Eine Geschichte der Theorie der Plattentektonik (Teil 6/7)

Der Name Wegener ist auch außerhalb der Geowissenschaften halbwegs geläufig, der Name Hess nicht.

Eine Geschichte der Theorie der Plattentektonik (Teil 6/7)

Quelle: Müller et al. (2008)

Dabei war er erfolgreicher und seine wissenschaftliche Leistung größer, wenn auch Wegener vielleicht der kühnere Denker war.

Teil 6: Der Unbekannte

Harry Hess (1906-1969) hatte in den dreißiger Jahren Vening‑Meinesz auf einer Expedition begleitet und in der Folgezeit selbst ozeanische Schwereanomalien vermessen. Ein Großteil seiner wissenschaftlichen Laufbahn war der Erforschung der Ozeanböden verschrieben. Hess' Artikel „Geschichte der Ozeanbecken“ ist die wichtigste Landmarke in der Entwicklung von der Kontinen­taldriftthese zur Theorie der Plattentektonik. Publiziert wurde er 1962, kursierte aber inoffiziell schon seit dem Jahr 1960. Mit etwas gutem Willen lässt sich trotzdem behaupten, dass der Umbruch im 50. Jubiläumsjahr von Wegeners Driftthese eingeleitet wurde.

Hess geht es, wie sein Titel deutlich macht, um die erdgeschichtliche Entwicklung der Ozea­ne und Ozeanbecken. Die Theorie der Plattentektonik ergibt sich gewissermaßen als Nebenprodukt aus seinen Überlegungen.

Hess trifft folgende Aussagen:

1. Es existieren Konvektionsströme innerhalb des Erdmantels. 1962 war das immer noch eine umstrittene Hypothese, doch die unnatürlich hohen Wärmeströme unterhalb der Ozeanböden und mittelozeanischen Rücken, wie sie von Bullard, Maxwell, Revelle und von Herzen aufge­zeigt wurden, sowie die Arbeiten seines Mentors Vening‑Meinesz deuteten für Hess darauf hin.

2. Mittelozeanische Rücken liegen dort, wo die Konvektionszellen aufsteigen. An den Rücken entsteht neuer Ozeanboden, der nach beiden Seiten mit dem Konvektionsstrom abdriftet. Die Indizien sind:

Der vulkanische Ursprung der Rücken.

Die geringere Dichte von Kruste und Lithosphäre im Bereich der Rücken, was eine höhere Temperatur nahelegt – im isostatischen Gleichgewicht erhebt sich dort der Ozeanboden (nicht allein durch die vulkanischen Gipfel und Lavaflüsse) weit über das mittlere Niveau der Ozeanbecken, und er leitet Erdbebenwellen langsamer.

Die ebenfalls aus Erdbebenanalysen abgeleitete Tatsache, dass die Sedimentbedeckung des Ozeanbodens mit wachsender Entfernung zu den Rücken zunimmt, während sich direkt auf ihnen kaum Sediment findet – was nahelegt, dass der weiter vom Rücken entfernte Boden älter ist.

Die durch Heezen entdeckte Erdbebenaktivität entlang von Zentralgräben in der Mitte des atlantischen, arktischen und indischen Rückens, was Ausdehnung vermuten lässt.

Die Existenz versunkener Vulkaninseln beiderseits der Rücken, die wahrscheinlich einmal mittig darauf gebildet wurden und gemeinsam mit dem Ozeanboden abwanderten.

3. Kontinente reiten passiv auf der sich bewegenden Lithosphäre (Hess verwendet den Begriff „Kruste“, meint aber wie Holmes das Paket aus Kruste und Lithosphäre). Damit erklären sich die paläomagnetischen und paläontologischen Beweise für Kontinentalverschiebungen.

4. An den absteigenden Enden der Konvektionszellen sinkt der Ozeanboden in den Mantel zu­rück. Diesen Punkt untermauert Hess nicht im selben Maße wie die anderen. Benioffs Arbeit von 1949 z.B. wird nicht zitiert, auch keine eines anderen Autors, welche diese Behauptung unterstützt.

5. Ozeanböden sind jung und besitzen eine geringe Lebensspanne (Hess veranschlagte 200-300 Millionen Jahre, bei zur Zeit existierenden Böden finden sich in der Regel keine höheren Alter als 160-180 Millionen Jahre, wie heute bekannt ist). Dieser Umstand stützt die Annahme, dass die Böden tatsächlich laufend absinken und durch Neubildung ersetzt werden. Belege für das geringe Alter sind:

Geringe Sedimentdicke in den Ozeanbecken. 1962 wusste man bereits, dass das Alter der Erde ca. 4.5 Milliarden Jahre beträgt. Hätten die Ozeanbecken für annähernd diese Zeit­spanne existiert, müssten sie, heutige Ablagerungsraten vorausgesetzt, eine um den Faktor 10 bis 40 höhere Sedimentbedeckung aufweisen. Dass die Rate einmal sehr viel niedriger gewesen sei als heute, sieht Hess als unnötige Verletzung des aktualistischen Prinzips.

