Rouven Metternich: Panta rhei - Buchbesprechung
Panta Rhei – diese Weisheit des griechischen Philosophen HERAKLIT beschreibt die wohl fundamentalste Eigenschaft alles real Existierenden: Nichts in der Welt ist unveränderlich, wir leben in einem sich unablässig wandelnden, ja evoluierenden Kosmos. Somit ist der Haupttitel des vorliegenden Buchs gut gewählt, wogegen der Untertitel für Missverständnisse sorgen könnte. Er erweckt den Eindruck, das Buch widme sich exklusiv dem zeitlichen Verlauf der Bioevolution, ohne ihre Triebkräfte angemessen zu würdigen. Tatsächlich jedoch behandelt der Autor die molekulargenetischen Mechanismen, die bei der Entstehung biologischer Komplexität die Hauptrolle spielen, in einer für populärwissenschaftliche Evolutionsbücher erstaunlichen Gründlichkeit und Tiefe. Im zweiten Buchteil erklärt er mit ihrer Hilfe die Evolution ausgewählter Merkmale in der Erdgeschichte.
Der Autor Rouven Marian METTERNICH studierte Biologie an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz, wo er 2017 im Fachbereich Genetik promovierte. Die Thematik des Werks fällt also in die Kernkompetenz des Autors, und das merkt man dem Buch an. Neueste Erkenntnisse aus der Gen-, Genom- und molekularen Evolutionsforschung fließen in die Inhalte ein, ohne dass der Sprachduktus in unverständliches Kauderwelsch abglitte. Im Gegenteil, METTERNICH bedient sich einer ausgesprochen plastischen, auch für Nichtfachleute verständlichen Sprache, ohne die komplexe Thematik in unzulässiger Weise zu vereinfachen.
Gliederung und Inhalt
Der Inhalt des Buchs untergliedert sich in zwei Hauptabschnitte: Im ersten („Raum: Gene und Genome“) bespricht METTERNICH das Equipment, mit dem der genetische Werkzeugkasten der Evolution bestückt ist. Er diskutiert Aufbau, Funktion und evolutionäre Entstehung der informationstragenden Biomoleküle RNA und DNA, den „langen Weg vom Gen zum Protein“ sowie die Bedeutung der Genregulation für die Entstehung zellulärer und morphologischer Komplexität.
Besonders bedeutsam ist die zunehmende Fragmentierung der Gene im Lauf der Evolution. Damit ist gemeint, dass die informationstragenden Abschnitte eines Gens, die in die „reife“ Genabschrift (Boten-RNA) übersetzt werden (die so genannten Exonen), durch lange nicht-kodierende Bereiche (Intronen) unterbrochen sind. Letztere tragen keine genetische Information und werden durch das sogenannte Spleißen aus der noch unreifen Genabschrift entfernt. Erst danach entsteht durch Verknüpfung der Exonen die reife Boten-RNA, die dann als Vorlage für Proteinbiosynthese dient.
METTERNICH führt aus, dass diese zumeist nutzlosen Intronen die Evolution biologischer Komplexität enorm beschleunigten. Zum einen können viele Gene eine mehr oder weniger große Anzahl unterschiedlicher Genprodukte hervorbringen, und zwar durch alternatives Spleißen. Dabei können verschiedene Exonen ausgespart werden, sodass sie den gleichen Weg einschlagen wie Intronen: Sie werden aus der Genabschrift herausgeschnitten und finden sich nicht in der Proteinsequenz wieder.
Zum anderen können im Lauf der Evolution durch Rekombination der Intronen die Exonen unterschiedlicher Gene miteinander vermischt werden (Exon-Shuffling). Da sie oft für funktionell unabhängige Protein-Faltungsbereiche (Domänen) kodieren, entstehen so Mosaik-Proteine mit ganz neuen Funktionen. Eine solche Neukombination von Domänen verläuft rascher als ihre Neubildung durch Punktmutationen, daher beschleunigt Exon-Shuffling die Evolution. Kein Wunder also, dass biologische Komplexität mit der Nutzung der Exon-Intron-Struktur von Genen korreliert: Während die Genome von Bakterien noch keine Exon-Intron-Organisation aufweisen, sind beim Fadenwurm bereits 25% der Gene in dieser Weise organisiert. Bei den Wirbeltieren sind es satte 95%.
