Der Islamische Staat (IS) beherrscht seit dem Sommer 2014 die Schlagzeilen. Die Terrorgruppe hat in Syrien und dem Irak ein Kalifat errichtet und verfolgt ihre Gegner, die „Ungläubigen“, unbarmherzig. Tausende Christen, Jesiden und auch Muslime fielen dem IS zum Opfer. Spätestens mit den beiden Anschlägen von Paris aus dem vorigen Jahr hat der Terror auch Europa erreicht. Laut Medienberichten hat sich der Islamische Staat auch zum heutigen Terroranschlag in Brüssel bekannt.
Vermutlich handelt es sich um einen Racheakt angesichts der Festnahme des Paris-Attentäters Salah Abdeslam vor wenigen Tagen. Wie so oft heißt es aber reflexartig: „Das hat mit dem Islam nichts zu tun! Der wahre Islam ist friedlich“. Ähnlich hatte SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi 2014 argumentiert. Die Medien sollten den IS nicht mehr als islamisch bezeichnen – denn das beleidige die Muslime. Letztlich gestehe man damit einer Terrorgruppe die Deutungshoheit über eine Weltreligion zu. Wo haben wir das schon mal gehört? Als Anders Behring Breivik 2011 in Norwegen 77 Menschen ermordete, war sich ZDF-Chefredakteur Peter Frey sicher: Der Attentäter habe „mit dem Christentum nichts zu tun“. Nun ist die Bezeichnung Breiviks als Christ eine (wenn auch korrekte) Fremdbezeichnung. Der IS hat sich seinen Namen aber selbst gegeben. Warum beleidigen nur jene den Islam, die den IS als islamisch bezeichnen, nicht aber die Terrormiliz selbst? Fahimi hätte doch genauso gut den IS um eine Namensänderung bitten können.
Viele Muslime und islamische Organisationen in Deutschland sehen es ähnlich. Der IS mit all seinen Grausamkeiten könne unmöglich islamisch sein, wo der Islam doch Frieden und Barmherzigkeit predige. Ähnlich argumentieren die Islamversteher. Sie verweisen zu diesem Zwecke darauf, dass die wichtigsten theologischen Schulen des Islam sich klar vom IS distanziert hätten.
Das ist richtig, genauso wie stimmt, dass auch die islamischen Staaten Bahrain, Jordanien, Katar, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate sich an den US-Luftschlägen beteiligen. Sogar die iranische Regierung, die 35 Jahre lang gegen den „Großen Satan“ Amerika hetzte, kommt Washington entgegen. Aber was sagt das über „den“ Islam aus?
Saudi-Arabien unterstützt Terroristen
Positioniert sich Saudi-Arabien wirklich gegen den islamischen Terror, wenn es sich Obamas Koalition anschließt? Oft wird die saudische Regierung als Sponsor des IS bezeichnet, dies ist aber nicht korrekt. Richtig ist, dass Riad Islamisten, die gegen die syrische Regierung unter Baschar al-Assad kämpfen, unterstützt. Einige dieser Islamisten schlossen sich auch dem IS an, den Saudi-Arabien somit indirekt und ungewollt finanziert hat. Einzelne Scheichs mögen die Terrorgruppe sogar bewusst unterstützt haben, doch dem Willen Riads entspricht dies nicht.
Die Zurückhaltung hat einen Grund: Die Dynastie al-Saud fürchtet den IS, weil er die Errichtung des weltweiten Kalifats fordert. Für eine Monarchie ist da kein Platz.
Nach dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 lieferten sich Saudi-Arabien und der Iran ein Fernduell auf irakischem Boden. Im Stellvertreterkrieg unterstützten sie sunnitische und schiitische Milizen, die die jeweils andere islamische Konfession ausrotten wollten. Saudi-Arabien hat kein Problem mit Terrorgruppen. Saudi-Arabien hat ein Problem mit Terrorgruppen, die Amok laufen und sich nicht mehr kontrollieren lassen.
Wie aber steht es um die Ablehnung des IS durch religiöse Autoritäten? Denn diese sind ja nicht in den Zwängen der Realpolitik gefangen. Der Großmufti Ägyptens Schawki Ibrahim Allam, verurteilte die Gewalttaten des IS, weil sie all jenen in die Hände spielten, die den Islam unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung vernichten wollen. Das ist die typische Opferhaltung vieler Muslime, die jede etwaige Täterrolle weit von sich weisen. So fordert Allam, die Gruppe nicht mehr unter ihrem richtigen Namen zu benennen, sondern nur noch von „Al-Qaida-Separatisten“ zu sprechen.
