Prof. Uwe Lehnert ist emeritierter Universitätsprofessor, hat ein naturwissenschaftliches, technisches und erziehungswissenschaftliches Studium absolviert und war bis 2002 an der Freien Universität Berlin Lehrstuhlinhaber für Bildungsinformatik und Bildungsorganisation im Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie.
Uwe Lehnert ist Autor auf dem Gebiet der Bildungsinformatik und befasste sich nachberuflich mit Religionskritik. Sein religions- und kirchenkritisches Buch »Warum ich kein Christ sein will« – Mein Weg vom christlichen Glauben zu einer naturalistisch-humanistischen Weltanschauung erschien 2015 in 6. Auflage.
RDF: Herr Lehnert, wurden Sie in ihrer Kindheit von einem stark religiösen Umfeld oder eher von einer orientiert indoktrinierten »Lightfassung« beeinflusst?
Uwe Lehert: Mein Vater war zeitlebens ein sehr kirchenkritisch eingestellter Mensch, meine Mutter war Katholikin, aber eher liberal in ihren Auffassungen, wenn der Begriff »liberal« im Zusammenhang mit »katholisch« überhaupt sinnvoll erscheint. Ich habe während der Schulzeit immer am Religionsunterricht teilgenommen, man konnte sich im Nachkriegsdeutschland dem ja kaum entziehen. Aber den sonntäglichen Kirchgang gab es in unserer Familie nicht. Allerdings wurde ich auf heftiges Drängen einer der Großmütter mit 14 Jahren zusammen mit meinen drei anderen Geschwistern evangelisch getauft. Meine Konfirmation folgte dann drei Jahre später.
Gab es ein Schlüsselerlebnis oder war es ein längerer Prozess, der Sie von einer religiösen hin zur naturalistischen Weltsicht führte?
Ein Schlüsselerlebnis, das schlagartig alles geändert hätte, hatte ich nicht. Aber eine skeptische Grundhaltung lag schon recht früh vor. Sie wurde im Konfirmandenunterricht verstärkt, als ich dem Pfarrer widersprach. Er meinte, dass Jesus ein unendlich großes Opfer für uns gebracht hat, weil er sich für uns am Kreuz töten ließ. Als ich daraufhin meinte, dass das Opfer so groß auch nicht wäre, weil er doch wusste, bald wieder aufzuerstehen, wurde ich so niedergeschrien, dass ich lange Zeit nicht mehr wagte, irgendetwas zu fragen, geschweige denn zu widersprechen. Ein zweiter Vorfall löste noch größere Vorbehalte gegen die christliche Lehre und Kirche aus, als ich einem Pfarrer im Religionsunterricht der Oberstufe vorhielt, dass er nur behaupten könne, dass es Gott gäbe und dass Jesus Gottes Sohn sei. Daran könnte ich jedenfalls nicht glauben. Daraufhin bekam ich eine solche Ohrfeige, dass ich in die Schulbank flog. Später allerdings entschuldigte er sich dafür und »belohnte« mich mit einer Eins in Religion wegen meines Mutes, wie er meinte.
Der Prozess von einer noch religiös geprägten Weltsicht hin zu einer letztlich humanistisch-naturalistischen Auffassung zog sich jedenfalls über viele Jahre hin. Ich war noch Abiturient, als mein jüngerer Bruder das Orgelspiel erlernte und von daher viel Kontakt zur Kirche hatte und Kirchenleute und einen angehenden Pfarrer oft mit nach Hause brachte. Als junger Student hatte ich Kontakt mit dem Studentenpfarrer und nahm gelegentlich an Wochenendtreffen der evangelischen Jugend teil. Hier hatte ich die intensivsten Gespräche über Religion. Ein Wort ist mir bis heute in Erinnerung, das mir damals viel zu schaffen machte. Es lautete: »Der Glaubenszweifel ist die Versuchung des Teufels, ihr gilt es zu widerstehen; wenn das gelungen ist, haben ich und Gott gewonnen.« Ich durchschaute damals nicht die Infamie dieses Spruches. Als mir dann noch ein Buch in die Hände fiel mit dem Titel »Und die Bibel hat doch recht«, von Werner Keller glaube ich, kam ich doch erstmal ziemlich ins Schleudern.
