Nicht nur die Arten entwickeln sich laufend fort, auch die Lehre ihrer Entstehung wird immer wieder ergänzt – in Frage gestellt wird sie aber von Wissenschaftlern nicht.
Das größte Missverständnis an der Evolutionstheorie ist vermutlich der Wortteil „Theorie“. „Die Evolution ist eine Tatsache“, betont Ulrich Kutschera, Professor für Evolutionsbiologie an der Uni Kassel und Vorsitzender des Arbeitskreises Evolutionsbiologie. „Sie hat stattgefunden und sie dauert an.“ Obwohl das Wort „Theorie“ wissenschaftlich verwendet werden kann – siehe „Relativitätstheorie“ –, nutzen es viele Menschen, um der Evolution als solches eine Diskutierbarkeit zu unterstellen. Oder sie ganz abzuschaffen, wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, der die Evolution aus dem Schul-Lehrplan entfernen ließ.
Tatsache ist auch: „Es gibt nicht die eine Evolutionstheorie“, sagt Kutschera. Was schon Charles Darwin im 19. Jahrhundert festgestellt hatte. Eine Vielzahl von Prozessen treibt die Evolution voran. Wohl eine der bekanntesten: Die Selektion oder natürliche Auslese. Tiere und Pflanzen kommen immer etwas unterschiedlich auf die Welt – kein Individuum gleicht dem anderen hinsichtlich seiner genetischen Ausstattung völlig, sei es durch zufällige Genmutationen, sei es durch Neukombination des mütterlichen und väterlichen Erbguts bei der sexuellen Fortpflanzung. Kutschera nennt das „Variationen-Generator“.
Nicht immer sind die genetischen Abweichungen äußerlich zu sehen. Zuweilen können sie aber, je nach Umweltbedingungen, ihrem „Besitzer“ Nachteile oder Vorteile verschaffen. Wer aufgrund von Nachteilen das Pech hat, gefressen zu werden, kann sich nicht mehr fortpflanzen. Seine genetische Abweichung, sein „Genotyp“, wird sich nicht durchsetzen.
Wer aber mit einer vorteilhaften Abweichung ausgestattet worden ist, kann (mehr) Nachkommen zeugen. Dann kann es sein, dass sich diese Genvariante innerhalb der Population durchsetzt. Im Vorteil ist also, wer am besten mit seiner Umwelt zurechtkommt – manchmal aber auch, wer am flexibelsten auf Veränderungen reagieren kann.
Es gibt immer Konkurrenz
So wichtig Selektion ist, sie ist nicht alles, betont Kutschera. Zuweilen wird das „Glücksspiel“ der passenden Genvariante auch ersetzt durch den reinen Zufall. Etwa dann, wenn eine Population durch ein Umweltereignis, etwa ein Erdbeben oder einen Vulkanausbruch, plötzlich geteilt wird. Kommen diese Teilpopulationen nicht mehr zusammen, entstehen aus ihnen im Laufe der Jahrhunderte neue Arten. Denn durch die ständig stattfindenden zufälligen Gen-Mutationen verändern sich die Tiere oder Pflanzen so stark, dass sie, kämen sie wieder zusammen, keine fruchtbaren Nachkommen mehr zeugen könnten.
Selten besiedelt aber eine Art alleine einen Lebensraum. Nahezu immer gibt es Konkurrenz, weil es auch andere Tiere auf die gleichen Nistplätze, die gleiche Nahrung abgesehen haben, oder, im Falle der Pflanzen, die gleichen Nährstoffe aus dem Boden benötigen.
Nun würde die Art, die am schnellsten, stärksten oder sonst wie am besten ausgerüstet ist, alle anderen verdrängen. Die Evolution aber erlaubt es den Tieren und Pflanzen, verschiedene ökologische Nischen zu besetzen. Das sind keine Lebensräume, sondern die Art und Weise, wie ein Lebensraum genutzt wird. Zum Beispiel können sich im Laufe der Jahrhunderte Genmutationen durchsetzen, die es einer Tierart ermöglichen, im Dunkeln besser zu sehen: Sie können nachts nach Nahrung suchen und vermeiden so die Konkurrenz der tagaktiven Tiere.
Oder die auf den Galapogos-Inseln angekommenen Finken: Sie weichen dem Problem der Überpopulation aus, indem sie sich (natürlich unbewusst) in neue Arten aufspalten. Jede Art hat eine etwas andere Schnabelform und kann so andere Nahrungsquellen nutzen – die Finkenarten besetzen also verschiedene ökologische Nischen.
Zu viel Fokus auf die Gene?
Eine ökologische Nische ist kein starres System. Auch die Tier- oder Pflanzenart, die sie besetzt, verändert ihre Nische. Am augenfälligsten ist das vermutlich beim Menschen. Aber auch, wie schon Darwin festgestellt hat, Regenwürmer verändern ihre Nische durch ihre Verdauungstätigkeit massiv. Und zwar so, dass auch für andere Arten wieder neue ökologische Nischen entstehen.
