Rationalismus und Tierethik

Mein letzter Beitrag zur „Evolution des Tierschutzes“ hat sowohl auf dieser Seite als auch auf unseren diversen Social-Media-Plattformen eine sichtbare Debatte ausgelöst. Deshalb kam mir der Gedanke, dass es lohnend sein könnte, eines der interessanteren Argumente gegen eine Ethik für Tiere genauer zu untersuchen: „Muss der Rationalismus nun auch noch dafür herhalten, die Rechte der Tiere zu verteidigen?“

Rationalismus und Tierethik

Bei der Erörterung dieser Frage sind viele verschiedene Aspekte zu berücksichtigen. Zuerst sollten wir festhalten, dass in den meisten Ländern der Erde heute nicht gerade eine rationale Weltsicht vorherrscht. Selbst hier im Vereinigten Königreich, wo ich diesen Text schreibe und wo die Säkularisierung mehr und mehr an Gewicht gewonnen hat, muss man konstatieren, dass Anti-Theismus nur bei einer Minderheit anzutreffen ist. Gewaltsamer Extremismus wird zwar weithin als Problem wahrgenommen, aber nicht seine Beziehungen zu Glauben oder Religion. Man könnte also besorgt darauf hinweisen, dass allein diese Problematik uns schon ausreichend beschäftigt.

Ich neige aus verschiedenen Gründen dazu, mich dieser Sicht der Dinge nicht anzuschließen. Mir scheint, dass dahinter die Annahme steckt, der Säkularismus genieße in der Öffentlichkeit mehr Popularität als die Rechte von Tieren (und müsse folglich energischer vorangetrieben werden), und dies halte ich für falsch. In den letzten Jahren habe ich mich mit unzähligen Leuten über Tierethik ausgetauscht, aber darunter gab es nur wenige, die Massentierhaltung oder Tierversuche für Kosmetika allein auf Basis rein ethischer Erwägungen akzeptieren. Die Wirtschaftlichkeit oder generelle Notwendigkeit solcher Auswüchse werden zwar diskutiert, aber niemand ist prinzipiell mit dem von ihnen verursachten Leid einverstanden. Während unnötiges Leid grundsätzliche Ablehnung erfährt, ist dies bei Glaube und Religion gerade nicht der Fall.

Das allein beweist aber noch gar nichts: Nur weil eine Tierethik auf breitere Zustimmung stößt (und auch diese Zustimmung unterlag und unterliegt einer Entwicklung, wie ich in meinem letzten Beitrag dargelegt habe) als der Säkularismus, heißt das nicht, dass die Vertreter des Letzteren sich die Argumente des Ersteren zu eigen machen müssen. Aber es gibt einen weiteren Aspekt, der – gemeinsam mit dem eben genannten – überzeugend schlüssig macht, warum sich der Säkularismus für den Tierschutz stark machen sollte. Dieser Aspekt hat mit unseren Zielen zu tun.

Nehmen wir einmal an, wir lebten in einer völlig anderen Welt: einer Welt, in der das Streben nach Vernunft gänzlich andere Folgen nach sich zöge. Da dies nur ein Gedankenexperiment sein soll, möchte ich mich nicht zu sehr in Details vertiefen – nehmen wir einfach an, dass das Streben nach Vernunft und Wissenschaft in dieser seltsamen Welt dazu führt, dass technologischer Fortschritt und Ausbildungsniveau sinken, wohingegen die Gewalt zunimmt. Man könnte sagen, dass dies eine Welt wäre, wo zunehmendes Wissen negative Folgen für ihre Bewohner hätte – je mehr sie wissen, umso mehr ist ihnen gleichgültig.

Natürlich ist diese Welt höchst unwahrscheinlich: Die Entstehung einer intelligenten Spezies unter solchen Bedingungen würde nicht nur die Frage aufwerfen, wie sie überhaupt entstehen konnte. (Schließlich müsste die Korrelation zwischen den Parametern „Wissen“ und „Gleichgültigkeit“ sich dafür am Rand einer Normalverteilung befinden, denn wie sonst hätte in dieser Welt überhaupt eine Wissenschaft entstehen können?) Der Punkt aber ist: In einer solchen Welt würden die meisten von uns Wissenschaft und Vernunft ablehnen – schließlich würden wir andernfalls ja Schaden anrichten. Und selbst wenn Ihre spontane Reaktion auf solch eine Welt lauten würde „Ich würde trotzdem die Wahrheit entdecken wollen!“: Wenn Sie der einzige in dieser seltsamen Welt wären, der so denkt, würden Sie – mit Blick auf die schlimmen Konsequenzen Ihres Verhaltens – irgendwann Ihre Meinung ändern. Was zeigt uns das? Wir fördern Wissenschaft und Vernunft nicht um der Wissenschaft und Vernunft willen, sondern weil wir unser Verständnis des Universums stetig vergrößern wollen, weil wir großartige Entdeckungen und Veränderungen anregen wollen, und weil wir Konflikte reduzieren wollen, die auf nicht-faktenbasierten Weltsichten beruhen – ganz zu schweigen von all den anderen wundervollen Errungenschaften, die wir der Vernunft zu verdanken haben. Im Grunde ist die Menschheit in ihren Beweggründen ziemlich geradlinig strukturiert.

