Sind „Rassen“ soziale Konstrukte?

Und ohne wissenschaftliche oder biologische Bedeutung?

Sind „Rassen“ soziale Konstrukte?

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Es scheint mir, als höre ich jeden Tag, dass „Rassen keine biologische Realität sind oder Bedeutung haben; sie sind rein soziale Konstrukte“. Und diese Aussage ist ziemlich irreführend, denn selbst die grob als „weiß, schwarz, hispanisch und ostasiatisch“ bezeichneten Rassen in den USA sind, wie die heutige Abhandlung zeigt, biologisch so weit unterscheidbar, dass man, wenn man sich die Gene einer unbekannten Person ansieht, eine 99,86%ige Chance hat, dass deren selbst angegebene „Rasse“ mit einer der vier oben genannten Gruppen übereinstimmt. Das heißt, wenn man eine Person fragt, wie sie sich selbst als eine der vier SIRE-Gruppen (SIRE: „self identified race/ethnicity“) identifiziert, und dann eine recht umfassende genetische Analyse jeder Person durchführt, feststellt, dass die Gruppen in multivariate Cluster fallen.

Noch wichtiger ist, dass es kaum eine Abweichung zwischen dem SIRE einer Person und der genetischen Gruppe gibt, in der sie fällt. Über 99 % der Personen in der Stichprobe dieser Studie können anhand von nur 326 Regionen des Genoms genau diagnostiziert werden, welcher Rasse oder Ethnie sie angehören.

Das wiederum bedeutet, dass es biologische Unterschiede zwischen verschiedenen SIREs gibt, so dass Rasse nicht einfach ein „soziales Konstrukt“ sein kann. Dies steht in direktem Widerspruch zu der extremen Auffassung von „Rasse“, wie sie im Journal of the American Medical Association (JAMA) zum Ausdruck kommt, eine Aussage, die ich in einem früheren Beitrag diskutiert habe:

Rasse und ethnische Zugehörigkeit sind soziale Konstrukte ohne wissenschaftliche oder biologische Bedeutung.

Nein, und wir wissen schon seit fast 20 Jahren, dass diese Aussage falsch ist. Wenn man „biologische Bedeutung“ als „Daten zeigen, dass es eine endliche Anzahl von verschiedenen Gruppen mit großen genetischen Unterschieden gibt“ versteht, dann ist es natürlich eine korrekte Aussage. Aber niemand, außer Rassisten oder diejenigen, die keine Ahnung von moderner Populationsgenetik beim Menschen haben, denkt mehr so.

Die Bedeutung der biologischen Realität, die in Abhandlungen wie der, die wir heute diskutieren, angeführt wird, ist folgende: Gene können verwendet werden, um die biologische Abstammung festzustellen, die sicher an der SIRE eines Menschen beteiligt ist. Und deshalb sind „Rassen“ oder „Ethnien“ nicht einfach erfundene Gruppen, sondern sagen etwas über den evolutionären Ursprung der Gruppenmitglieder aus.

Wie ich schon sagte, hat sich das „alte Konzept“ der Rassen als eine kleine Anzahl genetischer Gruppen, die sich in ihren Genen stark unterscheiden, erledigt. Aber es gibt immer noch Gruppen, und es gibt Gruppen innerhalb von Gruppen, und Gruppen innerhalb von Gruppen innerhalb von Gruppen. Die genetische Variation in unserer Spezies ist also hierarchisch, wie es zu erwarten wäre, wenn sich die Variation zwischen den Gruppen in geografisch isolierten Populationen entwickelt hätte, zwischen denen eine gewisse, aber nicht vollständige Vermischung stattfand.

Diese Sichtweise der menschlichen Variation veranlasst mich, das Wort „Rasse“ im Allgemeinen nicht mehr zu verwenden und stattdessen „Ethnizität“ zu benutzen. In diesem Artikel verwende ich jedoch den Begriff „Rasse“, da ich mich auf die obige JAMA-Aussage beziehe und ich verwende es auch für die jeweils individuellen Unterscheidung ihrer eigenen „Rasse“.