Dieser „Nischenkonstruktion“ müsse, zusammen mit einigen anderen Mechanismen der Evolution, deutlich mehr Gewicht gegeben werden, meinen einige Evolutionsbiologen. Teils fordern sie sogar, es sei eine völlig neue Lehre, die so genannte „Erweiterte Synthese in der Evolutionstheorie“ (EES), nötig. „Die neuen Erkenntnisse ergänzen die bisherigen“, meint dazu Kutschera. Die „alte“ Evolutionsbiologie ersetzen müsse man deshalb nicht. Keine Wissenschaft ist schließlich ein starres System, immer wieder wird neu gedacht, ergänzt oder berichtigt.
Ein Vorwurf der EES-Anhänger an ihre „traditionellen“ Kollegen: Es werde zu viel Fokus auf die Gene gelegt. Sie aber sind der zentrale Mechanismus, mit dem Merkmale von einer Generation an die andere weitergegeben werden.
Was nicht bedeutet, dass ein Organismus ein starres Gebilde ist, das nicht mehr von der Umwelt beeinflusst wird. „Die Umwelt kann modulierend in die Genexpression einwirken“, erklärt Kutschera. So werden bei lichtkeimenden Sämlingen die Mechanismen zur Photosynthese erst durch die Sonne aktiviert. Liegt ein Samen im Dunklen, wird er nicht wachsen und kann sein Erbmaterial nicht weitergeben. Ein Beispiel dafür, dass die Evolution rein zufällig zuschlagen kann – mit der „genetischen Fitness“ des Samens hat dieses Ausleseprinzip ja nichts zu tun.
In anderen Fällen dagegen kann eine unterschiedliche Genexpression – also wie das vorhandene Erbmaterial im heranwachsenden Organismus umgesetzt wird – durchaus Auswirkungen auf die „Fitness“ haben und damit auch auf die Zahl der Nachkommen. Also im Endeffekt darauf, wie gut sich bestimmte Gene im Laufe der Evolution durchsetzen.
Ein Lebewesen wie alle anderen
Das Feld der Epigenetik hat dazu in den vergangenen Jahren neue Erkenntnisse geliefert. So können, je nach Umwelt, bestimmte Gene angeschaltet, andere deaktiviert werden. Trotz prinzipiell gleicher genetischer Ausstattung können sich so Individuen einer Art unterschiedlich entwickeln. Das kann beispielsweise Auswirkungen auf den Alterungsprozess haben – und darauf, wie lange Nachkommen gezeugt werden können. Heftig umstritten ist allerdings, ob sich solche epigenetischen Markierungen auch über die Generationen vererben lassen oder sich nicht bei jedem Individuum wieder neu ausbilden müssen. Kutschera: „Beim Modellorganismus Ackerschmalwand verliert sich die epigenetische Gen-Stilllegung im Laufe der Generationen, es kommt zu keinem lang anhaltenden Effekt.“
Auch wenn Evolutionsbiologen über den einen oder anderen Mechanismus uneins sind: Die Evolution als solches wird von keinem ernstzunehmenden Wissenschaftler angezweifelt. Dennoch handelt es sich um die Wissenschaft, mit der der Mensch am meisten Probleme hat. Im Diskutieren und Argumentieren ist Kutschera, der sich seit Jahren mit Kreationismus beschäftigt, geübt. Denn die Evolutionsbiologie stößt den Menschen von seinem Sockel des „Wesens nach Gottes Ebenbild“: Sie lehrt, dass Homo sapiens ein Lebewesen wie alle anderen ist, das sich verändert, anpasst – und niemals vollkommen ist.
Die Basis für die Evolutionsbiologie legte Charles Darwin in seinem 1859 erschienenen Buch „The Origin of Species“. Gleichzeitig erforschte Gregor Mendel die Regeln der Vererbung mit Erbsen-Kreuzungen. Seine Veröffentlichung wurde aber bis zur Jahrhundertwende wenig beachtet. In den 1930er Jahren wurden Darwins Theorien mit Mendels Vererbungsregeln in Einklang gebracht, daraus resultiert die „Synthetische Theorie der Evolution“. Durch immer bessere technische Möglichkeiten entdeckte man die Bedeutung der Chromosomen und der DNA als Träger der genetischen Information – entschlüsselt wurde die DNA von James Watson und Francis Crick im Jahr 1953. Entscheidend für die Geschichte der Evolution sind fossile Funde, anhand derer die Stammesgeschichte der Pflanzen und Tiere rückverfolgt werden kann.
Darwin wurde von Zeitgenossen heftig attackiert. Auch heute gibt es aus religiösem Lager immer wieder Versuche, die Lehre der Evolution zu relativieren oder zu unterdrücken. Vor allem unter evangelikalen Christen in den USA ist seit den 1950er Jahren der Kreationismus populär, er hat aber auch Anhänger im Islam und Judentum. Kreationisten vertreten die Meinung, ein Schöpfergott habe alle Lebewesen in ihrer jetzigen Form erschaffen. Eine Abart ist das „Intelligent Design“, im Prinzip wird „Gott“ durch den Begriff „intelligenter Designer“ ersetzt, um dem Ganzen einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Südwest Presse, Sa. 05.08.2017, Seite 36
Literatur: Kutschera, U., Evolutionsbiologie. Ursprung und Stammesentwicklung der Organismen, Ulmer (2015). www.evolutionsbiologen.de
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