Ein fehlendes Bindeglied in der Evolution komplexer Zellen im Meer

Im Gegensatz zu Bakterien besitzen Menschen große, komplexe Zellen, die mit DNA und Mitochondrien gefüllt sind, die Energie produzieren. Alle sogenannten Eukaryoten haben diese Komplexität der Zelle gemein: Tiere, Pflanzen, Pilze, sogar einzellige Protozoen wie Amöben.

Ein fehlendes Bindeglied in der Evolution komplexer Zellen im Meer

Eine Mikrobe, die bei der Erklärung der Evolutionsgeschichte helfen könnte, wurde in der Nähe von Lokis Castle gefunden, einem Feld von hydrothermalen Ausbruchskanälen im arktischen Gakkelrücken. Credit R.B. Pedersen/Centre for Geobiology/University of Bergen.

Wissenschaftler schätzen, dass die ersten Eukaryoten vor etwa 2 Milliarden Jahren in einer der größten Umwandelungen in der Geschichte des Lebens entstanden sind. Doch es gibt wenig Stichhaltiges für dieses bedeutsame Ereignis, kein fehlendes Bindeglied, das den Wissenschaftlern helfen könnte, die Evolution des Lebens von simplen Mikroben zu Eukaryoten nachzuvollziehen.

Am 6. Mai 2015 verkündete ein Team von Wissenschaftlern die Entdeckung einer solchen Übergangsform. Auf dem Boden des arktischen Ozeans fanden sie Mikroben, die viele, wenn auch nicht alle Eigenschaften aufweisen, die man bislang nur in Eukaryoten gefunden hat. Diese Mikroben können uns zeigen, wie die Vorläufer komplexer zellulärer Organismen ausgesehen haben.

„Das ist wahrlich ein Durchbruch“, sagte Eugene Koonin, ein Evolutionsbiologe am Nationalen Zentrum für Biotechnologie-Information, der selbst nicht an der Forschung teilgenommen hat. „Das ist fast zu schön, um wahr zu sein“.

In den 1970ern fanden die Wissenschaftler die ersten Hinweise über die Entstehung der Eukaryoten. Carl Woese, ein Mikrobiologe an der Universität von Illinois, und seine Kollegen verglichen genetisches Material von verschiedenen Arten, um den Stammbaum des Lebens nachzuvollziehen. Ihre Analyse deutete auf drei große Domänen hin.

Eine Domäne beinhaltete Bakterien, unter ihnen so vertraute Spezies wie die E. colis. Eine zweite Domäne, die Dr. Woese  Archaeen nannte, beinhaltete weniger bekannte Mikroben-Spezies, die an extremen Orten wie Sumpfböden oder heißen Quellen leben. Eukaryoten, die die dritte Domäne ausmachen, sind mit Archaeen enger verwandt als mit Bakterien.

Im Laufe der letzten 40 Jahre haben Wissenschaftler neue Mikroben-Spezies entdeckt und schlagkräftige Methoden entwickelt, ihre DNA zu vergleichen. Der Stammbaum des Lebens ist dadurch mehr in den Fokus gerückt. Eine Anzahl kürzlich erschienener Studien deutet darauf hin, dass die Eukaryoten keine dritte Domäne sind. Stattdessen haben sie sich aus den Archaeen entwickelt.

Thija J. G. Ettema, ein Mikrobiologe an der Uppsala Universität in Schweden, war von der Möglichkeit angetan, dass diejenigen Archaeen-Spezies, die den Eukaryoten am Ähnlichsten waren, auf dem Meeresboden lebten. Es war möglich, dass noch nähere Verwandte dort noch auf ihre Entdeckung warten würden.

Glücklicherweise hatte Steffen L. Jörgensen, ein Mikrobiologe an der Universität Bergen, Sedimente des arktischen Ozeans aus drei Kilometern Tiefe ausgehoben. Ein Vorabblick auf diese Sedimente offenbarte, dass in einigen Schichten Archaeen lebten. Dr. Jörgensen bot Dr. Ettema die Sedimente zur näheren Untersuchung an.

Dr. Ettema und seine Kollegen begannen, aus den Sedimenten DNA zu extrahieren und zu untersuchen. Doch es war ein riskantes Unterfangen.

Dr. Jörgensen konnte ihnen nur zehn Gramm Sediment geben – eine Menge, die locker auf einen Teelöffel passt. Dr. Ettema war sich auch darüber klar, dass dieser Löffel voll Dreck nicht viele Mikroben enthalten würde.  

In ihrer kalten, dunklen, nährstoffarmen Umgebung wachsen diese Mikroben kaum. Ein Löffel voll Erde aus dem Garten könnte eine Million Mal mehr Keime enthalten.

Es war klar, dass Dr. Ettema und seine Kollegen die gesamte Sedimentprobe würden aufbrauchen müssen, um genug DNA für eine Analyse zu finden. Wenn ihnen dabei ein Fehler unterliefe, hätten sie nichts mehr zum Untersuchen übrig.

