Es ist Teil ihrer Kultur

Nick Cohen im Lichte der Jaipur-Affäre lesen

Es ist Teil ihrer Kultur

CK - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, Wikipedia

Ich bin gerade vom Literaturfestival in Jaipur zurückgekehrt, nun berüchtigt für die jüngste Wiederholung der Drohungen aus dem Jahr 1989 gegen Sir Salman Rushdie durch Muslime in aller Welt, welche bedauerlicherweise von führenden Kirchenmännern, Politikern, Historikern und ansonsten liberalen Journalisten beklatscht wurden. Zufällig lese ich gerade „You Can't Read this Book“, Nick Cohens brillante Breitseite gegen „Zensur in einem Zeitalter der Freiheit“.

Zensur und Meinungsfreiheit beschäftigen mich diese Woche also sehr. In Cohens Buch geht es auch um andere Aspekte von Zensur und Einschüchterung, die ich hier nicht erörtern möchte. Dazu gehören die stillschweigende Zensur, die durch den Freibrief für Verleumdungstourismus, das geltende englische Recht, auferlegt wird, und die Einschüchterung von Bankangestellten durch diktatorische Chefs wie den abscheulichen „Fred the Shred“ (dem heute der Ritterschlag verweigert wurde, und wenn wir Sündenböcke brauchen, hätte es keinen böseren Mann treffen können).

Auf dem Festival in Jaipur begannen drei mutige indische Schriftsteller ihre literarischen Darbietungen mit einer öffentlichen Lesung aus den Satanischen Versen und trotzten damit den Einschüchterungsversuchen der Zivilregierung. Ich entschied mich, Rushdie auf andere Weise zu unterstützen, indem ich aus meinen eigenen „Worten für Rushdie“ las, die zum Zeitpunkt der ursprünglichen Fatwa im New Statesman veröffentlicht wurden - denn diese Zeitschrift war eine ehrenvolle Ausnahme von der weit verbreiteten Sitte, das Opfer und nicht die muslimischen Verursacher des Verbrechens zu beschuldigen.

Die Organisatoren des Festivals befanden sich in einer unglaublich schwierigen Lage. Im Stich gelassen von der rückgratlosen Regierung Rajasthans, die bei den laufenden Wahlen nur auf die Stimmen der Muslime schielt, taten sie ihr Bestes. Sie wurden persönlich von einem brüllenden Mob bärtiger Jugendlicher bedroht, die in das Festivalgelände eindrangen und Mord und Chaos versprachen, falls Rushdie auch nur eine Videoverbindung gestattet würde (wie Germaine Greer zur Zeit des dänischen Karikaturenstreits sagte: „Was diese Leute wirklich lieben und am besten können, ist das Pandämonium“).

In meiner Rede verglich ich die muslimischen Fatwa-Schürer mit dem päpstlichen Nuntius, der 1580 die Engländer dazu aufforderte, Königin Elisabeth zu ermorden, weil sie „dem katholischen Glauben so viel Schaden zufügte ...“. Ich fuhr fort zu sagen:

Unsere ganze Gesellschaft ist gegenüber der Religion nachgiebig. Die Annahme, dass religiöse Empfindlichkeiten irgendwie eine besondere Beachtung verdienen, ist bemerkenswert weit verbreitet, - eine Rücksichtnahme, die gewöhnlichen Vorurteilen nicht zugestanden wird. […] Ich gebe zu, dass mich der Weihnachtsmann, das Jesuskind und Rudolf, das rotnasige Rentier beleidigen, aber wenn ich versuchen würde, diese Vorurteile auszuleben, würde man mich zu Recht zur Rechenschaft ziehen. Ich wäre gefordert, mich zu rechtfertigen. Aber wenn die *Religion* eines Menschen beleidigt wird, ist das eine ganz andere Sache. Nicht nur, dass die Beleidigten selbst einen gewaltigen Aufstand machen, sie werden auch von einflussreichen Persönlichkeiten aus anderen Religionen und dem liberalen Establishment unterstützt und ermutigt. Die Religiösen sind weit davon entfernt, dass von ihnen wie von alle anderen gefordert wird, ihre Überzeugungen zu rechtfertigen, sondern sie finden Zuflucht in einer Art intellektueller No-Go-Area.

Es gibt zwei mögliche Gründe vor einer gewalttätigen Bedrohung, wie sie dem Literaturfestival in Jaipur letzte Woche widerfahren ist, einen Kotau zu machen.