Weltweit junges Alter der ozeanischen Sedimente. Die ältesten bis dahin gewonnenen Pro­ben stammten aus der späten Kreidezeit.

Geringe Anzahl ober- und untermeerischer Vulkane. Nach aktueller Rate sollte schätzungs­weise ein ozeanischer Vulkan alle zehntausend Jahre entstehen. Doch ihre Zahl liegt, hätten die Ozeanbecken seit über vier Milliarden Jahren existiert, abermals um den Faktor 40 zu niedrig.

Keine Spuren ehemaliger Rücken, mit einer Ausnahme im Pazifik. Wo sind die mittelozea­nischen Rücken aus der Erdfrühzeit?

6. Ozeanbecken sind vergängliche, Kontinente dauerhafte Strukturen, die jedoch auseinanderge­rissen, deformiert und neu zusammengeschweißt werden können.

Alle diese Annahmen sind auch heute gültig, mit einer Ausnahme: Unser Verständnis der Mantel­konvektion unterscheidet sich von dem Bild, dass Hess und seine Zeitgenossen sich machten. (Aus­führlicher in Teil 7.)

Weltweite Altersverteilung der ozeanischen Lithosphäre. Das Alter steigt mit zunehmender Entfernung von den Rücken. Quelle: Müller et al. (2008)

Hess gibt zu, dass sich die Bildung von neuem Ozeanboden auch mit der Expansionstheorie erklä­ren ließe. Erstens sei diese aber „philosophisch unbefriedigend“, da sie keinen plausiblen Mechanis­mus für die Ausdehnung nennt, und zweitens müsste den Ozeanen immer genau die richtige Was­sermenge aus dem Erdinneren hinzugefügt werden – nicht zu viel, weil sonst die Kontinente über­flutet wären, und nicht zu wenig, weil sonst die in die Tiefsee führenden Kontinentalabhänge freilä­gen. Hess hätte seine Ablehnung noch viel deutlicher formulieren können, tat es aber nicht, obwohl das Argument sehr nahe liegt: Wenn die Neubildung des Ozeanbodens nur die Ausdehnung der Erde kompensiert, wie es die Expansionstheorie nahelegt, warum sinkt er dann anderenorts in den Mantel zurück? Subduktion findet statt, gerade weil die Erdoberfläche konstant bleibt.

Harry Hess im Jahr 1961. Quelle: Life Time Inc.

So wie Hess im Schatten Wegeners, steht ein anderer im Schatten Hess': 1961, kurz nachdem Hess die erste Fassung seines Artikels in Umlauf gebracht hatte, aber vor dessen offizieller Publikation, hatte auch der Geophysiker und Ozeanograph Robert S. Dietz (1924-1995) das Konzept der Platten­tektonik mit nahezu identischen Argumenten formuliert. Dietz prägte in seiner Arbeit den Begriff des „Seafloor Spreading“ für den Prozess der Lithosphärenbildung und -ausbreitung an den mittel­ozeanischen Rücken. Hess aber gebührt in jedem Fall die Ehre der Erstformulierung, und er hatte auch den größeren Einfluss.

Trotz der Fülle an Argumenten wäre es Hess und Dietz vielleicht ebenso ergangen wie Wegener, hätte sich nicht bald darauf ein schlagender Beweis für das Seafloor Spreading gefunden.

Aus paläomagnetischen Untersuchungen war bekannt, dass das Erdmagnetfeld sich von Zeit zu Zeit umgepolt hatte: Nord- und Südpol wechseln in unregelmäßigen Abständen von einigen tau­send bis mehreren hunderttausend Jahren die Plätze. Erstmals beschrieben worden war das Phäno­men durch den französischen Geophysiker Bernard Brunhes (1867-1910) im Jahr 1909, der es aller­dings für eine lokale Anomalie hielt. 1929 aber erhielten Motonori Matuyama (1884-1958) in Ja­pan, später auch andere Forscher ebenfalls Befunde über Polumkehrungen, und mit Entwicklung der radiometrischen Altersbestimmung wurde klar, dass kein lediglich lokal wirkender physikali­scher Prozess dafür verantwortlich war, sondern wirklich eine Umkehrung des Magnetfelds: Gestei­ne desselben Alters zeigen, überall auf der Welt, dieselbe Orientierung.