Die Erkenntnis, dass wir Wissenschaft und Vernunft um großer Ziele willen befürworten, berührt nun unmittelbar die Ausgangsfrage, ob wir ihnen auch noch den Tierschutz „aufbürden“ sollen. Jede Form von Ethik, egal ob etabliert oder im Entstehen, sollte nie eine „zu große Bürde“ sein, als dass man sie nicht fördern sollte: Täten wir das, wären wir zu rigide unserem Standpunkt verhaftet (wir wollen nur Rationalismus und Wissenschaft generell unterstützen) und zu wenig den logischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben (dass wir Rationalismus in allen berechtigten Ausprägungen fördern sollten).

Auch wenn wir über die absolut unpopulärste ethische Vorstellung reden würden – eine, für die der Rest der Menschheit allerhöchstens Spott übrig hätte – sollten wir sie nicht sofort beiseiteschieben. Die Ansicht, dass es eine Schwelle der Popularität gibt, unterhalb der wir Ideen ignorieren und uns stattdessen auf die großen und kurzfristig erreichbaren Fortschritte einer Säkularisierung konzentrieren sollten, ist sicherlich nachvollziehbar. Aber wenn diese Schwelle zu hoch liegt oder zu starr gehandhabt wird, führt dies dazu zu vergessen, dass das Ignorieren neuer Ideen den Status Quo zementiert und Fortschritt verhindert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ambitionierte Rationalisten in solch eine Falle geraten wollen.

Es gibt einen letzten Punkt, auf den ich eingehen möchte und der aus meinen Erfahrungen mit der Ablehnung einer Schnittmenge zwischen Rationalismus und Tierschutz herrührt. Die Befürchtung einer „Bürde“ ist nämlich in beiden Lagern anzutreffen: Die Befürworter einer Ethik für Tiere wollen sich umgekehrt genau so wenig damit belasten, den Rationalismus zu verbreiten, denn schließlich ist ihnen ihr Anliegen alleine schon zu wichtig dafür. Dabei ist – zugegebenermaßen – der Anteil der Tierschützer, die Rationalismus als valides Argument für ihre Sache akzeptieren, erheblich geringer als der Anteil der Rationalisten, die eine Ethik für Tiere mittragen. Dies zeigt uns zweierlei:

a. Jeder sieht sein eigenes Anliegen als das Wichtigere an und bewertet seine eigenen Ziele höher als die Ziele selbst derjenigen „Nachbar-Anliegen“, mit denen man gemeinsame Ideale teilt.
b. Rationalisten scheinen andere ethische Anliegen eher logisch nachvollziehen zu können (wenn wir unterstellen, dass Unterstützer des Rationalismus auch eher dazu neigen, Rationalisten zu sein, und dass Rationalismus ein logisches ethisches Anliegen ist).

Ich persönlich habe den Eindruck, dass jede/r unbewusst ein „Lieblingsanliegen“ hat, auf dass er/sie positiver anspricht als auf andere. Dies würde erklären, warum es weniger Menschen in b) gibt, denn die meisten – nicht nur die Aktivisten – verhalten sich wie in a). Aus dieser Erkenntnis, die auf vernünftig zu nennenden Annahmen beruht, folgt nun logisch, dass nicht nur der Rationalismus für sich eine notwendige moralische Angelegenheit ist, sondern dass ein rationalistischer Einfluss in allen anderen Moralthemen dringend erforderlich ist (da er zu konsistenteren ethischen Aussagen führt).

Wie auch immer, und unter welchen Annahmen auch immer: Wer Rationalismus als eine auch moralisch bedeutsame Haltung erachtet, der sollte sich dafür stark machen, ihn in andere berechtigte moralische Angelegenheiten einzubringen. Wenn schon nichts anderes (und es wäre erheblich mehr als „nichts“), würde ein solches Vorgehen indirekt die Bedeutung der Vernunft veranschaulichen. Dies aber als eine „Bürde“ darzustellen, wäre als Standpunkt zumindest inkonsistent.

Robert Johnson ist angewandter Ethiker und Wissenschaftsphilosoph. Er beschäftigt sich mit der Schnittstelle von Vernunft und Ethik und ist Autor des Buches „Rational Morality: A Science of Right and Wrong“. http://www.robertjohnson.org.uk/

Übersetzung von: Christian Brandes

 

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