste Band ist primär Platon gewidmet, daneben Heraklit, Sokrates und Aristoteles. Im zweiten Band geht es um die Hegel und Marx, dessen wissenschaftlichen Anspruch er aufgrund einer fehlenden Falsifizierbarkeit ihrer Dialektikenbezweifelt.

Der Begriff der offenen Gesellschaft ist in die politische Sprache eingegangen und prägt das Selbstverständnis vieler moderner Demokratien.

1. Der Historizismus

Der geschichtsphilosophische Historizismus geht davon aus, dass durch Aufdeckung eines gesetzmäßigen Ablaufs der geschichtlichen Entwicklung die Zukunft vorausgesagt werden kann; in diesem Determinismus liegt laut Popper das „Elend des Historizismus“. Diese Geisteshaltung sei eine der wichtigsten Ursachen für die Entstehung und den Fortbestand totalitärer Ideen. Sie sieht das Individuum als eine unwichtige Figur inmitten wirkungsmächtigerer Kräfte begriffen. Man kann das Geschehen beobachten und ihm Gesetzmäßigkeiten entnehmen, aus denen man wiederum Schlüsse für die Zukunft ziehen kann. Das Individuum selbst kann aber nicht in die wesentlichen Geschehnisse eingreifen, dieses wird sowohl im absoluten Idealismus (Hegel) als auch im historischen Materialismus (Marx) von höheren Mächten wie dem Weltgeist oder den Produktionsverhältnissen und der herrschenden Klasse bestimmt.

Die Ansichten von der Ohnmacht des Einzelnen und des Vorherbestimmtheit der Geschichte sind untrennbar miteinander verbunden. Sie führen laut Popper nicht nur zu gesellschaftlichem Schaden, sondern auch zu dürftigen wissenschaftlichen Ergebnissen: „Wenn aber der Historizismus eine unbrauchbare Methode darstellt und wertlose Resultate hervorbringt, dann mag es nützlich sein, seiner Entstehung nachzugehen und zu untersuchen, wie es möglich war, dass er sich so erfolgreich festsetzen konnte.“ (Bd. I, S. 12 f.)

Die Wurzeln des Historizismus liegen am Übergang der archaischen Stammesgesellschaft zur abendländischen Zivilisation – in der klassischen Antike. Stammesgesellschaften sind, wie sich das heute noch bei eingeborenen Völkern beobachten lässt, bestimmt vom magischen Denken. Sowohl die Natur als auch die sozialen Gebräuche werden von festen Regeln und wiederkehrenden Gesetzmäßigkeiten dominiert. In der Natur sind dies das Walten der Elemente, Tageslauf, Jahreszeiten und andere zyklische Erscheinungen, im sozialen Leben die Rituale mit ihren festen Abläufen. Zwischen den Phänomenen des sozialen Lebens und denen der Natur wird nicht grundsätzlich unterschieden; beides wird als Ausdruck eines übermächtigen Willens wahrgenommen. Eine solche Gesellschaft nennt man geschlossen, wohingegen eine offene Gesellschaft sich dadurch auszeichnet, dass sich jedes Individuum persönlichen Entscheidungen stellen muss und dass es versuchen wird, die bestehenden sozialen Schranken zu durchbrechen und die gesellschaftlichen Verhältnisse immer wieder aufs Neue anzupassen und zu verbessern.

2. Platon

Ein Philosoph, der die Vorstellungen, die hier untersucht werden sollen, mitbegründet und eineinhalb Jahrtausende lang dominiert hat, war Platon. Platon wuchs im antiken Griechenland inmitten jahrzehntelanger Bürgerkriege und tiefer politischer Umwälzungen auf. Zwei seiner Onkel gehörten der tyrannischen Herrschaft der Dreißig an und wurden beim Kampf um die Einführung der Demokratie ermordet. Doch auch die daraufhin folgende attische Demokratie brachte der Gesellschaft keinen dauerhaften Frieden ein, was auch daran erkennbar ist, dass Platons Lehrer Sokrates während dieser Ära zum Tode verurteilt wurde. Auch Platon selbst sah sich von Zensur und Gefängnis bedroht. Vor diesen Hintergrund ist seine politische Weltsicht zu sehen, die gesellschaftliche Veränderungen nur als Verschlechterung der bestehenden Verhältnisse werten kann. Veränderung wird stets als Chaos empfunden, als Zerstörung, diese Sicht macht erst das Weltbild verständlich, das Platon in seiner Philosophie zu Ausdruck brachte (siehe: Platonismus). Auch Platons Ablehnung der Demokratie war sicherlich von seinen Lebenserfahrungen mitbeeinflusst (siehe: Platons Demokratiekritik).