Ich habe dies schon einmal im August des letztes Jahres betont. Dort habe ich die Arbeit von Rosenberg et al. aus dem Jahr 2002 zitiert, in der berichtet wird, dass „man mit Hilfe von Daten aus vielen Genen und Genregionen und Clustering-Algorithmen zeigen kann, dass die Menschheit genetische Cluster bildet, die mit der Geografie (verschiedene Kontinente oder Subkontinente) korrespondieren, die natürlich der Evolutionsgeschichte entsprechen.“ Wie ich damals außerdem sagte,

…die Arbeit von Rosenberg et al. […] zeigt, dass die genetische Ausstattung menschlicher Gruppen signifikant mit ihrer geografischen Lage korreliert. Wenn man zum Beispiel die genetische Variation der Menschen in fünf Gruppen aufteilt (wie viele Gruppen man wählt, ist willkürlich), erhält man eine ziemlich klare Abgrenzung zwischen Menschen aus Afrika, aus Europa, aus Ostasien, aus Ozeanien und aus Amerika. (Man kann weitere Unterteilungen zeigen, wenn man sechs Gruppen auswählt, dann taucht das asiatische Volk der Kalash auf). Dies ist ein Grund, warum Unternehmen wie „23 And Me“ im Geschäft bleiben.

Diese Zuordnung von Standort und genetischer Clusterbildung (und diese geografischen Cluster entsprechen alten „klassischen“ Vorstellungen von Rasse) ist von wissenschaftlicher Bedeutung, da die Gruppierungen die Geschichte der menschlichen Migration und der genetischen Isolation darstellen. Das ist der Grund, warum sich diese Gruppen überhaupt bildeten. Nun kann man diese Gruppen „ethnische Gruppen“ statt „Rassen“ nennen, oder einfach „geografische Gruppen“ (offen gesagt könnte man sie als fast alles bezeichnen, obwohl ich, wie gesagt, den Begriff „Rasse“ vermeide), aber sie zeigen etwas Tiefgehendes über die menschliche Geschichte. Die JAMA-Aussage könnte verwendet werden, um diese Bedeutung zu negieren, weshalb ich diese Aussage für irreführend halte.

Die Arbeit von Rosenberg et al. wurde vor zwei Jahrzehnten veröffentlicht, und seither sind wir in der Lage, mehr Gene zu untersuchen (möglicherweise das gesamte Genom von Individuen) und größere Stichproben auf kleinere Gebiete anzuwenden. Auf diese Weise können wir die Cluster innerhalb der Cluster erkennen. Hier ein Verweis auf eine Arbeit von 2008:

Sogar innerhalb Europas konnten laut einer Veröffentlichung von Novembre et al. unter Verwendung von einer halben Million DNA-Bereiche 50 % der Individuen innerhalb von 310 km gemäß des selbst angegebenen Ursprungs und 90 % innerhalb von 700 km ihres tatsächlichen Ursprungs zugeordnet werden. Und das nur innerhalb Europas (lesen Sie die Studie für weitere Einzelheiten). Auch dies spiegelt die begrenzte Wanderung der Europäer innerhalb der Generationen wider.

Ich möchte mich ein wenig mit der Studie von Tang et al. aus dem Jahr 2005 befassen (die ich in meinem früheren Beitrag erwähnt habe), weil sie sich auf die Eigenangaben zur Rasse oder ethnische Zugehörigkeit und nicht auf die geografische Herkunft konzentriert, aber auch räumliche Unterschiede untersucht. (Hier kann man die PDF-Datei finden, wenn man die Studie lesen möchte).

Die Daten von Tang et al. stammen aus einer Studie über Bluthochdruck, bei der die Probanden Blut gespendet haben und auch ihre Rasse gemäß eine der vier oben genannten Gruppen angegeben haben. Anschließend wurde jede der 3.636 Personen (aus 15 geografischen Gebieten in den USA und drei aus Taiwan) auf 326 Mikrosatellitenmarker - kurze, sich wiederholende DNA-Abschnitte - untersucht. (Diese Segmente sind vielleicht nicht alle unabhängig, weil sie genetisch miteinander verbunden sind, aber sicherlich sind viele von ihnen unabhängig. Die Autoren gehen auf diese Frage nicht ein, was zwar relevant ist, es aber nicht entwertet.)

