Einleitung durch Edge.org:
Die Wissenschaft schreitet fort – dank der Entdeckung neuer Tatsachen und der Entwicklung neuer Ideen. Aber nur wenige wahrhaft neue Ideen werden entwickelt, ohne dass alte Ideen weichen müssen. Der theoretische Physiker Max Planck (1858 – 1947) bemerkte dazu: „Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass ihre Gegner allmählich aussterben und dass die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.“ Mit anderen Worten: Wissenschaftlicher Fortschritt resultiert aus einer Reihe von Beerdigungen. Warum so lange warten?
Welche wissenschaftliche Idee ist reif für die Rente?
Ideen verändern sich genauso wie die Zeit, in der wir leben. Vielleicht liegt die größte Veränderung heute in der hohen Veränderungsgeschwindigkeit. Welche etablierte wissenschaftliche Idee sollte aus dem Weg geräumt werden, um dem wissenschaftlichen Fortschritt Platz zu machen?
Von Athena Vouloumanos
(außerordentliche Professorin der Psychologie an der New York University)
Im Evolutionsunterricht wird der Lamarckismus – die von Lamarck entwickelte Theorie, dass ein Organismus während seiner Lebens Eigenschaften erwerben und diese an die Nachkommen vererben kann – üblicherweise kurz behandelt und dabei oft belächelt. Darwins Theorie der natürlichen Selektion wird als der einzig wahre Mechanismus evolutionärer Veränderungen präsentiert.
Berühmt ist Lamarcks Beispiel der Giraffe: Die Giraffen, die sich streckten, um höher hängende Blätter zu erreichen, konnten längere Hälse entwickeln als jene, die von tiefer hängenden Zweigen aßen, und vererbten ihren Nachkommen diese längeren Hälse. Die Vererbung erworbener Eigenschaften wurde ursprünglich als seriöse Theorie über evolutionäre Veränderungen betrachtet, und selbst Darwin schlug seine eigene Version vor, auf welche Art Organismen erworbene Eigenschaften vererben könnten.
Im Jahr 1923 kamen die ersten Hinweise auf den intergenerativen Transfer erworbener Eigenschaften, als Pavlov berichtete, dass seine erste Generation weißer Mäuse 300 Versuche benötigte, um zu erlernen, wo er das Futter versteckte, ihre Nachkommen jedoch nur 100 Versuche, und die nächste Generation nur 30. Aber Pavlovs Versuchsbeschreibung erwähnte nicht näher, ob alle Mäuse gemeinsam untergebracht waren, wodurch Kommunikation zwischen den Mäusen oder eine andere Art von Lernen möglich gewesen wäre. Auch andere Studien zum Thema potentieller intergenerativer Transfer der Eigenschaften von Pflanzen, Insekten und Fischen aus dieser Zeit ließen alternative Interpretationen zu oder beruhten auf unzureichenden Versuchsanordnungen. Der Lamarckismus wurde verworfen.
Neueste Studien jedoch können – unter Verwendung moderner Fortpflanzungstechniken wie der künstlichen Befruchtung und korrekter Versuchsanordnungen – Generationen physisch voneinander isolieren und jede Art von sozialer Übertragung und Lernen ausschließen. Mäuse wurden zum Beispiel darauf konditioniert, sich vor einem für gewöhnlich neutralen Geruch zu fürchten, und ihre Babies fürchteten diesen Geruch auch. Ihre Enkelkinder ebenso. Im Unterschied zu Pavlovs Studien konnte hier Kommunikation als Erklärung ausgeschlossen werden. Weil die Mäuse nie auf einander trafen, und durch Überkreuz-Aufzucht jede soziale Übertragung ausgeschlossen wurde, musste die neu erworbene, spezifische Angst in ihrem biologischen Baumaterial codiert sein. (Biochemische Analysen zeigten, dass die relevante Veränderung wahrscheinlich in der Methylierung der Gene für Geruchsrezeptoren in den Spermien der Eltern und Nachkommen lag. Methylierung ist ein Beispiel für einen epigenetischen Mechanismus.) Die natürliche Selektion ist nach wie vor der primäre Gestalter evolutionärer Veränderungen, aber auch die Vererbung erworbener Eigenschaften könnte eine wichtige Rolle spielen.