Sind Sie ein »gottloser« Mensch?
(lacht) An den »lieben Gott« habe ich noch eine ganze Weile geglaubt. Zu ungeheuerlich kam mir der Gedanke vor, Gottes Existenz zu leugnen. Zunächst, das heißt zu Beginn meines Studiums in Berlin, entwickelte sich in mir die Ablehnung der Kirche. Entscheidend dazu trug bei die Lektüre des Buches »Abermals krähte der Hahn« von Karlheinz Deschner. Dieses Buch führte mir in drastischer Weise die blutrünstige Vergangenheit der Kirche vor Augen. Etwas später las ich Gerhard Szczesnys Buch »Die Zukunft des Unglaubens«. Dieses Buch brachte die eigentliche Wende. Es überzeugte mich Schritt für Schritt von der ganzen Unlogik und Brüchigkeit der christlichen Lehre. Übrigens, Gerhard Szczesny war der Begründer der Humanistischen Union, so um 1962. Ich bin sehr früh dort auch Mitglied geworden. Es ging damals vor allem um die Abschaffung des berüchtigten Paragraphen 175 und gegen die Wiedereinführung der Todesstrafe. Generell allerdings um die Trennung von Staat und Kirche.
Um auf Ihre Frage zurückzukommen, ja, ich bin inzwischen ein »gottloser« Mensch. »Gottlos« im positiven Sinne von »frei«, frei von der Vorstellung einer höchsten Wesenheit, die bekanntlich den Menschen nie wirklich geholfen hat, stattdessen die Menschen immer nur gegeneinander aufgebracht hat.
Sind Atheisten bzw. Naturalisten nicht selbst daran schuld, dass der Begriff »gottlos« negativ besetzt bleibt, indem sie sich selbst stets gegen den Begriff wehren oder es auf sich beruhen lassen, wenn „gottlos“ auch heute noch negativ belegt wird?
Der Begriff »gottlos« wird von interessierter Seite gern im Sinne von »ruchlos«, »ehrlos« oder »bösartig« verwendet. Das ist natürlich Absicht. Man möchte einem Menschen, der nicht an Gott glaubt, unterstellen, dass er automatisch ein schlechter Mensch ist, der keine Werte kennt, der keine Moral kennt, kurz: der bindungslos ist und daher verantwortungslos handelt.
Diese negative Etikettierung vermeidet man, wenn man sich als Mensch, der nicht mehr an Götter glaubt, nicht über den Atheismus definiert, sondern über den Humanismus. Ich bezeichne mich als einen Humanisten, der eine anthropozentrische, also keine theozentrische Weltanschauung vertritt. Das heißt, für mich steht der Mensch im Mittelpunkt, nicht ein ausgedachter Gott. Ich bin darüber hinaus auch ein naturalistischer Humanist, der Vernunftgründe und wissenschaftliche Einsichten den religiösen Behauptungen und biblischen Texten gegenüber vorzieht. Und ich bezeichne mich als Humanisten, weil ich den ominösen Begriff der »Menschenwürde«, der ja in Verbindung gebracht wird mit dem göttlichen Ebenbild und eigentlich konkret kaum fassbar ist, ersetzt durch die Einforderung der Menschenrechte. Dazu gehören zum Beispiel die Freiheit der Weltanschauung, die Gleichberechtigung der Geschlechter oder das Recht auf Selbstbestimmung, aber zum Beispiel auch das Recht auf einen auskömmlichen Lebensstandard, also der Anspruch auf Solidarität.
Kirche hofft ihre derzeitigen Privilegien zu legitimieren
In den vergangenen 10 Jahren ist das Thema Religion wieder in der breiten Gesellschaft angekommen, nicht nur die Evangelikalen, sondern auch Menschen, die nie religiös in Erscheinung traten, sprechen plötzlich vermehrt vom »Christlichen Abendland«. Wie erklären Sie sich das?
Die religiöse Situation ist vielschichtig und auch in sich widersprüchlich. Einerseits verlieren die Kirchen zunehmend an Mitgliedern. Hinzu kommt, dass viele Menschen zwar in der Kirche verbleiben ohne tatsächliche eigene Überzeugung, aber nur aus Anpassung und Mitläufertum aufgrund gesellschaftlichen und beruflichen Drucks. Insofern nimmt in Teilen der Bevölkerung die Bedeutung der christlichen Lehre ab.
