Die Tücken der Tierversuche

Die meisten Substanzen, die in Tests an Mäusen wirken, helfen Menschen nicht. Das liegt mit daran, dass Tierversuche oft „steinzeitlich“ durchgeführt werden.

Die Tücken der Tierversuche

Männchen oder Weibchen? Auch das spielt bei der Lebensdauer mit, wird aber oft nicht dokumentiert. / Bild: (c) EPA (Dean Lewins)

Drei Mäuse fehlten im Manuskript über den Test eines Medikaments für Hirnschlag, den Ulrich Dirnagel (Berlin) als Reviewer begutachten sollte: 20 Mäuse waren im Experiment, zehn erhielten die Substanz, zehn ein Placebo. In der Endabrechnung wirkte die Substanz, aber die zugehörige Grafik inkludierte nur sieben der damit gespritzten Mäuse. Dirnagel fragte nach, die Antwort brauchte ein halbes Jahr: Die drei Mäuse waren vor dem Ende des Tests an Hirnschlag gestorben, deshalb blieben sie in der Bilanz unerwähnt. Hätten sie darin Eingang gefunden, hätte sich gezeigt, dass die Substanz mehr Schaden anrichtet als nützt.

Das sei „kein Betrug“, erklärte Dirnagel, der selbst mit Mäusen arbeitet, es komme schlicht daher, dass es für Experimente mit Tieren viel laxere Regeln gibt als für klinische Tests an Menschen: „Unsere Arbeit mit Versuchstieren ist steinzeitlich“ (Science, 342, S. 923). Das beklagen viele, einer der Ersten war 2004 Malcolm Macleod (Edinburgh), auch ihm ging es um Hirnschlag, er sichtete die Literatur: 603 Substanzen waren an Mäusen getestet worden, 374 hatten geholfen, 97 gingen in Tests an Menschen. Eine einzige wirkte, und die hatte man bei Hirnschlag an den Mäusen nur getestet, weil sie zuvor schon Menschen bei Herzschlag geholfen hatte.

Auf der Suche nach Gründen stieß Macleod darauf, dass nur 29 Prozent der Studien „blind“ durchgeführt worden waren – die Experimentatoren nicht wussten, welches Tier die Substanz erhalten hatte und welches das Placebo –, und dass nur bei 36 Prozent wirklich nach Zufall ausgesucht worden war, welche Maus was erhielt: Viele Experimentatoren greifen in den Mäusekäfig und nehmen, was sich greifen lässt. Bissige Mäuse oder furchtsame, die sich verstecken, kommen eher davon. Das hat Folgen: In Experimenten, in denen „blind“ getestet und nach echtem Zufall gewählt worden war, waren die Ergebnisse laut Macleod „signifikant“ schlechter.

Aber es geht viel weiter, das bemerkte das ALS Therapy Development Institute (Cambridge, Massachusetts), das sich mit Strategien gegen Amyotrophe Lateralsklerose (ALS, eine Lähmung) befasst, anno 2008: 70 Substanzen, die sich an Mäusen bewährt hatten, wurden nochmals getestet, wieder an Mäusen. Nicht eine brachte Erfolg. Das war enttäuschend genug, und am Ende hatten die Forscher noch 2241 Kontrollmäuse, die Placebos erhalten hatten. Mit denen experimentierten sie weiter, sie teilten sie in Gruppen zu je vier Tieren und taten sonst nichts, irgendwann starben die Tiere. Dabei zeigte sich zwischen den Gruppen ein stark differierendes Durchschnittsalter, bis zu 30 Prozent. Die Tiere lebten alle gleich – keines erhielt ein Medikament –, sie lebten schlicht unterschiedlich lang. Aber hätten die länger Lebenden eine Testsubstanz erhalten, hätte man es auf die zurückgeführt.

Vierergruppen mögen klein sein, aber sie sind nicht fern der Realität: Bei 76 einflussreichen ALS-Tests waren es pro Gruppe fünf oder weniger Tiere. Dann müssen diese Mäuse auch noch ALS haben, es gibt mehrere „Modelle“ – gentechnisch veränderte Mäuse –, die die Symptome abbilden sollen. Manche tun es, andere nicht, eine Variante (TDP43) hatte ein ganz anderes Leiden. Und bei diesen Mäusen bemerkte das ALS Institute noch etwas: Was gentechnisch eingebaut ist, kann sich über Generationen wieder verlieren, ganz oder teilweise, das schlägt auch auf die Lebensdauer. Und es gibt noch subtilere Effekte: In einem ALS-Modell (SOD1) zeigten sich Erfolge mit Lithium, in einem anschließenden kleinen klinischen Test an Menschen auch. Das sprach sich herum, ALS-Leidende nahmen Lithium, die Pharmaindustrie investierte in große klinische Tests, hunderte Patienten, über hundert Millionen Dollar.

Der Erfolg war null, es lag daran, dass die Mäuse im ersten erfolgreichen Test ganz anders waren als normale SOD1-Mäuse. Dann spielt auch noch das Geschlecht mit, bei SOD1-Mäusen sterben die Männchen eine Woche früher, macht vier Prozent, und oft ist das Geschlecht in den Publikationen nicht ausgewiesen. Und und und: 80 Prozent aller bei Mäusen erfolgreichen Substanzen – gegen alle Leiden – helfen Menschen nicht. Deshalb fordert Steve Perris vom ALS Institute eine grundlegende Neuorientierung, wobei mit größeren Zahlen von Tieren gearbeitet werden soll, die exakt charakterisiert sind, bei denen man etwa weiß, in welche Gewebe Testsubstanzen gehen und wie sie metabolisiert werden (Nature, 507, S. 423): „Die erforderlichen Experimente sind teuer und führen per se nicht zu Therapien, aber ohne sie wird Geld für klinische Tests vergeudet und gehen Menschenleben verloren.“

Solche Experimente würden dauern, deshalb hat Dirnagl andere Abhilfe gefunden: Er sucht Mäuse wirklich nach Zufall aus, arbeitet nach Protokollen, in denen etwa alle Tiere, die während der Tests erkranken, ausgeschieden werden, und das dokumentiert wird. Und er arbeitet nicht allein, sondern mit anderen Labors zusammen, in Multizentrumstudien, wie sie bei klinischen Tests üblich sind.

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