„Es gab nur einen Anlauf“, sagte Dr. Ettema.

Glücklicherweise hatten Dr. Ettema und seine Kollegen Erfolg. Es stellte sich heraus, dass das Sediment DNA aus einer Abstammungslinie enthielt, die keiner bisher entdeckten ähnelte. Die Wissenschaftler nannten es Lokiarchaeum, nach dem hydrothermalen Ausbruchskanal im Gakkelrücken (engl. Lokis Castle), in dessen Nähe die Archaeen gefunden worden waren.

Bei der Untersuchung der DNA fanden sie heraus, dass Lokiarchaeum weit enger mit Eukaryoten verwandt ist als jede andere bekannte Archaeen-Art. Doch  noch überraschender war, dass es Gene für Merkmale trug, die man bisher nur in Eukaryoten gefunden hatte.

Unter diesen Genen waren viele, die innerhalb der eukaryotischen Zelle spezielle Kompartimente herstellen. Innerhalb dieser Kompartimente, Lysosomen genannt, können Eukaryoten fehlerhafte Proteine abbauen.

Allen Eukaryoten gemein ist auch ein zelluläres Skelett, das sie laufen zusammen- und wieder auseinanderbauen, um ihre Form zu verändern. Dr. Ettema und seine Kollegen fanden in Lokiarchaeum viele Gene, die für jene Proteine kodieren, die zum Bau dieses Skeletts benötigt werden.

Es ist möglich, dass Lokiarchaeum sein Skelett benötigt, um wie Protozoen über den Meeresboden zu kriechen. Die Gene von Lokiarchaeum legen auch nahe, dass es wie Protozoen auch Moleküle oder Mikroben fressen kann.       

Alles in allem war Lokiarchaeum viel komplexer als andere Archaeen oder Bakterien, wenn auch nicht so komplex wie echte Eukaryoten. Die neue Studie zeigt, dass sie weder einen Zellkern noch Mitochondrien besitzen.

Doch Dr. Ettemas Entdeckung beleuchtet die Frage, wie ein dem Lokiarchaeum ähnelnder Ahne sich in die ersten ausgewachsenen Eukaryoten entwickelt haben könnte.

Hatten die Vorfahren der Eukaryoten erst einmal dieses komplexe Skelett entwickelt, könnte der nächste Schritt die Entstehung der Mitochondrien gewesen sein.   

Wissenschaftler wissen schon lange, dass Mitochondrien sich aus Bakterien entwickelt haben. Sie besitzen ihre eigene DNA, die eher der von freilebenden Bakterien ähnelt als den Genen im Zellkern.

Einige Wissenschaftler nehmen an, dass die Vorfahren der Eukaryoten freilebende Bakterien absorbiert haben. Die Bakterien wurden zu Mitochondrien und lieferten der Wirtszelle Kraftstoff.

Lokiarchaeum, mit seiner Fähigkeit, nach Mikroben zu grasen, ist genau die Art Mikrobe, die in einem solchen Szenario notwendig ist.

Hatten die frühen Eukaryoten sich erst einmal Mitochondrien zugelegt, gewannen sie damit auch die Energie, um eine viel größere, komplexere Zelle anzutreiben. Im Jahre 2006 schlugen Dr. Koonin und William Martin von der Universität Düsseldorf vor, dass die Mitochondrien die Entwicklung eines Zellkerns auslösten.

Die beiden Gensätze könnten Chaos verursachen, wenn sie einander in die Quere kommen. Dr. Koonin und Dr. Martin legten nahe, dass Eukaryoten schrittweise eine Barriere aufbauten, um sie getrennt zu halten.

So aufschlussreich die Gene des Lokiarchaeum auch sind, gibt es Grenzen dafür, was sie den Wissenschaftlern erzählen können. „Wir wissen nicht einmal, wie groß die Zellen sind“, sagte Dr. Ettema. 

Dr. Ettema und seine Kollegen untersuchen nun die Lokiarchaeum-Mikroben an sich. Sie haben neue Sedimentproben erhalten, und sie können nun die enthaltenen Mikroben aufspüren. Doch die Mikroben sterben ab, bevor die Wissenschaftler Näheres über sie lernen können.

Also versuchen die Wissenschaftler Bedingungen herzustellen, in denen die Mikroben überleben und sogar wachsen können, indem sie die Kälte und den hohen Druck der natürlichen Umgebung von Lokiarchaeum simulieren. Doch sie versuchen auch noch, andere Faktoren herauszufinden, die die Mikroben zum Gedeihen benötigen, wie die genaue Art Kohlenstoffverbindungen, von denen sie sich ernähren.

„Es ist definitiv nicht einfach“, sagt Dr. Ettema, „aber wir geben nicht auf. Es gibt so viele Fragen – wir müssen hier eine ganz neue Art Biologie studieren.“

Übersetzung: Burger Voß, Ramona Wagner

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