Die Kirchen wiederum sehen im Islam eine befreundete Religion, die dazu beiträgt, die Rolle der Religion in Gesellschaft und Politik wieder aufzuwerten. Die Repräsentanten der christlichen Kirchen und weite Teile der ihnen ergebenen Politiker wehren daher jede essentielle Kritik am Islam ab. Warum? Sie ahnen, dass eine substantielle Auseinandersetzung mit dieser Religion letztlich auch ihre Glaubenslehre angreifen würde. Schließlich treffen viele Argumente gegen die christliche Lehre und den Gottesglauben ebenso auf den Islam zu.
Desweiteren verspricht sich die Kirche durch eine weitere, betont gelebte Glaubenslehre eine Stärkung der Front gegen die verhassten Säkularen, Humanisten und Atheisten. Nicht zuletzt hofft die Kirche, ihre derzeitigen massiven politischen und finanziellen Privilegien dadurch zu legitimieren, dass sie diese Privilegien – natürlich mit Hilfe der Politik – nach und nach auch den muslimischen Organisationen zukommen lassen möchte. Dass der Islam wiederum auch Konkurrenz bedeutet, sieht die Kirche sehr wohl. Aber sie stellt diese Bedenken um der erhofften Vorteile wegen derzeit jedenfalls noch zurück.
Geradezu unübersichtlich wird die Situation schließlich, weil viele Bürger in der christlichen Religion eine Bastion gegen den Islam und die Islamisierung unserer Gesellschaft sehen. Auch dann, wenn diese Bürger selbst nicht mehr gläubig sind, so betrachten sie doch die Kirchen als das kleinere Übel und als ein Bollwerk gegen einen aggressiv-kämpferisch auftretenden orthodoxen Islam mit seinem Anspruch, die gesamte Gesellschaft nach Koran und Scharia zu formieren.
Die spirituelle Bedeutung der Religion tritt also zurück hinter die politische. Die Religion wird hier instrumentalisiert, sowohl seitens der Christen wie der Muslime, um in erster Linie politische Ziele durchzusetzen, nämlich die Wiedereroberung der Gesellschaft durch die Religion.
Im gesamten westlichen Raum von USA bis nach Europa bemerkt man zunehmend, wie liberale und religiöse Kräfte, je nach eigener Motivation, sich vereinen, wenn es um »Islam-Kritik« geht. Religionskritiker bzw. säkulare Aktivisten haben es zurzeit schwer durchzudringen, ohne sich nicht ständig dem Rassismusvorwurf stellen zu müssen. Was raten Sie ihnen?
Die Antwort hängt zum einem mit den eben ausgeführten Gründen zusammen. Religiöse und sich liberal nennende, aber dem Christentum oft nahestehende Kräfte sehen im Islam eine befreundete Religion, die teilweise die eigenen Zielen unterstützt und die als Religion zu bekämpfen schnell die Schwäche und Haltlosigkeit der eigenen Religion bloßlegen könnte. Das Totschlagargument »Rassismus« eignet sich daher hervorragend dazu, einer rationalen Diskussion auszuweichen. Als einziges rationales Argument, das den Islam schützt, dient der Hinweis auf die verfassungsmäßige Religionsfreiheit.
Es kommen aber andere politische Gründe dazu. Da ist zunächst der gemeinsame Hass auf die USA und überhaupt den kapitalistischen Westen, den viele politisch links Stehende mit den radikalen Muslimen teilen. Hinzu kommen unsere grünen Sozialromantiker, die sich immer noch nach der bunten multikulturellen Gesellschaft sehnen, die sich selbst formiert. Was sie meines Erachtens nicht sehen wollen, das ist der damit einhergehende Verlust an Aufklärung und Säkularität. Jede noch so berechtigte Kritik am Verhalten von Muslimen und ihren Organisationen wird schnell als Fremdenfeindlichkeit geächtet und damit abgewehrt.
