Gedankenexperiment: Beobachter am Bahnsteig
Die Relativität der Gleichzeitigkeit ist ein aus der speziellen Relativitätstheorie folgendes Prinzip, nach dem selbst zwei in einem Inertialsystem gleichzeitig stattfindende Ereignisse für einen Beobachter in einem anderen, relativ bewegten Inertialsystem zu einer anderen Zeit stattfinden. D.h. es gibt keine universelle Gleichzeitig von Ereignissen, über die sich alle Beobachter einig sind.
Hintergrund
1. Bei zwei Ereignissen, die am selben Ort erfolgen, ist unmittelbar beobachtbar, ob sie gleichzeitig stattfinden. Wenn zwei Ereignisse aber voneinander entfernt eintreten, reicht die bloße Beobachtung nicht mehr aus.
2. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war man der Meinung, dass Zeit eine absolute Größe ist, d.h. dass sie in allen Inertialsystemen gleich schnell abläuft. Danach wäre es prinzipiell möglich, zwei Uhren perfekt miteinander zu synchronisieren und sie dann an den beiden Ereignisorten aufzustellen. Wenn die Uhren dann bei beiden Ereignissen dieselbe Zeit anzeigen, fanden die Ereignisse zeitgleich statt.
3. Die Spezielle Relativitätstheorie und ihre empirischen Bestätigungen widerlegen jedoch die Annahme einer absoluten Zeit. Laut der Zeitdilatation vergeht die Zeit in relativ bewegten Inertialsystemen unterschiedlich schnell, weshalb man synchronisierte Uhren auch nicht relativ zueinander bewegen (somit in verschiedene Inertialsysteme setzen) und sie dann noch als gleich schnell ablaufend, d.h. synchronisiert betrachten kann.
Da die Lichtgeschwindigkeit in der Relativitätstheorie aber als konstant gilt, kann Zeitgleichheit so gemessen werden: Wenn zwei Ereignisse an zwei Orten A und B eines Inertialsystems von zwei Lichtstrahlen ausgelöst werden können, die im gleichen Augenblick vom exakten Mittelpunkt von A und B ausgehen, dann gelten diese beiden Ereignisse als gleichzeitig.
Einsteins Gedankenexperiment
Wenn sich die beiden Orte aber in verschiedenen Inertialsystemen befinden, also relativ zueinander bewegen, können die in ihnen stattfindenden Ereignisse nicht mehr universell gleichzeitig geschehen. Der Grund dafür lässt sich durch ein Gedankenexperiment veranschaulichen, das auf Albert Einstein zurückgeht:
Ein Zug fährt mit der konstanten Geschwindigkeit v durch einen Bahnhof. Auf dem Bahnsteig und im Zug befindet sich jeweils ein Beobachter. Das in Fahrtrichtung vordere Ende des Zuges sei der „Zuganfang“ und das andere das „Zugende“. Der Zuganfang erreicht das „hintere Bahnsteigende“ und kommt später am „vorderen Bahnsteigende“ an.
Für den Beobachter am Bahnsteig sieht es so aus, als würde er ruhen und der Zug mit der Geschwindigkeit –v an ihm vorbeifahren. Aber für den Beobachter im Zug ruht er und der Bahnsteig bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von +v am Zug vorbei. Die Sichtweisen beider Beobachter sind beides Inertialsysteme und laut dem Relativitätsprinzip damit gleichwertig.
Der Beobachter am Bahnsteig kann empirisch feststellen, ob ein Lautsprecher gleichzeitig ertönt und vibriert. Wenn er jedoch wissen möchte, ob die ältere Frau und der Gleisarbeiter gleichzeitig „Halt“ und „Abfahrt“ rufen, muss er auf die Lichtkonstante zurückgreifen:
In der oberen Grafik ist in der Mitte des Bahnsteiges eine Lampe eingezeichnet. Für den Beobachter am Bahnstieg ist klar: Wenn die Lampe gleich weit von der älteren Frau und vom Gleisarbeiter entfernt ist, und wenn ihr Lichtstrahl beide in dem Moment erreicht, an dem sie „Halt“ und „Abfahrt“ rufen, dann geschehen diese Ereignisse zeitgleich.
Für den Beobachter im Zug ist die Situation aber komplexer: Zunächst befindet sich der Zug in der Mitte des Bahnsteigs und auch für den Beobachter im Zug sind Arbeiter und Dame gleich weit von der Lampe entfernt. Dann aber bewegt der Zug sich mit der Geschwindigkeit v in Richtung vorderes Bahnsteigende. Da sich Licht unabhängig vom Inertialsystem immer gleich schnell ausbreitet, besitzt der Lichtstrahl der Lampe auch gegenüber dem Inertialsystem „Zug“ in beiden Richtungen die Geschwindigkeit c. Aufgrund der relativen Bewegung des Zuges zum Bahnsteig, kommt aus der Sicht des Beobachters im Zug das vordere Bahnsteigende dem Licht entgegen. Sodass der nach vorne laufende Lichtstrahl eine kürzere Strecke zurücklegen muss, um den Arbeiter zu erreichen, als der nach hinten laufende Lichtstrahl, um die alte Dame zu erreichen. Deshalb wird für den Beobachter im Zug das Licht zunächst den Arbeiter und danach die Dame erreichen.