Im zweiten Weltkrieg hatten die USA hochempfindliche Messgeräte für die U‑Boot­Abwehr entwickelt, die im Schlepptau von Flugzeugen gezogen wurden. Diese Geräte, Magnetic Airborne Detectors oder kurz M.A.D.s genannt, registrierten die magnetischen Anomalien, die von U‑Boot­hüllen verursacht wurden. Nach dem Krieg wurden M.A.D.s für die Lagerstättenerkundung einge­setzt, und ab 1952 wurden Versuche gemacht, sie von Schiffen aus zur Erforschung des Ozeanbo­dens zu verwenden.

1963 lagen die Ergebnisse von Forschungsfahrten im Nordatlantik, Ostpazifik, indischen und antarktischen Ozean vor. Sie enthüllten „Zebrastreifen“ von abwechselnd stärkeren und schwä­cheren Magnetanomalien des Ozeanbodens, für die bis dahin niemand eine Erklärung wusste. In diesem Jahr aber veröffentlichten Drummond H. Matthews (1931-1997) und Frederick J. Vine (geb. 1939) von der Universität Cambrigde eine Hypothese, welche das Streifenmuster mit dem Seafloor Spreading erklärte. Der Kanadier Lawrence W. Morley (1920-2013) versuchte im selben Jahr einen Artikel mit fast identischem Inhalt zu publizieren, dieser wurde jedoch abgelehnt. Heute wird des­halb, je nachdem, von der Vine‑Matthews- oder Vine‑Matthews‑Morley‑Hypothese gesprochen.

Vine und Matthews (und Morley) glaubten, dass die Streifen Perioden mit normaler oder umgekehrter magnetischer Polarität darstellen: Bildet sich an einem mittelozeanischen Rücken neu­er Ozeanboden, wird das Gestein beim Abkühlen in der Richtung des zu der Zeit herrschenden Felds magnetisiert. Durch das fortwährende Abdriften und Neubilden des Bodens und abwechseln­de Umpolung des Feldes entstehen die Streifen, die dadurch, dass ihre Magnetisierung mit oder ent­gegen des heutigen Feldes wirkt, zu einer stärkeren oder schwächeren Messung führen.

Untersuchungen in den folgenden Jahren ergaben, dass die Streifen symmetrisch um die Rücken herum angeordnet sind, als würden sie in deren Mitte gespiegelt. Das überzeugte die Fach­welt von der Richtigkeit des Seafloor Spreading, und bis Ende der Sechziger Jahre waren die meis­ten Skeptiker zur Theorie der Plattentektonik bekehrt.

Magnetanomalien beidseitig des mittelatlantischen Rückens (durch Striche markiert) südwestlich von Island. Nach Hiertzler et al. (1966). Quelle: ACon­tent.com

Den endgültigen Beweis erbrachten dann Satellitenmessungen Mitte der achtziger Jahre, durch die erstmals die aktuellen Verschiebungen nachgewiesen werden konnten – siebzig Jahre nachdem We­gener hoffnungsvoll anmerkte, dies werde wohl nur noch kurze Zeit auf sich warten lassen.

(Fortgesetzt in Teil 7: Heute)

Literatur:

Chamot‑Rooke, N. & Rabaute, A. (2007): Plate Tectonics from Space. Episodes, Vol. 30, No. 2, 119‑124.

Dietz, R. S. (1961): Continent and Ocean Basin Evolution by Spreading of the Sea Floor. Nature, Vol. 190, 854‑857.

Harrison, C. G. A. & Douglas, N. B. (1990): Satellite laser ranging and geological constraints on plate moti­on. Tectonics, 9(5), 935‑952

Hess, H. H. (1962): History of Ocean Basins. In: Petrologic Studies: A Volume in Honor of A. F. Buddington, edited by A. E. J. Engel, Harold L. James, and B. F. Leonard. New York, Geological Society of America. 599‑620.

James, H. L. (1973): Harry Hammond Hess. A biographical Memoir. National Academy of Science, Wash­ington DC.

Müller, R .D. & Sdrolias, M. & Gaina C. & Roest W. R. (2008): Age, spreading rates and spreading symme­try of the world's ocean crust. Geochemistry, Geophysics, Geosystems, Vol. 9, Issue 4.

Sullivan, W. (1974): Continents in Motion. McGraw-Hill, New York. 399 Seiten.

Vine, F. & Matthews, D. (1963): Magnetic anomalies over oceanic ridges. Nature, Vol. 199, 947‑949.

Erwähnte, nicht direkt zitierte Literatur:

Brunhes, B. (1906): Recherches sur la direction de l’aimantation des roches volcaniques. Journal de Physi­que 5, 705‑724.

Matuyama, M. (1929): On the Direction of Magnetization of Basalt in Japan, Tyosen and Manchuria. Procee­dings of the Imperial Academy of Japan, 5, 203-205.

Flickr-Link für Bilder: http://www.flickr.com/photos/113231223@N05/

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