Um Platons Sicht auf Gesellschaft, Staat und Politik jedoch ganz verstehen zu können, muss auch seine Philosophie - die Ideenlehre - hinzugezogen werden. Diese beruht auf dem Gedanken, dass alle Dinge, die wir beobachten, sei es eine Pflanze oder ein Stuhl, ein Haus oder ein Kreis, nur Abbilder der ursprünglichen Ideen dieser Dings sind. Diese, die allein gültige Form, existiert in einem nicht sinnlich wahrnehmbaren metaphysischen Bereich der Realität und sind von daher unsichtbar und unerreichbar; jede erfahre Ausprägung der tatsächlichen Form unterscheidet sich von ihr in einem gewissen Maß. Die Ideen, nicht die bekannten Objekte der Sinneserfahrungen, stellen die eigentliche Wirklichkeit dar. Sie sind vollkommen und unveränderlich. Als Urbilder – maßgebliche Muster – der einzelnen vergänglichen Sinnesobjekte sind sie die Voraussetzung von deren Existenz.

Bezogen auf den Staat bedeutet das, dass auch jeder tatsächlich existierende Staat von dem tatsächlichen Staat mehr oder weniger weit entfernt ist. Und da der ideale Staat sich dadurch auszeichnet, dass in ihm keine Veränderung stattfindet, kann sich ein real existierender Staat durch jede Form von Veränderung nur vom Ideal entfernen. Platon war ein Propagandist derVerfallstheorie der Gesellschaft, nach der die Gesellschaft sich ursprünglich in einem „guten“ (geschlossenen) Naturzustand befunden habe und jede Öffnung, Liberalisierung und Emanzipation bzw. kritische Infragestellung von Traditionen Zeichen von Dekadenz, Degeneration und Verfall seien. Dieser Lehre Platons sei in Folge ein wichtiger Bestandteil der Propaganda vieler Diktaturen und autoritär-konservatistischer Ideologien geworden.

Veränderung ist in Platons Leben und Philosophie immer negativ konnotiert gewesen. Daher rührt auch Platons Ideal eines starren, autoritären Staates (Aristokratie, Popper: „die Lehre der Eliten“), dem er einen demokratischen und ständig im Wechsel begriffenen Staat vorzieht. Damit habe er auch Verrat an seinem Lehrer Sokrates begangen, der, wie Popper darlegen will, in Platons „idealem Staat“ als Aufrührer hingerichtet worden wäre. Platons Ablehnung der attischen Demokratie und seine Bevorzugung eines autoritären Regimes sogenannter „Philosophenkönige“, die nichts mehr mit dem sokratischen Philosophen zu tun haben und explizit Lügenpropaganda verwenden dürfen, versucht Popper mit vielen Textstellen zu belegen. Platon sei damit der erste und wichtigste Theoretiker einer geschlossenen Gesellschaft gewesen, in der es keine gewaltlose Veränderung geben kann und Eliten diktatorisch herrschen. Popper sah in Platon „den ersten großen politischen Ideologen, der in Klassen und Rassen dachte und Konzentrationslager vorschlug.“

Ähnliche, aber weniger umfangreiche Kritik übt Popper an Aristoteles. Er gesteht zu, dass Platon und Aristoteles ein großes philosophisches Werk mit für ihre Zeit originellen und bedeutenden Gedanken geleistet hätten und für die abendländische Philosophie und Wissenschaft von überragender Bedeutung gewesen seien. Aber „große Philosophen begehen große Fehler“, und es sei notwendig, die totalitären und antihumanitären Tendenzen in ihren Werken zu identifizieren und zu kritisieren.