Islamische Gelehrte rechtfertigen Gewalt
Die Al-Azhar-Universität in Kairo, die zweitälteste Koranschule der Welt und höchste islamische Institution, hat sich vom IS-Terror distanziert. Auch hier stellt sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit. Der 2010 verstorbene Scheich der Al-Azhar-Universität, Muhammad Sayyid Tantawi, hatte erklärt, dass Selbstmordattentate verboten seien – außer in Notwehr oder im Kampf gegen Israel. Nun lässt sich aber immer ein Vorwand finden, um zu „beweisen“, dass der politische Gegner auf der Gehaltsliste jüdischer Bankiers steht und auch Adolf Hitler behauptete, dass der Angriff auf die Sowjetunion nur ein Präventivkrieg gewesen sei. Wer Selbstmordattentate derart halbherzig verurteilt, kann es gleich bleiben lassen. Zudem lobte Tantawi den französischen Holocaustleugner Roger Garaudy. Auch sein Nachfolger, Scheich Ahmad Mohammad al-Tayyeb, hatte sich antisemitisch geäußert. Seit 1400 Jahren litten Muslime unter den Zionisten. Die Tora verachte Nicht-Juden. Gerade deswegen spricht sich al-Tayyeb gegen den IS aus. Die Terrorgruppe sei ein zionistisches Komplott, das im Interesse des Kolonialismus die arabische Welt aufteilen wolle, indem sie einen Vorwand für US-imperialistische Militärinvasionen schaffe.
Von freundlichen Äußerungen über Christen und Juden darf man sich nicht täuschen lassen. Andere Religionen toleriert der Islam nur, sofern sie sich dem Dhimmi-Status beugen. Das heißt: Christen müssen eine Sondersteuer (man könnte auch sagen: Schutzgeld) zahlen, dürfen keine neuen Kirchen errichten, nicht missionieren, haben als Zeugen vor Gericht geringere Glaubwürdigkeit, unterliegen Einschränkungen bei der Berufswahl etc. Genauso würden Muslime nur gegen Zionisten, nicht aber gegen Juden kämpfen. Der Islam sei daher nicht antisemitisch. Hier machen sich die Geistlichen eine theologische Spaltung zunutze. Eine Minderheit des Judentums lehnt den Staat Israel ab, da dieser nur vom Messias selbst errichtet werden dürfe. Bei ihnen handele es sich um die „wahren“ Juden, mit denen man nicht in Konflikt stehe, während der Hass sich nur gegen die Zionisten richtet – wobei diese Beschreibung auf die Mehrheit der Juden zutrifft.
Yusuf al-Qaradawi fuhr in den letzten Jahren ebenfalls einen Schlingerkurs. Der Fernsehprediger erreicht mit seiner Sendung „Die Scharia und das Leben“ auf Al Jazeera ein Millionenpublikum. 2014 hat er den IS verurteilt – doch ein Jahr zuvor noch Sunniten in aller Welt aufgerufen, nach Syrien zu gehen, um sich dem Kampf gegen Baschar al-Assad anzuschließen. Zwar lehnt er Gewalt gegen unschuldige Zivilisten ab – für israelische Frauen und Kinder gelte dies jedoch nicht, da sie aufgrund der umfassenden Wehrpflicht des Landes als Soldaten oder Reservisten im Militär dienen müssten. Hitler habe laut al-Qaradawi mit dem Holocaust Allahs Willen ausgeführt, wenngleich dieser nicht so viele Todesopfer forderte, wie die jüdischen Übertreibungen nahelegten.
Wenn der Großmufti Saudi-Arabiens den IS als „Feind des Islam Nr. 1“ bezeichnet, ist Vorsicht angebracht. Darüber, dass er das Spiel Pokemon verbieten wollte, weil es die Evolutionstheorie lehrt, kann man noch lachen. Doch vor vier Jahren erst forderte er die Zerstörung aller Kirchen auf der arabischen Halbinsel. Dass der Großmufti Zwangsehen ablehnt, verdient Beifall. Aber wie ernst kann er es meinen, wenn er gleichzeitig fordert, das Heiratsalter auf zehn Jahre abzusenken und Frauen verbieten will, unverschleiert und ohne Begleitung durch männliche Verwandte das Haus zu verlassen? Jüngst kommentierte der Großmufti die Drohung des IS, aus Israel ein „Grab zu machen“. Diese sei eine Lüge, um davon abzulenken, dass in Wirklichkeit die israelische Armee hinter der Terrormiliz stehe.