Ich werde Ihren Forderungen nach Unterdrückung der Redefreiheit nachgeben, nur weil ich Ihre Drohungen fürchte. Aber verwechseln Sie nicht eine Nanosekunde lang Angst mit Respekt. Ich respektiere Sie nicht, ich verachte Sie und alles, wofür Sie stehen - vor allem, weil Ihr Glaube offenbar so schwach ist, dass es gewalttätiger Drohungen bedarf, um ihn zu stützen.

Ich finde, dass an einer solchen Reaktion nichts Verwerfliches ist. Sie ist nicht feige, sondern einfach nur klug, und Nick Cohen lobt Grayson Perry dafür, dass er eine mildere Version davon verwendet. Aber das Gleiche kann man von der folgenden Aussage nicht sagen:

Ich werde euch nachgeben, weil ich weiß, dass die Redefreiheit nicht Teil eurer Kultur ist. Wer bin ich, dass ich Ihrer ganz anderen und ebenso wertvollen Kultur westliche, kolonialistische, paternalistische Ideen wie die Redefreiheit aufzwingen kann? Natürlich sollten Ihre „Verletzung“ und „Beleidigung“ Vorrang vor unserer rein westlichen Voreingenommenheit bezüglich der Redefreiheit haben, und natürlich werden wir den Video-Link löschen.

Niemand würde diesen herablassenden Gedanken so unverschämt explizit äußern, aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass dies der Subtext eines Großteils des schwammigen, liberalen Entgegenkommens ist, das wir zur Zeit der Fatwa und der Bücherverbrennung in Bradford sowie während der dänischen Karikaturenaffäre erlebt haben. Am nächsten kam ihr meines Wissens der deutschen Richterin, die 2007 den Scheidungsantrag einer marokkanisch stämmigen Frau mit der Begründung ablehnte, der Koran erlaube Ehemännern, ihre Frauen zu schlagen.

Nick Cohen zitiert Robert Hughes über die heuchlerische Doppelmoral liberaler Akademiker:

An amerikanischen Universitäten war man der Meinung, dass ein Mann, der sich auch nur mit einem lüsternen Blick umsah oder eine junge Frau als „Mädchen“ statt als „Frau“ bezeichnete, sich eines groben sexuellen Fehlverhaltens schuldig machte. Doch im Ausland war es „mehr oder weniger in Ordnung für eine Kabale regressiver theokratischer Fanatiker, auf dem Tschador zu bestehen, Dieben die Hände abzuschneiden und Straftätern im Fernsehen die Augen auszustechen und Schriftsteller als Staatspolitik zu ermorden. Unterdrückung ist das, was wir im Westen tun. Was sie im Nahen Osten tun, ist „ihre Kultur“. Die Linken konnten nicht Stellung beziehen, weil ihrer Meinung nach die Verteidigung von Rushdie in gewisser Weise bedeuten würde, Rassisten zu unterstützen und die Hand des einzigen Feindes zu stärken, den sie zugeben können: die imperialistischen Kriegstreiber in Washington, DC.

Cohen beklagt eine ähnliche Heuchelei bei der Behandlung der aus Somalia stammenden Heldin Ayaan Hirsi Ali in den Niederlanden, als ihr Leben in einem Brief, der auf die ermordete Leiche von Theo van Gogh aufgespießt war, auf abscheuliche Weise bedroht wurde, und zwar durch das Fleischermesser, mit dem ihm die Kehle durchgeschnitten worden war. Die beiden hatten gemeinsam einen bemerkenswert sanften und unaufdringlichen zehnminütigen Film über drei leise leidende muslimische Frauen gedreht. Das war die „Beleidigung“, die „Verletzung“ islamischer Empfindlichkeiten, für die van Gogh abgeschlachtet und Ayaan bedroht wurde. Cohen geht es darum, dass die liberalen Intellektuellen, die ihre natürlichen Verbündeten hätten sein sollen, sie gerade dann im Stich ließen, als sie sie am meisten brauchte. Sie war gezwungen, aus den Niederlanden zu fliehen, wo sie Mitglied des Parlaments war, und suchte Zuflucht in den USA, wo sie von einer amerikanischen politischen Institution aufgenommen wurde, die weit von ihrer natürlichen politischen Heimat entfernt war.

