Einleitung durch Edge.org:
Die Wissenschaft schreitet fort – dank der Entdeckung neuer Tatsachen und der Entwicklung neuer Ideen. Aber nur wenige wahrhaft neue Ideen werden entwickelt, ohne dass alte Ideen weichen müssen. Der theoretische Physiker Max Planck (1858 – 1947) bemerkte dazu: „Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass ihre Gegner allmählich aussterben und dass die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.“ Mit anderen Worten: Wissenschaftlicher Fortschritt resultiert aus einer Reihe von Beerdigungen. Warum so lange warten?
Welche wissenschaftliche Idee ist reif für die Rente?
Ideen verändern sich genauso wie die Zeit, in der wir leben. Vielleicht liegt die größte Veränderung heute in der hohen Veränderungsgeschwindigkeit. Welche etablierte wissenschaftliche Idee sollte aus dem Weg geräumt werden, um dem wissenschaftlichen Fortschritt Platz zu machen?
von Roger Highfield
Evolution ist eine Wahrheit
Politiker, Dichter, Philosophen und Gläubige reden gerne über die Wahrheit. Im Gegensatz dazu würden die meisten Wissenschaftler es als aufgeblasen betrachten, einen Bereich der Forschung als „wahr“ zu beschreiben, obwohl sie alle nach mathematischer Wahrheit streben: Zum Beispiel ist die Quantentheorie in dem Sinn wahr, dass ihre Vorhersagen darüber, wie die Welt funktioniert, Experiment für Experiment bestätigt werden, ganz gleich, wie merkwürdig, verunsichernd oder widersinnig sie auch sind.
Ebenso wurde mir, als ich Chemie an der Universität studierte, niemals etwas über die Wahrhaftigkeit des Periodensystems der Elemente gesagt, obwohl ich darüber staunte, wie Mendeleev begann, die Elektronen-Struktur von Atomen zu verstehen. Aber weshalb reden Biologen so oft über die Wahrheit, wenn es um Evolution geht? Schließlich kann man schwerlich sagen, dass alles, was über Evolution geschrieben wurde, „wahr“ ist. Aber es ist ein Fehler, irrationalem Glauben mit Gerede über Wahrheit entgegen zu treten.
„Intelligentes Design“ und andere kreationistische Kritiken wurden leicht abgeschüttelt und die Fakten der Evolution durch Laborversuche, den Fossilbericht, DNA-Datensätze und Computersimulationen gut etabliert. Wenn Evolutionsbiologen wirklich die Wahrheit suchen, müssen sie sich mehr darauf konzentrieren, die mathematischen Regelmäßigkeiten der Biologie zu finden, indem sie in die mächtigen Fußstapfen von Sewall Wright, J. B. S. Haldane, Ronald Fischer u. s. w. treten.
Die Unordnung der Biologie hat es vergleichsweise schwer gemacht, die mathematischen Grundlagen der Evolution zu entdecken. Vielleicht sind die Gesetze der Biologie deduktive Folgen der Gesetze der Physik und der Chemie. Vielleicht ist natürliche Auslese keine statistische Folge der Physik, aber ein neues und grundlegendes physikalisches Gesetz. Was auch immer der Fall ist, diese universellen Wahrheiten – „Gesetze“ – auf die sich Physiker und Chemiker alle verlassen, scheinen in der Biologie praktisch nicht vorhanden zu sein.
Es scheint sich wenig geändert zu haben im Vergleich zur letzten Dekade, in der der große, verstorbene John Maynard Smith für ein Buch über die mächtigsten Gleichungen der Wissenschaft ein Kapitel über die Evolutionäre Spieltheorie schrieb: Sein Beitrag enthielt nicht eine einzige Gleichung.
Dennoch gibt es schon viele mathematische Formulierungen biologischer Prozesse, und die Evolutionsbiologie wird an dem Tag wirklich an ihrem Ziel angelangt sein, an dem Schülerinnen und Schüler zusätzlich zu Newtons Bewegungsgesetzen die Gleichungen des Lebens lernen.
Mehr noch, wenn Physik ein Beispiel dafür ist, wie eine reife wissenschaftliche Disziplin aussehen sollte, eine Disziplin, die keine Zeit und Energie damit verschwendet, gegen die Vorstellungen wissenschaftsleugnender Kreationisten anzukämpfen, müssen wir es auch aufgeben, blind daran festzuhalten, dass die Mechanismen der Evolution Wahrheiten seien, die jenseits aller Diskussion stehen.
Gravitation existiert ebenso wie Evolution, aber Newtons Vorstellung von Gravitation wurde von einer anderen Sichtweise absorbiert, die Einstein vor einem Jahrhundert erdacht hat. Auch heute gibt es die Debatte, ob wir unser Verständnis von Gravitation zukünftig erneut modifizieren müssen, wenn wir letztlich die Natur des dunklen Universums aufgeklärt haben.
Roger Highfield ist Director External Affairs der Science Museum Group und Ko-Author von „Supercooperators: Altruismus, Evolution and Why we need each other to succeed”
Übersetzung von: Joseph Wolsing, Daniela Bartl
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