Modernes Lebensmittel Dogma

Jhatka. Koscher. Halal. Nahrungstabus und heilige Ernährungsweisen gehören zu fast jeder religiösen Tradition, vom jüdischen Schweinefleischverbot bis zum Kaffeeverbot bei den Mormonen.

Modernes Lebensmittel Dogma

Doch viele Ernährungsbewusste glauben, sie hätten göttlich festgelegte Mahlzeiten hinter sich gelassen. Basiert ihre Auswahl an Speisen doch heute auf wissenschaftlichen Studien statt auf heiligen Texten, und werden von Leuten in Laborkitteln statt in Priesterroben interpretiert. Verlässliche Daten über Langlebigkeit haben Anekdoten über lange lebende Propheten ersetzt. Heißt das nicht, dass die Ernährungsweisen der meisten von uns heute frei von religiöser Doktrin, von Aberglauben und von Mythen sind?

Nicht annähernd. Fragen Sie Paul Rozin, einen bärtigen, gradlinigen Psychologen an der Universität von Pennsylvania. Rozin ist bekannt für das Schlagwort „das Dilemma des Allesfressers“ – das der Ernährungsautor Michael Pollan als Titel seines Bestsellers von 2006 bekannt gemacht hat – und er hat ausführlich über den Einfluss von Aberglauben und darüber, wie wir unsere Nahrung wahrnehmen geschrieben.

„Das ist ein gewaltiges Problem“, erzählt Rozin mir mit dem entnervten Auftreten von jemandem, der immer wieder eine offensichtliche Wahrheit erklären muss. „Die Liebe zur Natur ist wie eine Religion. Man kann belegen, dass natürliche Pestizide, was immer das sein soll, gefährlicher sind als die künstlichen, aber es macht keinen Unterschied. Niemand glaubt einem.“

Die mythische Erzählung der “unnatürlichen” Moderne und einer „natürlichen“, paradiesischen Vergangenheit ist so überzeugend wie eh und je. Adam und Eva sind keine glaubhaften Protagonisten mehr, also ersetzen Ernährungsgurus sie durch paläolithische, vorackerbauliche, hartleibige Vorfahren, die spielerisch durch die Wälder tobten und Beeren sammelten oder Wildschweine aufspießten, nie einen Gedanken an Diabetes oder Autismus verschwendend. Die Lebensmittel aus jener kulinarischen Vergangenheit sind gut. Die Produkte der Moderne hingegen – Natriumglutamat, Getreide, Maissirup, genetisch veränderte Organismen, Fastfood – sind die giftigen Früchte der Sünde, die verlockenden Opfergaben einer furchterregenden Gottheit namens Big Food.

Wissenschaftliche Phrasen täuschen da über die unwissenschaftlichen Wurzeln moderner Ernährungsängste hinweg. Zu behaupten, wir hätten keine Fähigkeit entwickelt, Gluten oder raffinierten Zucker zu essen, klingt faktischer, als dass Gott sie verboten hätte. Die Sprache der Wissenschaft zu benutzen ist keine Garantie für einen Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen. Im Falle unbelegter Ernährungsratschläge bietet sie dann nur neues Vokabular, mit dem man unwissenschaftliche Mythen umschreiben kann.

Paradoxerweise macht unsere Zuversicht, dass die Wissenschaft alle Antworten hat, es schwierig, Unwahrheiten über Ernährung zu erkennen und zu verwerfen. Lebensmittel scheinen einfach zu untersuchen zu sein. Wenn wir jemanden zum Mond schicken, Herzen verpflanzen und DNA modifizieren können, dann werden wir sicher den Zusammenhang zwischen Gemüse essen und länger leben entschlüsseln können. Es gibt keine ins Auge springende Schwierigkeiten herauszufinden, ob Wein das Risiko für Herzbeschwerden mindert, oder ob rotes Fleisch das Darmkrebsrisiko erhöht. Beobachten Sie einfach Leute, die Rotwein trinken oder rotes Fleisch essen, und vergleichen Sie sie mit denen, die es nicht tun. Einfach, oder?

In Wirklichkeit gibt es innerhalb der Medizin wohl kein schwierigeres oder komplizierteres Fach als Ernährungswissenschaft, eine Komplexität, die sich in den endlosen Kontroversen darüber zeigt, was und wie viel davon wir essen sollen. Hochwertige Studien über Ernährungsgewohnheiten sind erstaunlich schwer zu entwerfen. Wie bereitet man ein Placebosteak für seine Kontrollgruppe zu? Studien über die Wirkung von Ernährung und Lebensstil in großen Populationen sind nicht weniger schwierig. Sie basieren auf Erinnerung und Selbstauswertung, berüchtigt unverlässigen Daten. Und selbst wenn die Daten stimmen sollten – nun, optimieren Sie eine Gleichung, lassen Sie einen Satz Datenpunkte aus, isolieren Sie einen anderen Faktor, und plötzlich verschiebt sich Vegetarismus von höherer Lebenserwartung zu abnehmender Knochendichte.

Beim Umgang dieser hartnäckigen Probleme mit Studienentwürfen und –analysen haben die Ernährungswissenschaftler, die sich mit der „idealen Ernährung“ befassen, seit biblischen Tagen überraschend wenig Fortschritte gemacht. Gemäß der Bibel der Hebräer waren der Prophet Daniel und seine Israeliten einst in Gefangenschaft unter dem König von Babylon. In Loyalität zu Moses‘ Ernährungsregeln und aus Angst vor dem unrein werden erbat sich Daniel, was fast mit Sicherheit der erste aufgezeichnete Versuch einer Eliminierungsdiät war.