Und noch einen Gedanken möchte ich äußern, der vielleicht erklärt, warum gerade ein großer Teil der Linken, speziell in Deutschland Angehörige der Partei DIE LINKE, inzwischen als geradezu blinde Verteidiger des Islam auftreten. Sozialisten und Kommunisten, die früher mit scharfsinnigen Begründungen sich von jeglicher Religion distanzierten, sehen möglicherweise in den hier sozial und ökonomisch scheiternden Muslimen vielleicht das ihnen inzwischen abhanden gekommene Proletariat, das ihnen dereinst wieder zur Macht verhelfen könnte. Sie warten ab, bis ihre Stunde gekommen ist, um mit Hilfe aller Unzufriedenen und Gescheiterten endlich eine vermeintlich gerechte Republik zu etablieren. Wie gesagt – eine mir nicht abwegig erscheinende Vermutung.
Und nicht zuletzt denke ich an uns Humanisten. Eigentlich sind wir darin geübt, uns für Aufklärung, Demokratie und Menschenrechte einzusetzen. Aber in Sachen Flüchtlingspolitik zum Beispiel fürchten viele von uns den Vorwurf der Inhumanität und Fremdenfeindlichkeit und schweigen daher mehrheitlich lieber zu den Problemen mit Menschen aus einer religiös dominierten und patriarchalisch geprägten Kultur. Dieses Schweigen kann uns jedoch langfristig unsere Freiheiten kosten.
Könnte man es so sehen, dass Menschen, die Islamkritik differenziert betrachten, sich auch nicht mehr äußern wollen und den Menschen das Feld überlassen, die tatsächlich fremdenfeindlich sind? Gehört Kritik nicht zur Aufklärung dazu?
Dahinter steckt bei manchen die Sorge, das Bild vom Humanismus, so wie wir ihn verstehen, zu beschädigen. Der Humanismus ist von viel Toleranz – nicht unbedingt Akzeptanz –gegenüber anderen Weltanschauungen und Auffassungen geprägt. Folglich tut man sich schwer mit Kritik an einer anderen Weltanschauung, hier eben am Islam. Andere sind enttäuscht über so viel Unredlichkeit gegenüber dem Islam, aber schweigen lieber. Sie können nicht verstehen, dass man das Christentum mit allen logischen und sachlichen Argumenten, die zur Verfügung stehen, ablehnt, ja geradezu verteufelt. Gegenüber einer noch mittelalterlicher daherkommenden Religion hüllt man sich in Schweigen, ja diffamiert deren Kritiker.
Das Tragische an dieser Kritiklosigkeit gegenüber dem Islam besteht darin, dass das unverständliche Schweigen über eine Religion aus dem tiefen Mittelalter jene Kritiker auf den Plan ruft, die sich mit Verurteilung nicht zurückhalten, dabei auch schnell fremdenfeindliche Parolen darunter mischen. Das gibt jenen in meinen Augen unredlichen Islamophilen die willkommene Gelegenheit, Islamkritik pauschal als Fremdenfeindlichkeit und Rassismus zu denunzieren. Der i.d.Z. geprägte Begriff Islamophobie ist dabei ein mit Bedacht gewählter Kampfbegriff.
Sie fragen: Gehört Kritik nicht zur Aufklärung dazu? Selbstverständlich gehört Kritik zur Aufklärung. Aufklärung lebt überhaupt wesentlich von der Kritik am Bestehenden.
Altes und Neues Testament richtet sich gegen Andersgläubige und Ungläubige
Herr Lehnert, viele stellen das Christentum dem Islam gegenüber. Ist das Christentum wirklich »die friedlichere Religion«?
Sie wiesen eingangs darauf hin, dass ich nachberuflich ein Buch verfasst habe mit dem Titel »Warum ich kein Christ sein will«. Es ist inzwischen in 6. Auflage erschienen. In diesem Buch habe ich mich ausführlich mit der Entstehung und der Geschichte des Christentums befasst. Natürlich auch mit vielen Aussagen der Bibel. Es kann gar keine Rede davon sein, dass das Christentum eine friedlichere Religion sei. Wie alle monotheistischen Religionen verhält sich grundsätzlich auch das Christentum feindlich gegenüber Andersgläubigen und erst recht gegenüber Ungläubigen.