Die beiden Beobachter sind sich also nicht einig in der Frage, ob Arbeiter und Dame zeitgleich rufen. Da beide Systeme aber Inertialsysteme sind, ist keines gegenüber dem anderen ausgezeichnet. Gleichzeitigkeit ist für die beiden Beobachter tatsächlich verschiedene, eine universelle Form der Gleichzeitigkeit für alle Inertialsysteme kann es nicht geben.
Kausalität
Die zeitliche Abfolge von zwei Ereignissen kann von verschiedenen Beobachtern also unterschiedlich beurteilt werden. Es gibt aber auch Aussagen, die unabhängig vom Beobachter wahr sind:
1. Wenn es ein Bezugssystem gibt, in dem die Ereignisse A und B am gleichen Ort stattfinden, aber keines, in dem sie zur selben Zeit stattfinden, dann nennt man die Lage der Ereignisse zueinander zeitartig. Dann ist folgende Aussage immer wahr: „von Ereignis A erreicht man Ereignis B mit Unterlichtgeschwindigkeit.“
2. Wenn die Ereignisse A und B in keinem Bezugssystem am gleichen Ort noch zur selben Zeit stattfinden, dann nennt man die Lage der Ereignisse zueinander lichtartig. Dann ist folgende Aussage immer wahr: „von Ereignis A erreicht man das Ereignis B mit Lichtgeschwindigkeit“.
3. Wenn es ein Bezugssystem gibt, in dem die Ereignisse A und B zur selben Zeit stattfinden, aber keines, in dem sie am gleichen Ort stattfinden, dann nennt man die Lage der Ereignisse zueinander raumartig. Dann ist die folgende Aussage immer wahr: „Weder erreicht man Ereignis A von Ereignis B mit maximal Lichtgeschwindigkeit, noch umgekehrt.“
4. Wenn die Ereignisse A und B zur selben Zeit und am selben Ort stattfinden, stimmen alle Beobachter darin überein, dass es sich um dasselbe Ereignis handelt.
Der dritte „raumartige“ Fall ist besonders interessant, da nur hier die zeitliche Reihenfolge der Ereignisse A und B vom Beobachter abhängig ist. Wenn es möglich sein sollte, dass eines der beiden Ereignisse das andere beeinflussen kann, führt dieser Fall zu Problemen der Kausalität. Denn dann kann, je nach Beobachter, das Ereignis A sowohl die Ursache als auch die Wirkung von B sein. Und gemäß dem Relativitätsprinzip gelten beide Sichtweisen als gleichwertig!
Wenn das stimmt und wenn Überlichtgeschwindigkeiten möglich sind, dann sind auch Zeitreisen möglich! Denn wenn für einen Beobachter im Inertialsystem 1 A vor B stattfindet, dann kann er ganze einfach in Unterlichtgeschwindigkeit von A nach B reisen. Danach wechselt er durch normale Beschleunigung in ein das Inertialsystem 2, in dem B vor A stattfindet. Anschließend reist er mit Überlichtgeschwindigkeit wieder von B zu A. Auf diese Weise könnte der Beobachter die Ursache, deren Wirkung er selbst ist, selbst verursachen oder verhindern (siehe: Großvaterparadoxon).
Es wird jedoch davon ausgegangen, dass Überlichtgeschwindigkeiten unmöglich sind und dass alle Beobachter darin übereinstimmen, dass raumartige Ereignisse einander nicht beeinflussen können. Nur zeitartig oder lichtartig zueinander gelegene Ereignisse können sich gegenseitig beeinflussen, da bei diesen die zeitliche Reihenfolge aber eindeutig festliegt, führen auch sie nicht zu Paradoxien. Ein selbstverursachendes Ereignis scheint also weiterhin unmöglich.
Schlusswort
In der allgemeinen Relativitätstheorie ist die Gleichzeitigkeit selbst für „mitbewegte“ (bedeutet hier: frei fallende) Beobachter schwer zu definieren. Der Grund hierfür ist, dass die Zeitdilatation jetzt nicht nur von der Bewegung, sondern von sämtlichen gravitierenden Massen abhängt. Das hat zur Folge, dass Fragen wie „ob gerade Aliens von den Sternen da oben auf uns hinabsehen?“ wenig Sinn machen.
Für die menschliche Alltagserfahrung spielen diese Effekte keine Rolle: Selbst, wenn man auf dem Mount Everest stünde und aufs Meer hinaussehen könnte, wäre für den gesamten sichtbaren Bereich der Erdoberfläche bis zum Horizont die Relativität der Gleichzeitigkeit auf einen Bereich von wenigen Millisekunden beschränkt. Dieses Zeitintervall liegt unterhalb der Schwelle, ab der wir überhaupt in der Lage sind, die Reihenfolge von Ereignissen zu erkennen, und unterhalb der Schwelle, ab der wir optische Eigenschaften als nicht-gleichzeitig wahrnehmen können. Für die Alltagserfahrung ist also das Licht stets unendlich schnell und die Gleichzeitigkeit wohldefiniert.
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