3. Hegel

Der zweite Teilband des Werkes gilt der Kritik der „orakelnden Philosophen“ des 19. Jahrhunderts, insbesondere Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Karl Marx. In Hegel sieht Popper ebenso wie in den anderen Vertretern des DeutschenIdealismus in erster Linie einen Scharlatan und Betrüger, in zweiter Linie einen reaktionären Apologeten der preußischen Staatsmacht, dessen Philosophie ebenfalls totalitäre Systeme begünstigt habe. Den Vorwurf der Scharlatanerie erhebt Popper dabei v. a. mit Hinweis auf die dialektischen Methoden der Hegelschen Philosophie. Diese seien, soweit sie überhaupt verständlich seien, allein postuliert, um die Regeln der Logik auszuhebeln und besonders das autoritäre Preußen als höchste Verwirklichung der Freiheit glorifizieren zu können. Hegel sei ein offizieller Staatsphilosoph gewesen, der mit seinem Rechts- undMachtpositivismus („Was wirklich ist, ist vernünftig“) die bestehende Staatsmacht hofiert habe. Ein größerer Teil der Hegelschen Schriften sei – so Popper – zudem absichtlich unverständlich formuliert, um Kritik unmöglich zu machen. Mit diesem Versuch, durch unverständliche Sprache tatsächlich fehlende inhaltliche Substanz vorzutäuschen, habe Hegel in der Philosophiegeschichte eine neue Epoche eingeleitet, die nicht auf Gedankenaustausch und Argumentation, sondern auf Beeindruckung und Einschüchterung ausgerichtet gewesen sei.

Später hätten sich auch Adorno und Habermas des Obskurantismus schuldig gemacht. Um das zu verdeutlichen, übersetzte er prägnante Teile von Texten, die Adorno und Habermas im Rahmen des Positivismusstreits verfasst hatten, in eine allgemeinverständliche Sprache. Nach Poppers Meinung seien diese nicht nur nicht unter dem Aspekt der leichten Versteh- und Kritisierbarkeit geschrieben worden, sondern möglicherweise sogar mit genau gegenteiliger Intention: Große Worte könnten, so Popper, auch dazu dienen, intellektuell bescheidene Inhalte so unverständlich zu formulieren, dass eine Kritik bewusst erschwert oder verhindert werde (siehe auch: Kritikimmunisierung). Hegels ‚Jargon‘ habe hiermit zunächst intellektuelle und dann auch moralische Verantwortungslosigkeit nach sich gezogen.

Popper versucht auch Verbindungen des Hegelianismus zu politischen Entwürfen wie dem Zentralismus, dem Etatismus, dem Nationalismus und dem Faschismusaufzuzeigen. Die geistesgeschichtlichen Wurzeln des letzteren sieht er vor allem in einer Kombination hegelianischer Geschichtsphilosophie mit den neomalthusischen Biologismen des späten 19. Jahrhunderts, insbesondere denenErnst Haeckels. Popper bringt das philosophische Fundament der faschistischen Ideologien des 20. Jahrhunderts auf die Formel „Hegel plus Haeckel“.

Obwohl persönlich befreundet mit Konrad Lorenz, übte Popper später auch scharfe Kritik an zeitgenössischen gesellschaftstheoretischen Biologismen, insbesondere im Kontext der neueren Soziobiologie. In dieser erscheine im Grunde lediglich der alte Sozialdarwinismus im modernen Gewand.