Altes und Neues Testament sind voller Textstellen, die sich gegen Andersgläubige und Ungläubige richten. Auch Homosexualität wird in der Bibel – im Alten wie im Neuen Testament – als todeswürdiges Verbrechen angesehen und entsprechend geahndet. Aber selbst Jesus scheut sich nicht – trotz seiner propagierten Feindesliebe – immer wieder mit der Hölle und dem ewigen Feuer zu drohen, wenn man seinem Glauben nicht folgen will. Sogar die als Kernstück von Ethik und Barmherzigkeit bezeichnete Bergpredigt enthält Passagen, die für geringfügige Verfehlungen die Hölle als Strafe aussprechen. Was schließlich in der Offenbarung steht, ebenfalls Teil des Neuen Testaments, ist an Grausamkeit und Menschenverachtung kaum noch zu überbieten. Ähnlich wie im Koran ist in der Bibel von Steinigen von Ehebrecherinnen, Verbrennen von Zauberinnen, Pfählen von Glaubensabtrünnigen oder Vernichten von Ungläubigen in kochendem Schwefel die Rede.
Bibel wie Koran enthalten viele Passagen, die zu Frieden, Nächstenliebe und Barmherzigkeit aufrufen. Sie enthalten aber beide auch viele Stellen, die den Glaubensabtrünnigen und Ungläubigen den Kampf ansagen und dabei vor keiner Form der Gewalt zurückschrecken.
Wie erklären sich solche widersprüchlichen Texte in den »heiligen Schriften«?
Diese Texte stammen aus verschiedenen Zeiten und aus der Feder verschiedener Autoren und hatten vielfach politische Funktionen. Der strategische Vorteil solcher sich eigentlich ausschließender Aussagen ist, dass man für jede Maßnahme, für Bestrafungen wie für Heiligsprechungen, für Missionierungen wie für Glaubenskriege ein rechtfertigendes Gotteswort zitieren kann. Weitere Begründungen braucht man dann nicht, Gott hat es ja – angeblich – gutgeheißen, wenn nicht sogar befohlen.
Einzuräumen ist, dass die Kirche sich auf diese gewaltaufrufenden und gewaltverherrlichenden Bibelstellen inzwischen nicht mehr beruft. Sie verschweigt sie vielmehr schamhaft. In den letzten Jahrhunderten musste sich das Christentum den Argumenten der Vernunft und den aufkommenden Menschenrechten stellen. Das Christentum und die Kirche wurden regelrecht gezwungen, sich den Werten anzunähern, die heute eine aufgeklärte Gesellschaft auszeichnen. Dieser Wandlungsprozess musste der Kirche aber mit Blut abgetrotzt werden, freiwillig passte sich diese Institution nicht an.
Höchst bemerkenswert ist, dass die Kriterien, die zur Ablehnung etwa von Steinigungen, Sklavenhalterei, Verbrennen sog. Ketzer führten oder zur Missbilligung der untergeordneten Rolle der Frauen, nicht der Bibel entstammen. Also nicht den Zehn Geboten oder der Bergpredigt etwa, beides ja Kernstücke der christlichen Moral. Sie sind allein ein Ergebnis vernunftorientierten und humanistischen Denkens.
Diesen Wandlungsprozess hat der Islam noch vor sich. Führende Geistliche des Islam wehren sich dagegen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. So wie es die Kirche einst auch tat.
Von einem freien Willen kann kaum die Rede sein
Die Neurowissenschaft erklärt mittlerweile ganz gut, warum »Mensch« »Böses tut«. Kann man die religiöse Erklärung, z.B. »das Böse«, endlich zu den Akten legen?
In der Tat, das »Böse« kann man zu den Akten legen. Es gibt nicht das »Böse«, das Böse als eine mystische Kraft, die negativ in das Weltgeschehen eingreift. Das »Böse« ist ein Konstrukt der Theologie, um die Existenz des Leids und des Elends auf der Erde erklären zu können. Es gibt »böse« Gedanken und »böse« Taten, und zwar »böse« im Sinne von »schädlich« für Mensch und Gesellschaft.