METTERNICH geht auch auf den Ursprung der Intronen ein. So spricht heute alles dafür, dass es sich um mobile DNA-Elemente eines Proteobakteriums handelte. Nachdem ein Archaeon ein solches Bakterium aufnahm, hagelten die parasitären Elemente förmlich auf das Genom der Wirtszelle ein. Sie konnten durch Einbau in die DNA die kodierenden Bereiche der Gene zerstören. Zellen, die es schafften, die fehlerhaften Transkripte effektiv durch eine Spleiß-Maschinerie (die sich aus bakteriellen RNA-Scheren entwickelte) von den Intronen zu befreien, hatten einen Überlebensvorteil. Hier zeigt der Autor, wie die Evolution aus einer Art „Notfallprogramm“ durch Funktionswechsel eine Voraussetzung für die Entstehung komplexen Lebens schuf.
Der zweite Teil des Buchs („Zeit: Der Fluss des Lebens“) widmet sich dem Verlauf der Evolution in den letzten 700 Mio. Jahren. Wir erfahren, wie das Leben Nische um Nische eroberte und welche Lebensgemeinschaften in den erdgeschichtlichen Epochen vorherrschten. Freilich lässt sich Evolution nicht mit einem gleichmäßig dahinplätschernden Fluss vergleichen. Die Stammesgeschichte verlief turbulent, fünf Massenausserben führten zu Brüchen. Jeder ökologische Zusammenbruch bereitete die Bühne für die nach ihm kommenden Lebensformen. Die Säugetiere etwa hätten nie jene beeindruckende Ausbreitung erfahren, wären die ökologischen Nischen nicht durch den kolossalen Untergang der Dinosaurier leergefegt worden.
In diesem Buchteil diskutiert der Autor entscheidende genetische Faktoren, die zur Entstehung ausgewählter Schlüsselmerkmale wie der Kiefer der Gnathostomata (Kiefermäuler) oder der Echolotortung der Wale führten. Dabei wird deutlich, dass Evolution ein komplexes Systemgeschehen ist. Anhand eines der faszinierendsten Transformationen im Känozoikum, der evolutionären Entwicklung und Radiation der Wale, zeigt METTERNICH, wie Geologie, klimatische Veränderungen, Ökologie und Genetik ineinandergreifen und gemeinsam den Kurs der Evolution bestimmen.
Biologische Komplexität durch regulatorische Gennetzwerke
METTERNICHs Buch vermittelt dem Leser die wichtige Erkenntnis, dass weder die Anzahl der Gene noch die Genomgröße gute Indikatoren für morphologische Komplexität sind. Das mag überraschen, schließlich besitzen Bakterien weit weniger Gene als Vielzeller. Bei Lebewesen, deren Zellen einen echten Kern aufweisen, ist die Sache aber anders. Der Fadenwurm Caenorhabditis elegans beispielsweise besitzt trotz seiner Einfachheit kaum weniger Erbfaktoren als der Mensch1), und die Genome einiger Amöben sind bis zu zweihundert Mal größer als das menschliche.
Wenn nicht die Menge der Erbanlagen den Unterschied zwischen Menschen und Fadenwürmern ausmacht, was dann? Der Unterschied liegt teils in der Komplexität (Domänenstruktur) der Proteine, teils in der Anzahl alternativer Spleiß-Produkte. Vor allem aber liegt er in der Regulation der Genaktivität, das heißt in der Komplexität der regulatorischen Gennetzwerke. Diese Netzwerke erzeugen ein Muster räumlicher und zeitlicher Genaktivität (Genexpressionsmuster), welches bestimmt, wo und wann sich im Embryo welche Zelltypen und Organe bilden.
Ob sich aus einem Häuflein undifferenzierter Zellen ein Fadenwurm oder ein Mensch entwickelt, richtet sich also wesentlich nach der genregulatorischen Choreographie, die in verschiedenen Zellen unterschiedliche Zellprozesse initiiert. So müssen in Zellen, aus denen sich Hirn und Rückenmark entwickeln, andere Gene aktiviert und stillgelegt werden als in solchen, aus denen sich Haut und Muskelzellen bilden.
