Die Vielfalt ethischer Handlungsrichtilinien, die in der Geschichte der Menschheit bislang erdacht wurden, ist groß. Sie reicht von übernatürlich oder dogmatisch begründeteter Moral bis hin zu wissenschaftsnahen Modellen mit Fokus auf Handlungskonsequenzen. Welches Konzept bietet das größte Potential für eine Humanismus-konforme Ethik?
“Morality is not just any old topic in psychology but close to our conception of the meaning of life. Moral goodness is what gives each of us the sense that we are worthy human beings.”
– Steven Pinker
Bei der Analyse vom Sinn und Nutzen der Wissenschaft wurde gegen Ende hin festgestellt, dass insbesondere der dritte Aspekt der Naturwissenschaft, nämlich praktische Relevanz und Technologie einen ambivalenten Charakter besitzt, welcher eine gewisse Sensibilität in deren Umgang erforderlich macht:
„Den […] Chancen und Gefahren liegt seitens des bloßen Wissens keine unmittelbare Weisung zugrunde, wie diese Technologien angewendet werden sollten. Die angewandten Wissenschaften verleihen uns eine große Macht die Welt zu verändern, zum Positiven, wie zum Negativen. Diese Macht ist eindeutig von unschätzbarem Wert, auch wenn sie durch das, was wir mit ihr anzustellen vermögen negiert werden kann. Dieser Umstand ist jedoch kein Makel der Wissenschaft an sich, sondern ein klar menschliches Problem.“
Nun stellt sich Humanisten an dieser Stelle die Frage, auf welche Weise der Umgang mit Technik und Wissen im Rahmen eines rationalen und naturalistischen Handlungskonzeptes zum Gesamtwohl einer Gesellschaft gestaltet werden kann. Dabei geht es schließlich nicht mehr nur alleine um die Bewertung und Nutzung neuer Erkenntnisse und Errungenschaften wie Beispielsweise von Kernenergie oder Gentechnik, sondern auch um andere Themen, wie die Gestaltung von gerechten Gesetzen, den Umgang mit Gewalt und Terrorismus, die Verhütung globaler anthropogener Risiken und Gefahren wie des Klimawandels, Rechte für nichtmenschliche Lebewesen und ein faires Sozial-, Finanz- und Wirtschaftssystem. All diese Angelegenheiten fallen bei ihrer Grundsatzerörterung in das Gebiet der praktischen Philosophie, der sogenannten Ethik. Ethikkonzeptionen gibt es jedoch in sehr unterschiedlicher Ausführung, die bei Anwendung auf konkrete Fälle teilweise zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen. Und längst nicht alle davon eignen sich als Eckpfeiler für eine humanistische Ethik und viele stehen gar in starkem Kontrast zu dieser. Darum soll hier zunächst eine Ermittlung und Analyse der einzelnen Modelle stattfinden, gefolgt von einer abschließenden Empfehlung des am besten geeigneten Kandidaten.
Zunächst gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Ethikauffassungen, die einander diametral gegenüberstehen. Auf der einen Seite die Deontologie (Pflichtethik), auf der anderen der Konsequentialismus (zweckorientierte Ethik).
Erstere beurteilt Handlungen nicht nach ihren positiven oder negativen Auswirkungen auf die betroffenen Individuen, sondern beachtet ausschließlich den Wert einer Handlung an sich, ganz egal wie positiv oder schlecht die echten Folgen davon auch sein mögen. Dazu wird einer Tat (und ihrer Unterlassung) der metaphysische Begriff des „Guten“ oder „Bösen“ zugrunde gelegt. Bestimmte Taten sind also unter allen Umständen verboten, andere dagegen erzwungene Pflicht. Grundlage für diese absolutistischen Begriffe ist entweder ein autoritäres Dekret, zum Beispiel die willkürliche Entscheidung eines diktatorischen Gesetzgebers oder die Behauptung eines göttlich inspirierten „freien Willens“, der angeblich nicht den Naturgesetzen des Kosmos unterliege, sondern einen Balanceakt zwischen dem absolut Guten und Schlechten jenseits von Ursache und Wirkung einer Handlung erlaube. Ersteres erleben wir häufig in Diktaturen wie Nationalsozialismus und Stalinismus, das zweite wird gerne von religiöser Herrschaftsseite zur Bevormundung und Vorteilsnahme verkündet. Die Unsinnigkeit dieser Ethik ist offensichtlich. Sie besitzt sowohl logische Schwächen und Widersprüche, als auch empirische Belege gegen ihre Grundannahmen. So