Doch das Hauptziel von Poppers Kritik bleibt der Historizismus und seine geistesgeschichtlichen Hauptvertreter. In der Neuzeit habe niemand den Historizismus stärker gefördert und die Ideen Platons effektiver verbreitet als G.W.F. Hegel. Hegels Philosophie sei in großen Teilen sogar nur eine Wiederverwertung der schädlichen Gedanken Platons, z.T. in zeitgemäßer Form. Folgende totalitäre Elemente erkennt Popper bei Hegel und folglich auch bei Platon wieder: (1) Nationalismus: Der Einzelne verwirklicht sich nicht in sich selbst, sondern nur in seiner Eigenschaft als Mitglied der Nation. Diese ist die höchste geistige Idee. (2) Der Staat als Einheit: Als wichtigste Einheit definiert sich der Staat vor allem durch Abgrenzung zu den anderen Staaten. Er hat sie deshalb zum Feind und muss sich immer wieder durch Kriege behaupten. (3)Krieg als sittliches Prinzip: Weil der Daseinszweck des Staates eng mit dem Krieg verknüpft ist, wird der (meist totale) Krieg als sittliches Ideal propagiert. Der im Krieg erworbene Ruhm stellt das höchste Glück dar. (4) Heroismus: Da der Staat sich ständig im Krieg beweisen muss, kommt er keinen nennenswerten sittlichen Pflichten nach; ebenso wenig der Einzelne, der im Dienst des Staates steht. Das heroische Leben gilt als Ideal, im Gegensatz zur Langweiligkeit des kleinen Bürgers. (5) Erfolg als Richtschnur: Weil weder der Staat noch die in seinem Sinn Handelnden sittliche Maßstäbe befolgen, gilt der nackte Erfolg als oberste Richtschnur allen Handelns. (6) Führerprinzip: Staatsmännische Tugenden wie Charakterstärke, Weisheit und Leidenschaft werden allein auf den Führer des Staates projiziert.

4. Marx

Der im zweiten Teilband der Offenen Gesellschaft ebenfalls ausführlich kritisierteKarl Marx kommt etwas besser weg. Ihm zugute hält Popper ein ehrliches Mitgefühl mit den Leiden der sozial Schwachen und echtes Interesse an einer Verbesserung bzw. Humanisierung der Welt (in einer später (1965) hinzugefügten Anmerkung relativierte er diese Meinung allerdings unter Verweis auf Leopold Schwarzschilds Buch „Der rote Preuße“: Marx sei offenbar „weit weniger menschlich und freiheitsliebend gewesen“, als er angenommen habe). Popper bezeichnet Marx zudem als bedeutenden Ökonomen und Soziologen und räumt ein, dass Marx nicht ausgeschlossen habe, dass der Weg zum Kommunismusauch auf nicht-revolutionäre Weise erreichbar sei. Auch grenzt er ihn scharf von späteren vulgärmarxistischen Verflachungen, die meist mit „naiven“ intentionalistischen Verschwörungstheorien verbunden waren, ab.

Vehement kritisiert Popper jedoch Marx’ von Hegel übernommene dialektische Methode sowie sein deterministisches Geschichtsbild, was letztlich ebenfalls zu einem geschlossenen Weltbild führe. Der Marxismus sei die reinste, am weitesten entwickelte und gefährlichste Form des Historizismus. Marx großer Fehler sei es gewesen, die wissenschaftliche Bedeutung des Determinismus zu überschätzen. Er meint, auf den Kapitalismus folge zwangsläufig ein Übergangsstadium (nicht zwangsläufig eine Revolution) und darauf derKommunismus.

Dieses Denken ist einerseits auf Platon zurückzuführen, anderseits aber auch auf die zu Marx’ Lebzeiten vorherrschende klassische Physik und industrielle Mechanik. So ist es zu erklären, dass Marx eine derart deterministisch-mechanistische Sicht auf die Geschichte entwickeln konnte. Heute hingegen erweist sich die Haltung, dass Wissenschaftlichkeit notwendigerweise mit Determinismus einhergehe, als Aberglaube – wie die Erkenntnisse aus der Quantentheorie bewiesen haben (siehe z.B. die Aufsätze Heisenbergsche Unschärferelation, Indeterminismus).