Regulatorische Moleküle erzeugen ein räumliches und zeitliches Muster differenzieller Genaktivität
METTERNICH betrachtet die wesentlichen Aspekte der Genregulation und bereitet dadurch den Boden für das Verständnis des makroevolutionären Wandels. Wesentlich ist dabei die Erkenntnis, dass eine ganze Reihe von „Schaltern“ (regulatorischen Molekülen oder Regulatoren) die Genexpression beeinflusst. Im Gegensatz zu Lichtschaltern, die nur zwei Zustände kennen, nämlich „an“ oder „aus“, ist die Sache bei der Genregulation aber deutlich komplizierter.
Da die Wechselwirkungen zwischen der DNA und den Regulatoren komplex und dynamisch sind, existiert ein breites Spektrum an Mechanismen, um Gene zelltypspezifisch zu aktivieren, in ihrer Aktivität zu verstärken, zu hemmen, komplett abzuschalten oder dauerhaft ausgeschaltet zu lassen. Tatsächlich werden in jeder Zelle überwiegend nur die für den Zelltyp charakteristische Gene aktiviert. Bewerkstelligt wird dies durch eine ganze Batterie regulatorischer (Signal-) Moleküle.
Zentral für die Regulation der Genaktivität ist eine DNA-Sequenz am Anfang eines jeden Gens, der sogenannte Promotor. Von diesem regulatorischen Bereich aus startet ein Enzym namens RNA-Polymerase den Ableseprozess (Transkription), aktiviert also das Gen. Voraussetzung dafür ist die Anwesenheit spezifischer Transkriptionsfaktoren (TF). Das sind „Schalter"-Proteine, die zu den Promotor-Bindestellen passen, sich dort anlagern und die RNA-Polymerase sozusagen richtig „in die Spur“ setzen. Weitere allgemeine und zellspezifische Faktor-Proteine innerhalb oder außerhalb der Zelle beeinflussen die Genaktivierung entweder positiv oder negativ. Sie vereinigen sich mit der RNA-Polymerase zu regelrechten Initiationskomplexen, die das Ablesen des Gens einleiten oder abschwächen.
Bei Eukaryoten erfüllen etwa 10 Prozent der Gene regulatorische Aufgaben. Startpunkt der Regulations-Kaskade sind mütterliche Gen-Transkripte, die schon vor der Befruchtung in der Eizelle existieren. Sie kodieren für TF, die sich anfangs an verschiedenen Enden des sich entwickelnden Organismus konzentrieren. Die dadurch entstehenden Konzentrationsgefälle legen die Körperachsen im frühen Embryo fest und bestimmen, wo im sich entwickelnden Organismus vorn und hinten, oben und unten ist. Je nach Konzentration und Lage im Körper aktivieren oder hemmen sie andere formgebende Gene. Weiter unten in der Hierarchie stehen die sogenannten Hox-Gene. Je nach Körperregion werden verschiedene Hox-Gene aktiviert, die ihrerseits lagespezifisch die Expressionsmuster nachgeordneter Regulations- und Strukturgene steuern.
Komplexität durch Kombinatorik
Wenn wir uns vor Augen halten, dass in jeder Zelle viele tausend Gene reguliert werden, erkennen wir, dass es nicht für jedes Gen bzw. seinen Promotor eigene „Schalter"-Moleküle geben kann. Sie würden ja ebenfalls wieder von Genen stammen, die ihrerseits reguliert werden müssten usw. – eine nicht zu bewältigende Bürokratie!
METTERNICH zeigt, wie elegant die Natur dieses Problem löste – nämlich durch Kombinatorik: Einerseits gibt es eine begrenzte Anzahl regulatorischer Moleküle: Transkriptionsfaktoren, ihre Untereinheiten und Co-Faktoren, lange nicht-kodierende RNA-Moleküle (lnc-RNA), Micro-RNAs (mi-RNAs) usw. Da sie alle die Transkription in der einen oder anderen Weise beeinflussen, entscheidet das Zusammenspiel dieser Faktoren, wann welche Gene wie stark aktiviert werden. Andererseits haben die meisten Promotoren einen unterschiedlichen Satz von Bindungsstellen für mehrere Faktoren. Die Spezifität eines Promotors richtet sich nach der Kombination dieser Bindungsstellen.
