Der Hirnforscher Gerhard Roth spürt der Seele nach. Im Interview spricht er über evolutionäre Vorteile, den Hass der Geisteswissenschaftler und die Mona Lisa.
SPIEGEL ONLINE: Herr Professor Roth, von Hirnforschern sind wir gewohnt, dass sie von kleinen und konkreten Dingen sprechen, von Genen und Hormonen zum Beispiel. Sie haben jetzt einen großen und eher diffusen Begriff hervorgeholt, den der "Seele". Warum?
Roth: Die Seele muss nicht immer etwas Religiöses sein. Alles, was wir empfinden, das ganze Sammelsurium von Gedanken, Wahrnehmungen und Vorstellungen, nenne ich "Seele". Sie umfasst sehr viel mehr als der "Geist". Nicht nur kognitive Vorgänge, sondern unsere gesamte Erlebnis- und Gefühlswelt. Das ist übrigens auch, was große Philosophen wie Descartes oder Kant unter der Seele verstanden haben. Natürlich hat der Titel "Wie das Gehirn die Seele macht" eine gewisse Ironie, weil es in der Philosophie über 2000 Jahre lang die Frage gab, wo die Seele sitzt.
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Herr Roth spricht uns ja nicht nur die Seele ab, sondern auch den freien Willen. Bei der Seele gibt es ja zumindest noch Hinweise darauf , daß sie wirklich nicht existiert , obwohl von einer abschließenden Klärung noch keine Rede sein kann. Beim freien Willen aber erkennt Herr Roth nicht die Widersrprüche , in die er sich verstrickt , wenn er seine provokante Theorie wirklich ernst nimmt.
Fakt is nämlich : Wenn Herr Roth recht hat und wir nichts weiter sind als eine Materieansammlung , die nicht in der Lage ist , auch nur irgendeine Bewegung oder Wahrnehumung selbst zu realisiren , sondern wir quasi eine Maschine sind , von der man prinzipiell in jeder Sekunde vorherberechnen kann , in welchem Zustand sie ist und was sie "macht" , dann sind die Konsequenzen nicht nur für uns alle , sondern auch für Herrn Roth selbst verheerend. All seine Erkenntnisse haben dann nämlich nicht mehr den geringsten Wert , denn er ist dann ja auch eine willenlose Maschine , die nur macht , was die Naturgesetze von ihr fordern.
Äußerst merkwürdig , daß die Medien , die Presse und überhaupt alle , die diese "sensationellen Neuigkeiten" faszinierend statt deprimierend finden , diese Widersprüche nicht erkennen können oder wollen. Natürlich muß die Neurobiologie annehmen , daß es außerhalb der physikalischen Wirklichkeit nichts gibt, auch nicht bei Lebewesen. All diese Erkenntnisse sind aber im krassen Widerspruch zu dem , was wir wirklich erleben , und zu dem , was auf diesem Planeten alles so ungeheuerliches passiert.
Willenlose Maschinen würden niemals so viel Gewalt , Irrationalität , Ungerechtigkeit , Kriege , Inflationen usw. usw. produzieren , da bin ich mir absolut sicher. Nein , wir können uns nicht vor unserer Verantwortung drücken. Hätte Herr Roth recht , hätten Begriffe wie Hoffnung , Liebe , Angst , Not , Verantwortung usw. usw. keinerlei Sinn mehr , und in einer solchen Welt wäre nichts lebensfähig.
Die Erwähnung dieser Aussage , hinter der Herr Roth offiziell zu 100% steht , obwohl er in seinem wirklichen Leben sicher nicht danach handeln wird , war notwendig , um die Ergebnisse der Hirnforschung überhaupt als höchst spekulativ zu erkennen. Wie schon angedeutet , ist die Behauptung , daß es keine Seele gibt , bei weitem besser untermauert. Es ist gut vorstellbar , daß wir einen (wirklich!) freien Willen , aber keine Seele haben. Dafür spricht zum Beispiel , daß wir nachweislich unser Gehirn nicht anderweitig ersetzen können , das ist eindeutig daran zu erkennen , daß Demenzkranke im Alltag ohne Hilfe nicht zurechtkommen.
Damit die Hirnforschung (und die Wissenschaft überhaupt) aber betrieben werden können , ohne daß wir uns was vormachen , muß die Willensfreiheit postuliert werden , ob sie eine Illusion ist oder nicht. Ist wie Willensfreiheit wirklich eine Illusion , sind alle unsere Anstrengungen sowieso vergebens. Es passiert ja doch nur , was passieren muß. Nur ein freier Willen ermöglicht uns überhaupt , die Welt aktiv zu verändern und im besten Fall sogar zu verbessern. Marionetten sind dazu nicht imstande.
Fazit : Den freien Willen lasse ich mir nicht ausreden , aber daß es keine Seele gibt , ist gut möglich (wenngleich deprimierend). Jedenfalls gibt es keine Seele , die den Tod überdauert , das steht für mich fest , das ist nichts weiter als Wunschdenken.
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