ist das Postulat eines metaphysischen Freien Willens naturwissenschaftlich unhaltbar (wenngleich nicht der psychologische Eindruck eines solchen), was sich im Rahmen der Logik automatisch aus dem Gödel´schen Unvollständigkeitssatz und Turing´s Halteproblem ergibt und durch die empirischen Erkenntnisse aus Neurobiologie, Psychologie und Physik untermauert wird. Die willkürliche Festlegung von Gut und Böse durch einen Diktator oder eine Handvoll Autokraten, egal ob spiritueller oder rein politischer Natur widerspricht dem humanistischen Grundgedanken von Demokratie, Freiheit, Individualität, Rechtsstaat und Menschenrechten. Zur Darstellung der praktischen Untauglichkeit und ihrer Widersprüche seien zusätzlich folgende Beispiele angeführt:
Das Trolley-Problem: Ein außer Kontrolle geratener, fahrender Zug wird fünf Personen, die sich zufällig auf dem Gleis aufhalten, töten, außer der Zug wird auf ein Seitengleis umgeleitet, wo er eine einzelne Person töten wird. An dieser Stelle versagt die Deontologie, weil Töten absolutes Unrecht darstellt und darum generell „böse“ und verboten ist. Es ist weder ethisch gerecht den Zug umzuleiten und eine einzige Person zu töten, noch ist das Nichteingreifen und der Tod von fünf Menschen legitim. Eine Differenzierung der Konsequenzen findet nicht statt, daher sind beide Ausgänge der Situation angeblich gleich falsch. Eine Handlungsanweisung besteht nicht. Ein ethisch fairer oder unfairer Ausgang obliegt darum dem Zufall.
Folter: Bei der Folterproblematik wird folgende Situation konstruiert: Einem Terroristen gelingt es die Waffe für einen Anschlag zu verstecken und scharf zu machen. Er wird jedoch wenig später dank Geheimdienstinformationen verhaftet. Er weigert sich den Ort der Bombe preiszugeben. Wenn ein Verhörexperte die deontologische Pflicht, einen Terroristen nicht zu foltern, nicht verletzt, dann werden hunderttausend oder eine Million unschuldige Personen aufgrund einer gut versteckten und von ihm per Zeitzünder aktivierten Nuklearbombe sterben. Obwohl die Qual einer einzigen Person das einzige realistische Mittel darstellt noch rechtzeitig die Information über den Ort der deponierten Waffe zu erhalten und sie zu entschärfen und innerhalb der kurzen Zeit keine Chance besteht die Stadt zu evakuieren, spielt dieser Umstand innerhalb der Deontologie keine Rolle. Diese Ethik hält dogmatisch und unabhängig von der Situation an ihren Grundsätzen und Regeln fest. Die Auswirkungen, egal wie verheerend, sind ihr nominell gleichgültig.
Deontologisches Paradoxon: Dies Paradoxon entsteht dadurch, dass deontologische Theorien Handlungen den Wert gut oder schlecht unabhängig von ihren konkreten Folgen zuschreiben. Es ist aber denkbar, dass die Ausführung einer verbotenen Handlung die Ausführung mehrerer, ebenfalls verbotener Handlungen verhindert. Auch hier kann nicht entschieden werden. Die Deontologie boykottiert sich damit selbst.
Es gibt darüber hinaus jedoch noch eine weitere Art der Pflichtethik, die nicht auf absoluten Geboten und Verboten aus der Hand einer unanfechtbaren Instanz basiert, sondern der demokratischen Willensbildung der Mehrheit unterliegt. In diesem Falle spricht man von kontraktualistischer Ethik (Vertragsethik). Der Unterschied zur oben geschilderten Situation liegt jedoch nur in der Form Willensbildung, ihre prinzipiellen Schwächen bleiben die gleichen.
Angesichts dieser Ausführungen und offenkundigen Schwächen und Fehler der Deontologie, scheidet dieses System als Kandidat für eine humanistische Ethik weitestgehend aus, auch wenn eine Vertragsethik in bestimmten juristischen Punkten akzeptabel sein mag. Betrachten wir also den Gegenspieler, den Konsequentialismus. Zwar gibt es auch innerhalb der Pflichtethik einige unterschiedliche Systeme, die sich leicht voneinander unterscheiden, die Differenzen innerhalb der zweckorientierten Ethik fallen jedoch grundsätzlicher aus. Nicht jede Art des Konsequentialismus eignet sich darum gleich gut als humanistische Handlungsrichtlinie. Große Differenzen bestehen hier zwischen dem Utilitarismus und den Spielarten des Egoismus.