Da auch zelltypspezifische Moleküle als regulatorische Signalgeber wirken, differenzieren sich Zellen unter dem Einfluss ihrer chemischen oder physikalischen Umgebung unterschiedlich. Benachbarte Zellen haben also einen Einfluss darauf, welche Gene aktiviert und deaktiviert werden, sprich: zu welchen Geweben und Organen sich die Zellen differenzieren. Auf diese Weise gewinnen die Zellen sozusagen „Lageinformation“, die ihr weiteres Schicksal bestimmt. Es liegt ein komplexes Wechselspiel aus Embryonalzustand und Genaktivierung vor.
Durch spielerisches Drehen an diesen Stellschrauben und sukzessives Erweitern der kombinatorischen Vielfalt schafft es die Evolution, fast beliebig komplexe regulatorische Gennetzwerke und immer neue Zelltypen und Organe hervorzubringen.
Kleine Helfer, gewaltiges Evolutionspotenzial
Sein Hauptaugenmerk legt METTERNICH auf die faszinierenden Möglichkeiten nicht-proteinkodierender DNA-Bereiche, die noch vor wenigen Jahrzehnten als nutzloser DNA-Müll („Junk-DNA“) galten. Wir beginnen mehr und mehr zu verstehen, dass diese Genombereiche – vor allem ihre fortlaufende Ausweitung und Diversifizierung – in der Evolution komplexer Lebensformen eine wichtige Rolle spielten.
Ein Beispiel: Die meisten proteinkodierenden Gene von Mensch und Seeanemone unterscheiden sich nur wenig. Warum sind dann Menschen so viel komplexer als Blumentiere? Die Antwort hatte viele überrascht: Unter anderem, weil der Mensch mehr als 1.500 verschiedene mi-RNAs besitzt, während die Seeanemone nur über etwa 90 davon verfügt. Diese regulatorischen Moleküle sind lediglich 22 Basenpaare lang und werden nicht in Proteine umgeschrieben.
Trotz ihrer Kleinheit ist ihr evolutionäres Potenzial gewaltig: Die genregulatorischen Helfer werden im Lauf der Evolution fortwährend dupliziert, sammeln sich im Genom an und werden durch Mutationen leicht abgewandelt. Je nach Struktur und Expressionsort legen sie bestimmte Gene still und differenzieren dadurch die Zellprozesse. Dies tun sie, indem sie sich an bestimmte Gen-Transkripte binden und deren Abbau einleiten oder durch Blockade eine Unterbrechung der Proteinherstellung bewirken.
Mi-RNAs waren ein wichtiger Baustein, der es Tieren und Pflanzen ermöglichte, komplexere genregulatorische Netzwerke zu entwickeln. Je mehr von ihnen sich zu regulatorischen Netzwerken zusammenschließen, desto komplexer die Körperform bzw. desto größer die Anzahl verschiedener Zelltypen. Auch beim Übergang von Einzeller-Kolonien zu differenzierten Vielzellern spielten sie eine wichtige Rolle.2)
Ein anderes Beispiel ist das zentrale Nervensystem der Säugetiere, das in der Evolution stetig komplexer wurde. Hand in Hand ging diese Entwicklung mit der Zunahme der Anzahl bestimmter RNA-Transkripte, den lnc-RNAs. Da lnc-RNA-Gene gewebsspezifisch exprimiert werden und als zusätzliche Ebene bei der Regulation wirken (sie interagieren mit TFs), wird ein hohes Maß an Zelltypspezifität erreicht. Die Zunahme der Anzahl der lnc-RNA-Gene und deren Modifikation bedingte sowohl eine Größenzunahme des Gehirns als auch die Diversifizierung der neuronalen Zelltypen. Mutationen in einem lnc-RNA-Gen in der HAR1-Region waren wiederum für die rasante Entwicklung der menschlichen Großhirnrinde in den letzten 7 Mio. Jahren mit verantwortlich.