Der Kirchenlehrer Thomas von Aquin – er lebte im 13. Jahrhundert – hat übrigens das sog. »Böse« erfunden. Er behauptete, dass jeder Mensch über einen freien Willen verfüge. Dieser freie Wille – so Thomas von Aquin – gebe ihm jederzeit die Möglichkeit, statt seinen Lüsten und Trieben nachzugehen, sich für das Rechtmäßige, das Gute, für die göttlichen Gebote zu entscheiden. Wenn er es nicht tue, treffe er bewusst eine freie Willensentscheidung. In diesem freien Willen sah Thomas von Aquin die letzte Ursache des Bösen und der Sünde. Das Böse – so also seine Schlussfolgerung – hat seinen Ursprung im Menschen. Obwohl der Mensch frei sei in seiner Entscheidung, sich für das Gute zu entscheiden, wählt er aus niederen Motiven oft das Böse.
Macht man sich klar, dass die Vorstellung eines »freien Willens« eine Illusion ist, wie von der Neurowissenschaft längst nachgewiesen werden kann, jedenfalls von der überwiegenden Anzahl ihrer Vertreter, dann bricht diese ganze Konstruktion des »Bösen« in sich zusammen. Wovon auch sollte der Wille frei sein?
Etwa von meinen Erbanlagen, meiner Erziehung, meinen Erfahrungen, meinen unbewussten Motiven, den Umständen und äußeren Bedingungen, denen ich bei meiner Willensbildung ausgesetzt bin, von Erwartungen meiner Umgebung oder angedrohten Sanktionen? Ich bin auch ausgeliefert den Fähigkeiten oder Unfähigkeiten bzw. dem Entwicklungsstand meines Gehirns.
Aber zugegeben – die Frage des freien Willens ist zu komplex, um sie im Rahmen eines Interviews zu klären.
Was halten Sie davon, erst einmal die Grundkenntnisse aus der Neurowissenschaft, die das Verhalten der Menschen erklärt, an Schulen zu lehren, statt Ethik oder zumindest beides?
Ich denke, dass wir die Schule nicht überfordern sollten. Der als wichtig angesehene Lehrstoff ist ohnehin in den letzten Jahrzehnten stetig angewachsen. Es genügt meines Erachtens schon, einem Schüler zu vermitteln, dass unser Verhalten geprägt ist durch eine Vielzahl von Faktoren. Zum Beispiel – ich erwähnte das eben schon – durch unsere Erbanlagen, durch die Erziehung (oder Nicht-Erziehung), die wir erfahren haben, durch unsere Erfahrungen oder z.B. Kriegserlebnisse, denen ein Flüchtling ausgesetzt war, durch unsere Wünsche, die uns die Werbung suggeriert oder die Erwartungen, die Eltern und Lehrer an uns richten und vieles mehr. Von einem freien Willen kann also kaum die Rede sein.
Etwas zu verstehen heißt ja nicht unbedingt, das auch hinnehmen. Aber wenn ich erst einmal verstanden habe, warum sich ein Mensch so verhält, wie er sich verhalten hat, besonders dann, wenn er sich falsch verhalten hat, dann weiß ich, wo ich ansetzen muss, um sein zukünftiges Verhalten zu ändern. Das wäre auch eine Form von Ethikunterricht, weil sie zu einem verständnisvolleren und humaneren Miteinanderumgehen führt.
Ich will mal ein Beispiel nennen. Wir wissen heute, dass Homosexualität keine selbst gewählte sexuelle Orientierung ist, sondern biologisch-genetische Wurzeln hat und vermutlich in einer frühen embryonalen Entwicklungsphase im Gehirn festgelegt wird. Wenn ich das weiß, dann bringe ich Verständnis auf für ein Verhalten, dass ich vielleicht gefühlsmäßig für mich ablehne, aber vom Verstand her akzeptieren kann. Ich kann es akzeptieren, weil dieses Verhalten für einen homosexuell veranlagten Menschen von der Natur festgelegt wurde. Er kann, und will sich vor allem nicht, anders verhalten.
Insofern kann wissenschaftliche Einsicht ethisches Verhalten erzeugen, zumindest begünstigen. In diesem Fall Toleranz gegenüber einer sexuellen Orientierung, die ich für mich ganz persönlich vielleicht ablehne.
Herr Lehnert, bevor ich das Interview abschließe, erlaube ich mir noch eine ganz persönliche Frage: Als Kritiker bleibt man natürlich von Kritik nicht verschont. Gab es auch schon mal eine Kritik, die sie zum Umdenken brachte?