Von letzterem stellt der sogenannte „Objektivismus“ der russisch-amerikanischen Laissez-faire Philosophin Ayn Rand die am professionellsten ausgearbeitete Theorie dar, welche axiomatisch sehr konsequent durchdacht ist. Sofern die von ihr gesetzten Prämissen denn stimmten, so wären ihre Schlussfolgerungen weitgehend folgerichtig. Allerdings weist diese Philosophie ganz ähnliche Schwächen auf wie die oben genannte Tugendethik. Zum ersten einen Mangel an praktischer Relevanz der erklärt, warum dieses Konzept außerhalb einiger halbintellektueller republikanischer und libertärer Kreise der USA keinerlei Beachtung findet und angesichts seiner intuitiv oft als unfair und antisozial wahrgenommenen Schlüsse von vielen Menschen, insbesondere der Bildungselite, abgelehnt wird. Zum anderen sind zwei der fünf Grundaxiome des Systems – ein falsches davon auch hier wieder die metaphysische Willensfreiheit – und daneben mehrere kleinere Details erwiesenermaßen Inkorrekt und stehen nicht im Einklang mit den aktuellen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen über die Beschaffenheit unserer Welt und deren Gesetzmäßigkeiten. Besonders ungünstig schlägt sich dort auch das Fehlen klarer Begriffsdefinitionen nieder. Der letztlich oft nur vermeintliche Objektivismus scheitert hauptsächlich an der mangelnden Vereinbarkeit seiner Prämissen mit dem derzeitigen Kenntnisstand über die Realität, basiert darum stellenweise mehr auf Fantasie als Empirie. Insbesondere innerhalb des politischen Aspektes dieser angewandten Philosophie kommt zu diesen Makeln noch ein klassischer naturalistischer Fehlschluss hinzu (Rückschluss vom Sein auf Sollen). Aufgrund dieser unpassenden Mischung scheidet diese praktische Philosophie für Humanisten, deren Denken bekanntlich allein auf Fakten und empirisch gestützter Logik beruhen sollte trotz ihres konsequentialistischen Ansatzes aus.
Damit kämen wir zur letzten Ethikkonzeption, dem Utilitarismus. Im Gegensatz zur Tugendethik, deren Regeln und Gebote im Prinzip vollkommen realitätsfern und sinnwidrig sein können und dem Objektivismus, der nur innerhalb seines empirisch inkorrekten axiomatischen Systems logische Konsequenz entfaltet, muss eine utilitaristische Ethik gemäß ihrer Definition stets im Einklang mit (der in unserem Universum universellen) Logik und Empirie stehen.
Der Utilitarismus ist eine normative Theorie zur moralischen Bewertung von Handlungen. In einer einfachen Formulierung lautet das utilitaristische Grundprinzip: „Handle so, dass die Folgen deiner Handlung bzw. Handlungsregeln für das Wohlergehen aller Betroffenen optimal sind.“ Damit möchte der Utilitarismus ein Kriterium bereitstellen, mit dessen Hilfe Handlungen, Normen und Institutionen moralisch beurteilt werden können. Diese Beurteilung selbst muss als naturalistische Ethik in letzter Konsequenz auf wissenschaftlichen, also nicht-metaphysischen Grundlagen beruhen. In seiner modernsten Version in Form des Präferenzutilitarismus richtet sich der Fokus der Philosophie dabei auf die Wünsche, Interessen, Freude und Zukunftspläne der von einer Handlung betroffenen Individuen. Die Fähigkeit und der Freiraum über Interessen, Wünsche und Pläne für die Zukunft zu verfügen ergeben sich aus der Rechenleistung und Speicherkapazität der Zentralnervensysteme der Lebewesen und dem damit verbundenen Grad des Bewusstseins. Diese Zentralnervensysteme und der damit verbundene Grad an Informationsverarbeitung sind Produkte der natürlichen Evolution. Diese Quantität lässt sich neurobiologisch abschätzen und sogar durch Experimente oder Gehirnscans eindeutig messen. Die Priorität der Lebensbedürfnisse nimmt mit stärkerer Ausprägung eines biographischen Gedächtnisses und Extrapolationsvermögens zu. Aufbauend auf diesen Kenntnissen lassen sich Interessen und Präferenzen individuell je nach Handlungssituation, Spezieszugehörigkeit und geistigen Fähigkeiten gewichten. Die neuronale Rechenleistung und daraus resultierende Wahrnehmungsgabe und Bewusstseinsfähigkeit eines Lebewesens sind maßgeblich für seine ethischen Rechte und Pflichten. Damit ist der Utilitarismus auch eine evolutionäre Ethik. Des Weiteren lässt sich durch die Erkenntnisse der Psychologie festhalten, dass die Fähigkeiten zu einer utilitaristischen Abschätzung und Beurteilung von Recht und Unrecht einer Handlung betreffend eines bestimmten Individuums bei Menschen aller Kulturen zu einem erheblichen Teil auch ohne Training auf diesem Gebiet vorhanden sind und meist intuitiv ethisch gerecht getroffen werden.