Homöobox-Gene und die Macht der Genduplikation
Eine wichtige Ursache für die „Explosion“ der Formenvielfalt im Kambrium und Ordovizium war die teils mehrfache Genom-Verdopplung der Vorfahren. Die duplizierten Gene konnten sich diversifizieren und nach und nach in neue regulatorische Netzwerke einschalten. Konkret nimmt sich der Autor der Evolution des Kieferapparats, der Umfunktionierung der Kiemen zu Kiefern, während des Ordoviziums an: Die Formung eines definierten Kieferapparats erfordert viele unterschiedliche Gene, die als duplizierte Kopien existenter Gene entstanden. Diese neuen Kopien konnten sich anschließend durch Mutationen so verändern, dass sie bereits vorhandene Strukturen ein höheres Maß an Komplexität ermöglichten.
Eine tragende Rolle dabei spielten Homöobox-Gene wie die Dlx-Gene. In den Kiemenbögen kieferloser Fische waren sie zunächst homogen aktiv, der von ihnen ausgehende regulatorische Einfluss über die ganzen Kiemenbögen hinweg identisch.
Das änderte sich mit der Duplikation der Dlx-Gene: Entlang der Längsachse der Kiemenbögen wurden unterschiedliche Kopien aktiv, die mutationsbedingt leicht unterschiedliche Funktionen erwarben: Neue Promotor-Bindestellen führten dazu, dass jedes Dlx-Gen an anderer Stelle aktiv wurde. Durch sukzessives Einschalten von Genen in die Dlx-Regelstrecken (etwa von solchen, die für Knochenbildung verantwortlich sind) führte dazu, dass jedes Dlx-Gen regional etwas andere Gene aktiviert. So bildeten die Dlx-Kopien nach und nach ihre eigenen regulatorischen Netzwerke auf.
Gestützt wird das Modell durch embryologische Befunde: Bei Kiefermäulern bestimmen Dlx-Gene die Identität von Neuralleistenzellen, die in den ersten Schlundbogen einwandern und sich dort zu Knorpelelementen des Kiefers, Knochen, Muskeln usw. differenzieren. Vor der Besiedelung hat diese Zellpopulation noch keine topografischen Informationen, um kiefermorphogenetische Prozesse zu entfalten. Diese Informationen erhalten sie erst von anderen Zellpopulationen in Gestalt von Signalmolekülen, die bestimmte Dlx-Gene in den Neuralleistenzellen aktivieren. Letztere aktivieren wiederum Gene für Proteine und Wachstumsfaktoren, die Entwicklungsereignisse wie Knochenbildung, Knorpelgewebsdifferenzierung usw. induzieren.
Intelligent Design und nicht reduzierbare Komplexität
METTERNICH greift an einer Stelle auch anti-evolutionistische Einwände auf, nämlich beim Translationssystem von Säugetierzellen. Deren Proteinfabriken (Ribosomen) setzen sich aus über 50 verschiedenen Proteinen und mehreren riesigen RNA-Molekülen zusammen. Eine graduelle Evolution dieser „nicht reduzierbar komplexen“ Maschine zum Zweck der Proteinsynthese erscheint unmöglich, da der Ausfall auch nur einer einzigen Proteinuntereinheit zum funktionellen Versagen des Ribosoms führt.
Wie der Autor bemerkt, liegen die Dinge jedoch anders, wenn sich das System „als evolutionäres Nebenprodukt eines gänzlich anderen Selektionsprozesses entwickelt [hat], wodurch im Laufe der Zeit die Fähigkeit zur Proteinsynthese entstand“ (S. 77).
Die Wissenschaft kann belegen, dass am Beginn der Evolution katalytisch aktive RNA-Moleküle (Ribozyme) standen. Ihre ursprüngliche Funktion bestand nicht darin, Proteine entstehen zu lassen, sondern ihre eigene Replikation zu optimieren. Die Effizienz dieses Prozesses nimmt erheblich zu, sobald mehrere leicht unterschiedliche Ribozyme komplex arbeitsteilige Verbände bilden und durch Bindung kleinerer Peptide oder einzelner Aminosäuren stabilisiert werden. In weiteren Schritten erlangten die Ribozyme die Fähigkeit, „mehrere Aminosäuren miteinander zu verbinden, um so die Effizienz der eigenen Reaktion noch weiter zu erhöhen“ (S. 79).
