Gibt es eine Skala des Leidens?

In der heutigen Ethikdebatte wird diese Frage im Zusammenhang mit Tierethik häufiger gestellt als anderswo. Unsere Unfähigkeit, die Wahrnehmungen nicht-menschlicher Tiere zu teilen bedeutet, dass unsere Handlungen gegenüber jenen Tieren der moralischen Debatte unterliegen. Wir fragen uns beispielsweise, ob es Wege gibt, wie wir unser Verhalten anpassen könnten, um dem Wohlergehen der Tiere besser gerecht werden zu können, was uns wiederum zu der Frage 'welche Art von Leiden schlimmer ist' führt.

Gibt es eine Skala des Leidens?

Dies ist auch für die menschliche Gesellschaft eine bedeutsame Frage, obgleich die Fähigkeit von Menschen, einander zu sagen 'ich leide' bedeutet, dass das Ausmaß des Leides sekundär geworden ist und in vielen Industrienationen erachten wir nun jede Form des Leides als inakzeptabel.

Die Frage 'Welche Form des Leidens ist schlimmer', ist schwierig und provokativ zugleich. Zu fragen, ob eine Art des Leidens schlimmer ist, als eine andere, birgt das Risiko, den Zorn vieler auf sich zu ziehen, die empfinden, dass alles Leiden, prinzipiell, für gleich schlimm erachtet werden sollte, und die Frage wird oftmals verworfen, bevor eine Diskussion wirklich aufkommen kann. Dennoch ist die Tatsache, dass es Unterschiede im Grad des Leidens gibt ein wichtiges Konzept, und zwar eines, das wir alle meistens schweigend hinnehmen. Das rechtliche Prozedere des Umgangs mit Verbrechen wäre bedeutungslos und sehr schnell außer Kraft gesetzt, ohne das Verständnis dafür, dass manche Formen des Leidens schlimmer sein können, als andere. Es ist gänzlich rational anzunehmen, dass wenn Leid existiert und wenn man es grundsätzlich vorzieht sich den Finger an einem Dorn zu stechen, als in einem Kriegsgefangenenlager gefoltert zu werden, es also eine 'Skala des Leidens' in irgendeiner Weise geben muss. Das bedeutet nicht, dass man sagt, sich den Finger zu piksen wäre nicht schmerzhaft, sondern nur, dass manche Dinge nachvollziehbar als schlimmer erachtet werden können. Das bedeutet auch nicht den Ausschluss der Existenz von Abweichungen von dieser Regel.

So weit, so einfach: die Schwierigkeiten ergeben sich mit dem Eingeständnis menschlicher Subjektivität. Leiden ist kein Phänomen, das präzise gemessen werden kann; während wir Gesetze erlassen können, um Gemeinplätzen und offensichtlichen Unterschieden gerecht zu werden (dass gefoltert zu werden schlimmer ist, als sich den Finger an einem Dorn zu stechen, um zu unserem Beispiel von eben zurückzukehren), werden wir feststellen, dass, wenn wir versuchen, einen näheren Blick darauf zu werfen, es nicht möglich ist, eine Skala des Leidens zu entwerfen, die jeder Art von Graduierung im Einzelfall gerecht werden kann. Ein mäßiger Schubser ist nicht in jedem Fall einem gewalttätigen Angriff vorzuziehen. Psychologische Faktoren können die Erfahrung des Leidens beeinflussen – in jegliche Richtung – und oftmals kann das kulturelle Gepäck, das bestimmten Handlungen und Ereignissen mitgegeben ist die Hauptquelle für Leiden sein.

Wenn wir uns einzelne Fälle anschauen wird schnell klar, dass das Leiden nur durch die Person, die es erfährt angemessen beurteilt werden kann. Jeder Versuch einer Skalierung wird sich mit Schwierigkeiten konfrontiert sehen, die sich aus den Unterschieden subjektiver Erfahrungen ergeben, die für manche Menschen die zurückhaltendste Form von Aggression als schlimmer erfahrbar gestalten kann, als eine sehr heftige.

Jede Person ist eine einzigartige Kombination von genetischen und Erfahrungsumständen, was bedeutet, dass wir alle Stimuli auf mentaler Ebene unterschiedlich verarbeiten. Und da Leiden eine äußerst mentale Erfahrung ist, und da mentale Erfahrungen äußerst subjektiver Natur sind, steht jeder Versuch, eine abgestufte, spezifische Skala des Leidens zu entwickeln aus vernünftiger Sicht auf wackeligen Füßen. Jede Person hat zweifellos eine eigene Leidensskala, die ganz typisch für sie ist – obwohl auch diese sich mit der Zeit verändern kann, als Reaktion auf Erfahrungen, aber diese Skala von außen einzuschätzen ist nahezu unmöglich. Es ist möglich für eine Person, sich eine Meinung zu bilden, was für sie eine sehr schlimme Leidenserfahrung wäre, und sich, um diese Meinung bilden zu können auch gut informiert zu haben, aber diese Meinung kann nicht als universelle Regel angesehen werden.

Wir sollten (und tun dies im Allgemeinen auch) uns wohl damit fühlen, offensichtliche und allgemeine Urteile über extreme Formen von Leiden in Abgrenzung von verhältnismäßig trivialen Formen zu fällen. Unsere Funktion als Gesellschaft hängt von dieser Fähigkeit ab; es muss uns möglich sein Vergewaltiger und Mörder wegzusperren, aber wir müssen auch anerkennen, dass weniger brutale Taten weniger krasse Bestrafung verdienen. Jedoch sollten wir Umsicht walten lassen bei dem Versuch, irgendetwas, das signifikantes Leiden verursacht, in eine Skala einzuordnen, da wir uns nicht gänzlich sicher sein können, wie es erfahren wird. Die grausamste Folter, die du dir vorstellen kannst ist nicht notwendigerweise das grausamste, dass sich ein anderer ausmalt. Es gibt viele praktische Probleme beim Versuch Leiden zu bemessen, aber es ist absolut notwendig, dass wir diese strittigen Fragen gesellschaftlich diskutieren, andernfalls riskieren wir moralische Stagnation; den Verlust möglichen Fortschritts.

 

Rob Johnson ist Moral- und Wissenschaftsphilosoph, spezialisiert auf praktische Ethik und Wissenschaftsmethodik. Er hat einen Abschluss an der Universität von Aberdeen und arbeitet gegenwärtig als Manager in der Gesundheitsfürsorge in England. Er ist ist der Autor von Rational Morality: A Science of Right and Wrong'. http://www.robertjohnson.org.uk/. Folge Robert auf Facebook https://www.facebook.com/RationalMorality

Übersetzung: Manuela Lindkamp, Elisabeth Mathes
 

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