Die Grundprinzipien lassen sich also wie folgt zusammenfassen:
Das Konsequenzprinzip: Im Utilitarismus als teleologische Ethik ergibt sich die Richtigkeit einer Handlung grundsätzlich nicht aus ihr selbst oder ihren Eigenschaften, sondern aus ihren Folgen. Sind die Folgen einer Handlung überwiegend positiv, wird auch die Handlung als positiv bewertet. Ist jedoch voraussehbar, dass die Folgen überwiegend negativ ausfallen, ist die Handlung zu unterlassen oder eine andere Handlungsalternative zu wählen. Andere Fragen, etwa ob eine Handlung aus gutem Willen erfolgt oder nicht, sind hierbei von untergeordnetem oder gar keinem Interesse. Das Konsequenzprinzip impliziert gleichzeitig eine empiristische Vorgehensweise. Damit entspricht der Utilitarismus zugleich auch dem Ideal der Wissenschaftlichkeit.
Das Nutzenprinzip: Möchte man nun die Folgen einer Handlung beurteilen, so wird ein Maßstab benötigt, mit dessen Hilfe festgelegt werden kann, welche Auswirkungen als positiv bzw. negativ zu bewerten sind. Der Utilitarismus schlägt hier den Nutzen einer Handlung vor. Daher leitet sich auch sein Name von dem lateinischen Wort utilitas (= der Nutzen) ab. Die Folgen einer Handlung sind also dann positiv, wenn sie einen möglichst hohen pro Kopf Nutzen für alle Beteiligten bringen.
Das universalistische Prinzip: Das universalistische Prinzip besagt, dass bei der Berechnung des Nutzens nicht nur die Interessen des einzelnen Akteurs berücksichtigt werden dürfen, sondern dass die Folgen einer Handlung daraufhin geprüft werden müssen, welche Auswirkungen sie für alle bewusstseinsfähigen Lebewesen haben, die von der Handlung betroffen sind. Dabei müssen die Einzelinteressen bei gleichen individuellen und situativen Voraussetzungen stets gleich gewichtet werden und es darf keine objektiv unbegründete Bevorzugung oder Benachteiligung einzelner Individuen auftreten. Anhand dieser vier Prinzipien lässt sich ein Nutzenkalkül durchführen, bei dem die gewichteten Vor- bzw. Nachteile einer Handlung gegeneinander aufgewogen werden und letztendlich eine eindeutige Entscheidung getroffen werden kann, wie die Handlung moralisch zu bewerten ist.
Fazit: Betrachtet man utilitaristische Theorien unvoreingenommen, so zeigen sich vor allem drei Aspekte, die den Utilitarismus zu einer besonders attraktiven Position machen. Zunächst ist das utilitaristische Nutzenkalkül ein sehr rationales Verfahren, das unabhängig von metaphysischen Entitäten bestehen kann. Hier wird kein Gott, kein Gewissen oder eine sonstige transzendentale Instanz als Garant für Moralität gefordert. Vielmehr beruhen moralische Entscheidungen auf rationalen, logischen Erwägungen, die jeder Mensch nachvollziehen kann. Dies entspricht dem Anspruch einer modernen, aufgeklärten Gesellschaft. Ein anderer Vorteil besteht darin, dass die utilitaristischen Prinzipien unseren moralischen Intuitionen entsprechen. Dass bei der Beurteilung einer Handlung die Folgen eine Rolle spielen sollten und dass diese gut sind, wenn sie für alle Betroffenen nützlich sind, ist genauso konsensfähig wie die Annahme, dass Glücksempfinden, die Erfüllung und das Hegen von Wünschen und Interessen, sowie Zukunftshoffnungen erstrebenswert sind und dabei die Interessen eines jedes Lebewesens berücksichtigt werden sollten. Zudem lässt sich das Kernelement des Utilitarismus in Form der Präferenzen mittels Neurobiologie und Informationswissenschaft quantitativ und qualitativ ermitteln, analysieren, herleiten und evolutionär begründen. Damit erfüllt der Utilitarismus die Kriterien einer humanistischen Ethik und sollte darum konsequente Anwendung auf sämtliche Fragen und Entscheidungen innerhalb der verschiedenen Sachgebiete über Wissenschaft, Technologie, Justiz, Finanzen, Umweltschutz und Entwicklungshilfe – kurzum, der gesamten Politik finden.
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