Scheich Saad al Shathri, einer der führenden Geistlichen Saudi-Arabiens, hatte dem IS 2014 ebenfalls den Krieg erklärt. Angeblich seien seine Angehörigen zu ewigen Höllenqualen verdammt. Das zeigt, dass al Shathri das Weltbild seiner Gegner teilt. Wenn Prediger mit göttlicher Strafe drohen, ereignen sich die blutigsten Massaker auf dem Schlachtfeld. Auch fällt auf, dass al Shathri keineswegs die Morde an Christen und Jesiden erwähnt. Ihm stößt auf, dass der IS Muslime tötet. Das ist korrekt. Die Miliz ermordet Sunniten, vor allem jedoch Schiiten. Aber eben diese erwähnt al Shathri nicht. Damit folgt er der offiziellen saudischen Linie, die die rivalisierende Konfession nicht als Muslime anerkennt - obwohl Schiiten 10–15% der Bevölkerung ausmachen. Sie sind vom Staatsdienst und Offiziersrängen ausgeschlossen, ihnen wird der Zugang zu Universitäten erschwert. Sie stehen unter dem Generalverdacht, iranische oder israelische Agenten zu sein. Immerhin tötet Saudi-Arabien seine Schiiten nicht. Andererseits: wenn ein NPD-Politiker ähnliche Diskriminierungen gegen Juden forderte, würde man ihm dann zugute halten, dass er „immerhin” keinen zweiten Holocaust wünscht? 2011 ließ Saudi-Arabien die Panzer rollen, als sich im befreundeten Bahrain die Schiiten erhoben. Käme es zum Aufstand im eigenen Land, würde Riad sich nicht anders verhalten.
Menschenrechte in Saudi-Arabien
Tag für Tag tritt Saudi-Arabien die Menschenrechte mit Füßen. Homosexualität ist verboten. Wer nicht mit dem Tode bestraft wird, dem drohen zumindest Peitschenhiebe. Ähnlich sieht die Situation für Frauen aus. 2002 kam es zu einem Brand in einer reinen Mädchenschule. Die Religionspolizei hinderte jedoch die Feuerwehrmänner daran, das Gebäude zu betreten, da diese die unverschleierten Schülerinnen nicht zu Gesicht bekommen dürften. 2014 ereignete sich ein ähnlicher Fall, als eine Frau nach einem Herzstillstand starb, weil der Notarzt nicht zu ihr vorgelassen wurde. Das saudische Gesundheitssystem stellt religiöse Werte über medizinischen Sachverstand.
Auch die Arabische Liga (keine theologische Institution) hat sich vom IS distanziert. Hier begegnen wir dem nächsten Glaubwürdigkeitsproblem. Keiner ihrer Mitgliedsstaaten ist eine Demokratie. Immerhin: Syriens Mitgliedschaft wurde 2011 suspendiert, weil Diktator al-Assad einen Krieg gegen das eigene Volk führt. Dieser an sich richtige Schritt wird allerdings dadurch relativiert, dass Ägypten 1979 für zehn Jahre aus der Arabischen Liga ausgestoßen wurde, weil es Frieden mit Israel geschlossen hatte. 2009 solidarisierte sich die Organisation ausdrücklich mit dem sudanesischen Präsidenten Umar al-Baschir, gegen den der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl erlassen hatte. Ihm wird vorgeworfen, in der Region Darfur bis zu 400.000 Menschen (die meisten von ihnen Muslime) getötet zu haben. Dennoch durfte al-Baschir zum Gipfeltreffen in Katar anreisen, wo al-Assad erklärte, der Internationale Strafgerichtshof solle sich stattdessen mit Kriegsverbrechen im Gazastreifen befassen.
Die Organisation für islamische Zusammenarbeit (ein Zusammenschluss 57 islamischer Staaten) lehnt den IS ebenfalls ab. Gegründet hatte sie sich als Reaktion auf die Besetzung der al-Aqsa-Moschee in Jerusalem durch Israel 1967. 1990 beschloss die OIC die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam”, die von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vor allem darin abweicht, dass sie die Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung der Frau ablehnt. Unter ihrem türkischen Vorsitzenden Ekmeleddin İhsanoğlu bekräftigte die Organisation zudem die Ansicht, dass der Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich nichts weiter als eine Lüge sei.
Warum sollte man diese Heuchelei aufdecken? Rettet nicht jede Stimme gegen den IS Menschenleben? Auch Obama muss zähneknirschend eingestehen, dass Saudi-Arabien ein nützlicher Bündnispartner ist. Realpolitik eben.
Die Antwort ist simpel: Wenn diese Distanzierungen in der islamischen Welt gehört werden, ist das zu begrüßen. Aber wenn wir im Westen auf diese Heuchelei hereinfallen, geben wir Staaten wie Saudi-Arabien ein Instrument in die Hand, sich als gemäßigt zu präsentieren und ihre Menschenrechtsverletzungen unter den Teppich zu kehren.
Selbstkritik ist nötig
Letztlich musste Peter Frey damit leben, dass die Medien über den „christlichen Attentäter” Breivik berichteten. Empörte Reaktionen der Großkirchen in Deutschland blieben aus. Genauso ist es den Muslimen zuzumuten, den Islamischen Staat als das zu bezeichnen, was er eben ist – islamisch. Je eher Muslime, auch die friedlichen, dies einsehen, umso glaubwürdiger können sie dem islamischen Terrorismus entgegentreten.
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