Der Autor führt aus, wie sich einzelne Ribozym-Kopien in weiteren Schritten der Subfunktionalisierung auf die Produktion bestimmter Aminosäureketten spezialisiert haben konnten, während andere die Aufgabe übernahmen, die verfügbaren Aminosäuren fest an sich zu binden. Der Prozess schritt fort, bis jede verfügbare Aminosäure ihre eigene t-RNA besaß. Wieder andere Ribozyme spezialisierten sich darauf, die mit Aminosäuren beladenen t-RNA-Moleküle zu binden. So wurden, unter Wahrung von Funktionalität und Adaptivität, jene Systeme selektiert, in denen die neu entstehenden Peptidketten den höchstmöglichen Vorteil für das Gesamtsystem erwirtschafteten. Am Ende des Prozesses stand der genetische Code samt Proto-Ribosom; eine nichtreduzierbar komplexe Maschinerie, additiv entstanden in vielen kleinen Einzelschritten.
Fazit
METTERNICH legt die molekulargenetischen Grundlagen der Evolution gründlich und eloquent dar. Sein Buch gestattet tiefe Einblicke in die evolutiven Ursprünge des genetischen Codes, der Translationsmaschinerie moderner Vielzeller und ihrer genomischen Ökosysteme wie Intronen, mi-RNAs und anderer genregulatorischer Elemente. Dass vor allem letztere die Tür zur biologischen Komplexität weit aufstoßen, indem sie der Evolution den Aufbau immer neuer und komplexerer genregulatorischer Netzwerke gestatten, erörtert der Autor anhand vieler faszinierender Beispiele.
Obwohl sich die Monografie hauptsächlich an Nichtfachleute richtet, kann die Lektüre auch Biologen empfohlen werden. Neuere Fachliteratur zu den angesprochenen Themen gestattet es Interessierten, das Angesprochene zu vertiefen.
Kritisch anzumerken ist, dass das Buch über kein Stichwortverzeichnis verfügt. Zudem ist der Preis von 48,- € für dieses gelungene Buch leider recht hoch.
Rouven Marian Metternich: Panta Rhei - Eine Reise auf dem Fluss der Evolution (wbg Academic, 2021)
Fußnoten
[1] Nesseltiere wie der Süßwasserpolyp Hydra besitzen ähnlich viele Gene, obwohl ihr Körper nur einen mit Tentakeln und Nesselzellen bewehrten Sackdarm bildet, in den Nahrung hineinfließt und der Abfallstoffe in entgegengesetzter Richtung wieder ausscheidet. Ihre Entwicklung bleibt auf der Stufe des Gastrula-Stadiums stehen, das bei höheren Tieren am Anfang steht. Auch ein drittes Keimblatt (Mesoderm) fehlt, aus dem bei Wirbeltieren Blutgefäße, Herz, Knochen und Muskeln hervorgehen. Dennoch verfügen sie schon über das vollständige Repertoire an Mesoderm-Genen! Die genetische Vielfalt ging der morphologischen Komplexität also deutlich voraus; der größte Teil des Genkatalogs höherer Organismen existiert seit 650 Mio. Jahren.
[2] Exemplarisch lässt sich der Übergang zur Vielzelligkeit noch innerhalb der eng verwandten Grünalgen-Gattungen der Volvocales studieren. Dort nehmen die morphologische Komplexität und der Differenzierungsgrad der Zellen von Chlamydomonas (Einzeller) über Tetrabaena (Kolonie aus vier Zellen) und Pandorina (16 Zellen) hin zu Eudorina (32 Zellen) und Pleodorina (128 Zellen) zu. Beim echten Vielzeller Volvox schließlich haben sich die Genexpressionsmuster der Zellen so weit individualisiert, dass eine differenzierende Zellteilung in somatische und reproduktive Zellen eintritt. Auch hier tragen mi-RNAs zur Vielzelligkeit und Arbeitsteilung der Zellen bei.
Kommentare
Neuer Kommentar