Nicht nur die modernen Wissenschaften, auch die jüngste Geschichte habe gezeigt, dass sich Marx mit seinem Determinismus grundsätzlich geirrt hat und seine konkreten Voraussagen fast nie eingetreten sind. Ein Beispiel: die Annahme der ständig zunehmenden Ausbeutung, die irgendwann zur Revolution führt. Weder das eine noch das andere ist eingetroffen. Im Gegenteil, die seit der Frühzeit des Kapitalismus sinkende Arbeitszeit sowie die verbesserten Arbeitsverhältnisse verdanken sich zum großen Teil der gestiegenen Produktivität – die doch Marx’ Theorie zufolge zu immer stärkerer Ausbeutung führen müsste.

In den letzten Jahrzehnten hat die Marktwirtschaft den Hunger in der chinesischen Unterschicht ausgelöscht, der u.a. durch den Kommunismus zu einem riesigen sozialen Problem geworden war. Der Grund für den Hunger unter Mao Zedong war sicher auch eine Ohnmacht der Politik, jedoch eine ganz andere, als Marx sie beschrieben hat. Da Marx’ Hauptanliegen theoretischer Natur waren und er nahezu keinerlei praktische Anleitung zur Umsetzung gegeben hatte, mussten sich die Führer der Russischen Revolution von ihm regelrecht im Stich gelassen fühlen, als sie wirtschaftliche Reformen einleiten wollten. In den Schriften des „wissenschaftlichen Sozialismus“ fand sich dazu fast nichts. Am verhängnisvollsten aber ist, dass der Marxismus unzählige Leute beeinflusste und beeinflusst, die guten Willens sind und die eigentlich eine offene Gesellschaft unterstützen möchten, die Menschen aber geradewegs gegenteilig in ein totalitäres System stürzen.

5. Zwischenfazit

Poppers Die offene Gesellschaft und ihre Feinde ist eine tiefschürfende Auseinandersetzung mit der langen Tradition totalitären Denkens, die er auf den Philosophen Platon zurückführt. Es ist zudem ein Plädoyer für Demokratie, offenen Diskurs, Eigenverantwortung und den Abschied von der Vorstellung, Geschichte laufe nach Gesetzmäßigkeiten ab. In einer offenen Gesellschaft begreifen sich die Bürger als freie Individuen, die eine Änderung und Verbesserung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse herbeiführen können. Dahingegen gehen geschlossene Gesellschaften nach Popper auf archaisches Stammesdenken zurück, in dem die Geschicke von höheren Mächten gelenkt wurden.

Laut Popper besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Tatsachen und Entscheidungen. Tatsachen an sich besitzen keinen Sinn, diesen erhalten sie erst durch unsere Entscheidung, wie wir mit diesen umgehen wollen. Für sich genommen ist die Geschichte – eine Ansammlung von Tatsachen – also sinnlos. Wir können ihr aber einen Sinn verleihen! Dafür muss der Historizismus aber aufgegeben werden, der diesen Dualismus zwischen Tatsachen und Entscheidungen eben aufzuheben versucht. Dahinter steht vor allem die Angst, für die Konsequenzen unseres Handelns verantwortlich zu sein und ethische Maßstäbe selbst festlegen zu müssen. Aber ein solches aus der Angst geborenes Verhalten, das unsere Verantwortung auf höhere Mächte abzuwälzen versucht, ist gleichbedeutend mit Aberglauben und es erzieht Bürger zu heteronomen, herrschaftshörigen Wesen.

Wir müssen unser Schicksal selbst in die Hand nehmen! Wir müssen uns eigene Ziele und Ideale stecken, nach ihnen streben oder sie irgendwann wieder aufgeben, Fehler machen und aus diesen Fehlern lernen. Nur dürfen wir nicht den einen Kardinalfehler begehen und glauben, dass die Geschichte uns bestimmt ist und wir sie nicht selbst gestalten können.  Popper selbst sah sein Die offene Gesellschaft zur jeden neuen Ausgabe nochmal durch, veränderte und ergänzte Teile; auch der Anmerkungsapparat wuchs ständig. Damit spiegelt bereits die Editionsgeschichte des Werkes dessen Kerninhalt - und die Quintessenz von Poppers Denk- und Arbeitsweise wieder: Geschichts- und Wissenschaftsentwicklung sind weder endgültig noch vorherbestimmt, sie sind offen und wir sollten alles daran legen, dass sie das auch sein können. Nur so können alte Fehler behoben und Fortschritt möglich gemacht werden.