Na, also, ganz gewiss. Es wäre ja geradezu vermessen anzunehmen, dass man Kritik nicht nötig hätte. Nur durch Kritik, denke ich, kommt man mit der Entwicklung seiner eigenen Gedanken weiter. Allerdings gibt es auch Kritik, die nach reiflicher eigener Bedenkzeit auch dazu führen kann, dass man umso überzeugter ist von seiner eigenen Auffassung.
Trotzdem – Kritik und Zweifel sind die Antriebskräfte bei der Suche nach der richtigen Antwort. Schon zu Recht ist nach Popper, dem Wissenschaftstheoretiker, der unentwegte Versuch der Widerlegung, also die permanente Kritik, das Prinzip der Wahrheitsfindung.
Aber Ihre Frage veranlasst mich, an dieser Stelle eine persönliche Erfahrung weiterzugeben.
Früher habe ich in Diskussionen so lange gestritten, bis ich meinte, dass der andere keine Argumente mehr aufzubieten hätte. Meist stellte sich dann heraus, dass der andere letztlich bei seiner Meinung blieb. Warum? Ein heftig geführter Meinungsstreit, besonders wenn es um politische oder weltanschauliche Fragen geht, bekommt sehr schnell den Charakter eines Streits, der die ganze Person erfasst. Den Streit zu verlieren, bedeutet dann oft auch, an persönlichem Prestige einzubüßen. Das heißt, ein heftig ausgetragener Meinungsstreit hat neben der intellektuellen Komponente immer auch eine emotionale Seite.
Ich habe daraus gelernt, einen solchen Meinungsstreit nur bis zu einem bestimmten Punkt zu führen. Besonders bei religiösen Fragen habe ich die Erfahrung gemacht, dass es zielführender ist, sich darauf zu beschränken, Fakten darzulegen und auf Widersprüche aufmerksam zu machen – Schluss. Keinesfalls sollte man die Kapitulation der Gegenseite anstreben. Viel effektiver ist es, wenn ich die letzten Schlussfolgerungen aus meinen Argumenten dem Diskussionspartner überlasse, und zwar, wenn dieser wieder mit sich ganz allein ist. Im Fall einer überzeugenden Argumentation meinerseits fällt es dem anderen viel leichter, mir insgeheim nachträglich Recht zugeben. Schließlich muss er seine intellektuelle Niederlage nicht offen zugeben.
Die Wahrscheinlichkeit, dass ich einen weiteren Menschen von meinen Ideen überzeugen kann, steigt so eher als bei einem offenen Schlagabtausch. Oft habe ich erlebt, dass Menschen nach einem solchen gebremst, zurückhaltend geführten Streitgespräch mir später gestanden, dass sie sich meiner Meinung angeschlossen hätten.
Herr Lehnert, ich bedanke mich für das Interview.
Das Interview führte Ramona Wagner.
Uwe Lehnert im WWW:
Webseite: http://warum-ich-kein-christ-sein-will.de/
Facebook: https://www.facebook.com/uwe.lehnert.14
Kommentare
Sven Larat, exakt auf den Punkt gebracht! Danke für diese knappe Klarstellung. Das ist es, was der Kommentator Norbert Schönecker in puncto Unfreien Willen nicht verstanden hat.
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Lieber Herr Schönecker,
Sie schreiben: »Warum brutalste Körperstrafen für Heiden und Sünder unabdingbar sein müssen, will mir nicht einleuchten.« Ich glaube Ihnen das ja auch. Aber über Jahrtausende haben Ihre Glaubensbrüder genau so gehandelt. Katholiken und andere Christen sind Muslimen in vielen Ländern dieser Erde nur eine geringe Zeitspanne voraus. Dank Aufklärung - die nicht das Verdienst von Christen ist, obwohl sie die christliche Moral (fast) als ein Alleinstellungsmerkaml ansehen.
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Zwei Anmerkungen - eine zu einem zentralen Thema, eine andere zu einem Nebenthema.
Zuerst das zentrale Thema: die Menschenrechte.
Sind Menschenrechte wirklich ein Ergebnis vernünftigen Denkens? Noch dazu ein zwingendes Ergebnis?