Ayaan wurde sogar von ihren Nachbarn schäbig behandelt, die befürchteten, dass sie bei einem Angriff auf ihre Wohnung zu Kollateralschäden werden könnten. Schlimmer noch, ein niederländisches Gericht entschied, dass die Unterbringung von Ayaan an einem neuen sicheren Ort „eine Verletzung der Menschenrechte ihrer neuen Nachbarn“ sei. Und Nick Cohen zitiert ein erschreckendes Beispiel für eine ähnliche Situation in England. Peter Mayer war Salman Rushdies mutiger Verleger bei Penguin Books, und er erhielt viele Morddrohungen, darunter eine mit Blut gekritzelte. In einem anonymen Telefonanruf wurde Mayer mitgeteilt, dass „sie nicht nur mich töten, sondern auch meine Tochter mitnehmen und ihren Kopf gegen eine Betonwand schlagen würden“. Cohen greift die Geschichte auf:

Anstatt sich zu versammeln, um ein unschuldiges Mädchen und ihren unschuldigen Vater zu verteidigen, forderten die Eltern ihrer Klassenkameraden, dass die Schule sie von der Schule verweist. Was würde passieren, fragten sie, wenn die iranischen Attentäter in die Schule gingen und das falsche Mädchen erwischten? Und Mayer dachte: „Sie glauben, dass meine Tochter das richtige Mädchen ist?“ Die gleiche Feigheit begegnete ihm, als er sich in New York um eine Genossenschaftswohnung bewarb. „Es gab Einwände, dass die Iraner ein Killerkommando schicken und die falsche Wohnung ins Visier nehmen könnten. Als ob ich etwas falsch gemacht hätte.“

Mayer war näher an der Wahrheit, als ihm bewusst war. Nach Rushdie bedeutete die Angst vor einem Messer in den Rippen oder einer Bombe im Büro, dass Liberale, die am Liberalismus festhielten, im Unrecht waren. Sie kannten jetzt die Konsequenzen. Wenn jemand sie tötete, waren sie schuldig, ihren eigenen Mord zu provozieren. In den Augen der meisten Politiker und der meisten Journalisten, Rundfunkanstalten, Akademiker und Intellektuellen, deren Lebensunterhalt von der Freiheit zu diskutieren und zu kritisieren abhing, hatten die Opfer religiöser Gewalt niemanden außer sich selbst zu beschuldigen
.

An anderer Stelle in seinem Buch erörtert Cohen in ähnlicher Weise die konformistischen Reaktionen auf die so genannten „neuen Atheisten“.

Die neuen Atheisten waren der Meinung, dass das beste Argument gegen islamistischen Terror, christlichen Fundamentalismus, hinduistischen oder jüdischen Nationalismus darin besteht, unverblümt zu sagen, dass es keinen Gott gibt und wir erwachsen werden sollten. Die Angst vor religiöser Gewalt war auch der Auslöser für die Gegenreaktion derjenigen, die der Meinung waren, dass die Beschwichtigung von psychopathischen Gläubigen die sicherste Politik sei, dass sie sich vielleicht beruhigen würden, wenn wir nett zu ihnen wären. Erste Mainstream-Kommentatoren beklagten die Unsensibilität und geradezu Unhöflichkeit, mit der die neuen Atheisten die Religiösen behandelten. Die Beschwerden liefen auf einen einfachen und kläglichen Aufschrei hinaus: „Warum könnt ihr nicht aufhören, sie zu verärgern?“

Das kann man nicht, wenn man sich wie Ayaan Hirsi Ali gegen die klerikale Unterdrückung wendet.

Cohen hat zu Recht Verständnis für die Notlage gemäßigter Muslime, die zwischen ihren eigenen mörderischen Glaubensbrüdern einerseits und den rassistischen Fanatikern der weißen Rechten andererseits gefangen sind. Ironischerweise tröstet ihn die Tatsache, dass nur ein Drittel der jungen britischen Muslime zwischen 16 und 24 Jahren die Hinrichtung von Abtrünnigen unterstützt. Nur!

Als ich Sir Iqbal Sacranie, Großbritanniens führenden „gemäßigten“ Muslim, öffentlich auf diese Frage ansprach, wich er wiederholt aus, bevor er schließlich einräumte, dass die Todesstrafe tatsächlich die vorgeschriebene Strafe für Apostasie ist, aber er beteuerte, dass „sie nur sehr selten vollstreckt wird.“ Also das ist dann schon in Ordnung. Die (gemäß dem Erzbischof von Canterbury „unvermeidliche“) Scharia wird kommen. Sir Iqbal, der übrigens für seine Verdienste um die „Beziehungen zur Gemeinde“ zum Ritter geschlagen wurde, sagte zum Zeitpunkt der Fatwa über Salman Rushdie: „Der Tod ist vielleicht zu einfach für ihn.“

Aber natürlich dürfen wir nicht schockiert sein, es ist ihre Kultur und wir müssen sie respektieren.

Übersetzung: Jörg Elbe

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