„Statt als Propheten zu posieren, müssen wir zu den Schöpfern unseres Geschicks werden. (...) In dieser Weise könnten wir vielleicht sogar die Weltgeschichte rechtfertigen: sie hat eine solche Rechtfertigung dringend nötig.“

(die letzten Sätze aus Die offene Gesellschaft  und ihre Feinde)

Platon, G. W. F. Hegel und Karl Marx (v.l.n.r.) Bildquelle

6. Kritik

Ralf Dahrendorf kritisierte, dass Karl Popper sich in seinem Gesellschaftsbild zu sehr auf das Individuum konzentriert und die historische Bedeutung sozialer Bindungen (Ligaturen) und Dynamiken vernachlässigt. William W. Bartley warf Popper umgekehrt Fideismus vor und bemängelte, er betone die Notwendigkeit von Traditionen zu sehr. Der deutsche Publizist und Historiker Joachim Fest vertrat die Ansicht, dass die offene Gesellschaft gemäß ihrer liberalen Grundauffassung nicht in der Lage sei, einen seiner Meinung nach notwendigen Minimalkonsens in Bezug auf Grundwerte herzustellen bzw. zu erhalten (vgl. Böckenförde-Diktum). Stattdessen würde sie wie keine andere Gesellschaftsform auch ihren Gegnern Raum bieten, an der Zerstörung der offenen Gesellschaft zu arbeiten. Gegenüber utopischen Ideologien sei die offene Gesellschaft zudem aufgrund ihrer vermeintlichen „Inhaltsleere“ argumentativ im Nachteil.

Die gegenteilige Beurteilung von Poppers Philosophie findet sich auch im politischen Spektrum wieder: Linke beurteilten die normativen Aspekte von Poppers Gesellschaftstheorie (seit dem sog. Positivismusstreit) als vorwiegend neoliberal, während Wirtschaftsliberale ihn als Sozialisten einstufen. Tatsächlich hat Popper einen turbulenten politischen Laufweg hinter sich: Zunächst war er radikaler Sozialist, später gemäßigter Sozialist und schließlich – vor allem durch den Einfluss von Friedrich August von Hayek – gemäßigter Liberaler. Trotz seiner Mitgliedschaft in der Mont-Pelerin-Society unterschied er sich nach Auffassung von Gebhard Kirchgässner jedoch entschieden von der neoliberalen Marktideologie, die heute von dieser Gesellschaft vertreten werde.

Literatur

Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde [The Open Society and Its Enemies]. Teil 1: The Spell of Plato. Routledge, London 1945. Auf Deutsch als Der Zauber Platons. Francke Verlag München 1957. Viele weitere Ausgaben. Letzte Ausgabe als 8. Auflage, Mohr, Tübingen 2003 (= Karl R. Popper: Gesammelte Werke in deutscher Sprache, Band 5, herausgegeben von Hubert Kiesewetter).

Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde [The Open Society and Its Enemies]. Teil 2: The high tide of prophecy : Hegel, Marx and the aftermath. Routledge, London 1945. Auf Deutsch als Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen, Francke, München 1958. Viele weitere Ausgaben. Die letzte: 8. Auflage, Mohr, Tübingen 2003 (= Karl R. Popper: Gesammelte Werke in deutscher Sprache, Band 6, herausgegeben von Hubert Kiesewetter).

Karl R Popper; Jeremy Shearmur, Piers Norris Turner (Hrsg.): After the Open Society, selected social and political writings, Routledge, 2007  (Memories of Austria, Lectures from New Zealand, On The open society, The Cold War and after, After The open society).

Friedrich August von Hayek: Law, Legislation and Liberty, deutsch: Recht, Gesetz und Freiheit. Mohr Siebeck, Tübingen 2003.

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