„Bitte teste Deine Diener zehn Tage lang“, sagte Daniel zu seiner Wache. „Gib uns nichts zu essen außer Gemüse und Wasser zu trinken. Vergleiche dann unsere Erscheinung mit der jener jungen Männer, die das königliche Essen bekommen, und behandle Deine Diener gemäß dem, was Du beobachtest.“

Die Wache stimmte zu. „Am Ende der zehn Tage sahen Daniel und seine Freunde gesünder und besser ernährt aus als alle, die das königliche Essen bekamen.“ (Es ist nicht überliefert, dass ihre Akne verschwand, aber wir können annehmen, dass es der Fall war).

Vegetarier vor dem 20. Jahrhundert zitierten Daniel als Beweis für die Überlegenheit ihrer Ernährungsweise. Heute verweisen sie auf Dr. Dean Ornish, einen bekannten Befürworter des Vegetarismus und der Meditation. Ornish hat Studien in angesehenen Journalen veröffentlicht, wie seine Kur Krebs und Herzkrankheiten verhindert. Nachrichtenkanäle und Fernsehsendungen preisen seinen Ansatz als einen wissenschaftlich bewiesenen Weg an, „das Altern aufzuhalten“. Sie vertrauen darauf, dass sein Ernährungsplan funktioniert, denn im Gegensatz zu Mönchen und biblischen Propheten ist Ornish ein Wissenschaftler und Arzt. Doch Ornish‘ Studien leiden trotz des Ansehens ihres Autors unter dem gleichen Problem wie Daniels Selbstversuch: Ein leitender Ermittler, der großes Interesse am Erfolg seines Experimentes hat, eine fehlende Kontrollgruppe, und fehlende Wiederholbarkeit durch andere Wissenschaftler. In beiden Fällen ist es nicht möglich, zwischen den Fähigkeiten von Gemüse und dem Glauben an die Fähigkeiten von Gemüse zu unterscheiden.

Mit Maßen zu essen ist seit Tausenden von Jahren die gewöhnliche Empfehlung des gesunden Menschenverstandes, und zu diesem weisen Ratschlag haben sowohl die Religion noch die Wissenschaft kaum etwas beitragen können, das einer Untersuchung standhalten könnte. Wer etwas anderes behauptet, übertreibt bestenfalls die Beweislage – und bedenken Sie, in der Wissenschaft gilt eine Übertreibung als glatte Lüge.

Diese Lügen sind nicht nur irreführend. Sie sind schlecht für unsere Kultur und unsere Gesundheit. In der Hoffnung, Tod und Krankheit zu entkommen, hofieren wir Ernährungsprediger mit Megawattlächeln und Sixpack-Bauchmuskeln, von denen jeder einen anderen, revolutionären, „wissenschaftlich fundierten“ Weg zur perfekten Gesundheit verspricht. Wir begrüßen ein Nahrungstabu nach dem anderen, eine Angewohnheit, die klinische Psychologen als „Essstörungen fördernd“ verurteilen.

Die Wahrheit ist, dass die tatsächlichen Dämonen der Ernährung nicht die sogenannten toxic foods sind: sie sind mächtige, beharrliche Fiktionen, die wir wie Wahrheiten behandeln. Die neueste Art von Gurus vergiftet unsere Kultur mit Neuauflagen derselben zeitlosen Irrungen. Gluten gehört in die gefallene Gegenwart, nicht in die paradiesische Vergangenheit. Wenn Sie Fett essen, werden Sie fett. Raffinierter Zucker ist „unnatürlich“. Diese Irrungen verursachen lähmende Angst vor Nahrung, und einen konstanten Strom sich widersprechender Behauptungen darüber, was wir essen sollen, was wiederum das Vertrauen der Öffentlichkeit in den wissenschaftlichen Betrieb selbst zerfrisst.

Genug ist genug. Um unsere Kultur zu heilen, müssen wir der üblichen amerikanischen Diät von Lebensmittelmythen mit gesunden Portionen an Geschichte und Skepsis entgegentreten. Diese Zutaten mögen anfangs ungewöhnlich schmecken, aber keine Angst – es wird nicht lange dauern, bis Sie sich wie neugeboren fühlen und in der Lage sind, über das neueste Ernährungsdogma zu lachen und Ihre Mahlzeit in Frieden einzunehmen.

Alan Levinovitz ist “Assistant Professor of Religion” an der James Madison Universiy. Seine akademische Arbeit beinhaltet einen Fokus auf die Überschneidung von Religion und Medizin. Seine Abhandlungen erschienen in Slate, Wired, The LA Review of Books, The Believer, and The Millions, sowie in akademischen Zeitschriften. Er lebt in Charlottesville, Virginia, USA.

Übersetzung: Burger Voß, Jörg Elbe

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Kommentare

  1. userpic
    Michael Köhler

    Was soll uns der Text genau sagen? Liege ich damit richtig:?
    1. Die Ansicht "natürliches" Essen ist immer besser als "unnatürliches" Essen ist wie ein "religiöses" Dogma und unrealisitisch.
    2. Der einzige sinnvolle Ratschlag zu einer guten Ernährung ist, in Maßen zu essen.
    3. Die Wissenschaft hat bis heute keine haltbaren neuen Erkenntnisse gebracht.
    4. Vor allem Aussagen, dass gewissen Nahrungsmittel ungesund sind, sind unbelegt.

    Wirklich? Gar nichts?

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