Man kann mit vernünftigem Denken auch zu einer nietzscheschen Diktatur der Übermenschen oder zu einer Gesellschaftsordnung wie in "Brave New World" kommen. In beiden Fällen sind unsere Menschenrechte obsolet. Auch Rassisten bedienen sich bis heute (pseudo-)wissenschaftlicher Argumente (Stichwort "Phrenologie") und halten sich dabei für sehr vernünftg. Ich nehme einmal an, dass manche rassistische Wissenschaftler - hoch aufgeklärte, vernunfthörige Menschen - den Phrenologiequatsch wirklich geglaubt haben, jedenfalls bis ins späte 19. Jahrhundert.
Ich halte die Menschenrechte eher für ein Ergebnis einer Weltanschauung, gespeist durch die häufigeren Begegnungen mit Menschen anderer Rassen und Kulturen und die Erkenntnis, dass es sich dabei um Menschen wie wir handelt. Die Aufklärung hat dabei eine große Rolle gespielt, auch der breite Zugang von Menschen zu Bildungseinrichtungen.
Das Nebenthema: Das Beispiel Homosexualität.
Zunächst mal: Ich bin froh, dass Homosexuelle wenigstens in unserer Kultur nicht mehr verfolgt werden. Aber so, wie es Herr Lehnert argumentiert, reicht das m.E. bei Weitem nicht aus.
Hier die entsprechenden Absätze:
"Wir wissen heute, dass Homosexualität keine selbst gewählte sexuelle Orientierung ist, sondern biologisch-genetische Wurzeln hat und vermutlich in einer frühen embryonalen Entwicklungsphase im Gehirn festgelegt wird. Wenn ich das weiß, dann bringe ich Verständnis auf für ein Verhalten, dass ich vielleicht gefühlsmäßig für mich ablehne, aber vom Verstand her akzeptieren kann. Ich kann es akzeptieren, weil dieses Verhalten für einen homosexuell veranlagten Menschen von der Natur festgelegt wurde. Er kann, und will sich vor allem nicht, anders verhalten.
Insofern kann wissenschaftliche Einsicht ethisches Verhalten erzeugen, zumindest begünstigen. In diesem Fall Toleranz gegenüber einer sexuellen Orientierung, die ich für mich ganz persönlich vielleicht ablehne."
Man stelle sich vor, statt "Homosexualität" stünde hier "Pädophilie". Die entsteht zwar nicht in einer frühen embryonalen Entwicklungsstufe, sondern wahrscheinlich etwas später, aber sie wird genausowenig frei gewählt wie Homo- oder Heterosexualität. Diese Erkenntnis führt tatsächlich dazu, dass ich pädophil veranlagte Menschen nicht verachte. Aber mein Verständnis endet in dem Moment, wo ein Mensch seine Pädophilie auslebt.
Herr Lehnert muss also erklären, warum er einen Unterschied zwischen Pädophilie und Homosexualität macht (was er wahrscheinlich tut). Die Erklärung ist natürlich einfach: Einvernehmliche Homosexualität zwischen Erwachsenen schadet niemandem (unter eschatologischem Vorbehalt), während hingegen selbst einvernehmliche pädophile Kontakte (falls es so etwas überhaupt gibt) sehr großen Schaden verursachen können.
Wir sehen also: Herrn Lehnerts Argumentation ist reichlich dünn. Nicht die wissenschaftliche Einsicht erzeugt ethisches Verhalten, sondern das Nachdenken über möglichen Schaden, verbunden mit ethischen Grundsätzen, seien sie taoistischer, christlicher oder kantischer Natur.
Dass hingegen wissenschaftliche Einsicht als Material für ethische Argumente sehr wichtig sein kann, steht außer Frage. Auch die Erkenntnisse bzgl. Entwicklung der sexuellen Orientierung sind wichtig. Aber Verständnis für die Entstehung von Persönlichkeit und Veranlagung führt noch nicht zu Toleranz für jegliches Verhalten.
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@Norbert Schönecker,
Sie sagen: "... verbunden mit ethischen Grundsätzen, seien sie taoistischer, christlicher oder kantischer Natur."
Wie kommen Sie auf den abwegigen Gedanken, dass es so etwas wie eine "christliche Ethik" geben könnte?
Gehen Sie hinter das Zeitalter der Aufklärung zurück und dann fragen Sie sich, wie es um die "christlicher Ethik" = Vernichtung Andersdenkender und Abweichler bestellt ist.
Noch Fragen?
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