Diese Forschungsergebnisse zählen zu dem relativ neuen Forschungsbereich der Epigenetik. Die epigenetische Steuerung der Genexpression trägt dazu bei, dass sich die Zellen eines einzelnen Organismus (die dieselbe DNA-Sequenz haben), unterschiedlich entwickeln, etwa zu Herzzellen oder zu Neuronen. Aber im letzten Jahrzehnt haben wir tatsächliche Beweise – und mögliche Mechanismen - dafür gefunden, wie die Umwelt (und das Verhalten eines Organismus in ihr) vererbliche Änderungen der Genexpression (ohne Veränderung der DNA-Sequenz) verursachen können, die an die Nachkommen weitergegeben werden. In den letzten Jahren haben wir Beweise für epigenetische Vererbung innerhalb einer weiten Bandbreite von morphologischen, metabolischen und sogar das Verhalten betreffenden Eigenschaften gesehen.
Die intergenerative Übertragung erworbener Eigenschaften erlebt ein Comeback als potentieller Mechanismus der Evolution. Sie eröffnet auch die interessante Möglichkeit, dass gesunde Ernährung, Sport und Bildung, von denen wir bisher dachten, dass sie die nächste Generation nicht beeinflussen – abgesehen von der Vorbildwirkung – dies doch tun.
Übersetzt von: Daniela Bartl und Günter Dantrimont
Kommentare
Ich behaupte, zufällige endogene Mutationen als Triebfeder der Evolution ist pure Metaphysik. Es gibt keinerlei wissenschaftlichen beweis dafür. In Wirklichkeit werden genetische Änderungen hauptsächlich durch äußere Einflüsse bewirkt. Meine Argumente:
1. Zufällige Mutationen am Genom eines Individuums können keine neue Art entstehen lassen. Hat man es mit Mutationen am Genom der gesamten Population zu tun, handelt es sich um keinen Zufall mehr.
2. Ist eine zufällige Genmutation nachhaltig genug, um eine Änderung der Spezies herbeizuführen, bedeutet das, dass die Reparationsmechanismen der Art nicht effektiv genug sind, um ihr Überleben zu sichern.
3. Selektion geschieht immer am Individuum, nicht am einzelnen Gen. Die zufällige Mutation eines einzelnen Gens bewirkt nichts.
4. Bei artspezifischen Veränderungen sind immer Hunderte von Genen beteiligt. Eine zufällige Mutation hunderter Gene kann nicht mehr als endogener Zufall bezeichnet werden.
5. Die teils extreme Anpassung von Leben an Umwelt kann kaum durch endogenen Zufall erklärt werden. Woher ‚weiß‘ der Zufall, dass er etwa Farbmutationen generieren soll, um einen Käfer in grüner Umgebung grün werden zu lassen?
Zufall ist immer Zufall von außen, also von der Umwelt veranlasst.
6. Auf dem ganzen Planeten hat die Natur für dieselben Probleme nahezu dieselben Lösungen gefunden. Gäbe es den endogenen Zufall, müssten zum Teil sehr verschiedene Lösungen selektiert worden sein.
Darwin hat mit seiner Theorie zur Entstehung der Arten eine offene Tür eingerannt, die Zeit war quasi reif dafür. Mutation und Selektion war plausibel genug, allerdings war eher de äußere Zufall gemeint, denn von Genetik wusste man noch nichts. Und der ihm innewohnende Naturalismus entsprach und entspricht dem mechanischen Maschinendenken. Gleichzeitig funktionieren technische Anwendungen nach dem ähnlichen Versuch-Irrtums-Prinzip, das man der Natur abzuschauen glaubt. Ein klassisches Missverständnis bzw. ein Zirkelschluss. Das Paradigma der Selbstorganisation gab es zu Darwins Zeiten noch nicht. Sonst wäre man vielleicht eher auf die Idee gekommen, dass naturalistische Reduktion nur für die unbelebte Natur, also für Physik und Chemie gilt, nicht aber für Leben, denn das lässt sich nicht, wie die ersten auf Elemente reduzieren, sondern auf Systeme, in ihrer einfachsten Form, auf Reaktionszyklen. Reduziert man sie weiter, geht ihre Funktionsweise oder Emergenz verloren.
Genetische Veränderungen könnten besser über einen Phasenraum definiert werden, in welchem sich die diskrete Kommunikation zwischen Genom und Epigenom abspielt und die aufgrund der Umweltbedingungen für ganze Populationen ähnlich sind. Das Genom sollte als Emergenz betrachtet werden, seine evolutionäre Entwicklung als Phasenverschiebung. (siehe auch: dr-stegemann.de)
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