Tang et al. bestimmten dann, ob die Mikrosatellitendaten in Gruppen fielen, indem sie mehrere Gene und den Gruppen-Algorithmus „Struktur“ verwendeten - die Methode, die auch von Rosenberg et al. verwendet wurde, um zu zeigen, dass ethnische Variation mit der Geografie korreliert. Es sei daran erinnert, dass die Studie von Tang et al. hauptsächlich in amerikanischen Populationen durchgeführt wurde, wobei jedes SIRE an mehreren Orten beprobt wurde. Die geografische Stichprobe innerhalb der USA war jedoch begrenzt (z. B. stammten die „Hispanics“ nur aus einem Ort in Texas), was ein potenzielles Problem darstellt.

Tang et al. haben mit Hilfe der multivariaten Analyse tatsächlich eine Clusterbildung gefunden: Hier sind die Cluster für alle Standorte und SIRE-Kombinationen. Man beachte, dass es vier Cluster gibt: jeweils einen für sich selbst als Kaukasier Identifizierende aus 6 Populationen (oben links), Ostasiaten aus 7 Populationen (Mitte rechts), Afroamerikaner aus 4 Populationen (unten links) und sich selbst als Hispanics Identifizierende aus einem einzigen Ort ("K“ aus Starr County, Texas). Es ist klar, dass wir mehr Daten von sich selbst als hispanisch bezeichnenden Personen aus anderen Gebieten benötigen, insbesondere weil „hispanisch“ viele verschiedene Abstammungen bezeichnen kann.

Die Cluster sind ziemlich eindeutig. Sie sind nicht nur eindeutig, sondern stimmen auch fast perfekt mit der von einer Person selbst angegebenen Rasse oder ethnischen Zugehörigkeit überein. Wie die Autoren bemerken:

Von 3.636 Probanden unterschiedlicher Rasse/Ethnizität wiesen nur 5 (0,14 %) eine genetische Gruppenzugehörigkeit auf, die sich von ihrer selbst angegebenen Rasse/Ethnizität unterschied. Andererseits konnten wir nur eine geringe genetische Differenzierung zwischen verschiedenen aktuellen geografischen Standorten innerhalb jeder Rasse/Ethnie feststellen. Somit ist die alte geografische Abstammung, die in hohem Maße mit der selbst identifizierten Rasse/Ethnie korreliert - im Gegensatz zum aktuellen Wohnort - die wichtigste Determinante der genetischen Struktur der US-Bevölkerung.

Wie ich bereits sagte, „gibt es eine fast perfekte Übereinstimmung zwischen der „Rasse“ (oder ethnischen Gruppe), für die sich die Amerikaner halten, und den genetischen Gruppen, die von Gruppen-Algorithmen erkannt werden. Da es sich um Amerikaner handelt, die mehr im Land herumziehen, spiegelt die Genetik eher die Abstammung als die Geografie wider, obwohl, wie Novembre et al. herausgefunden haben, in Europa auch die geografische Herkunft wichtig ist. Amerikaner ziehen mehr herum als Europäer!

Mit anderen Worten, die Individuen innerhalb einer Gruppe sind geografisch weiter verstreut als Novembre et al. festgestellt haben, so dass die Zugehörigkeit zu einer Gruppe auf eine vorzeitliche Abstammung und nicht auf die geografische Herkunft hinweist. Die Mitglieder der „ostasiatischen“ Gruppe stammen beispielsweise aus Taiwan, Hawaii und Stanford.

Um jedoch zu zeigen, dass es Gruppen innerhalb von Gruppen gibt, so dass „ostasiatisch“ nicht als „Rasse“ im alten Sinne betrachtet werden kann, wiederholten die Autoren die Clusteranalyse nur mit der ostasiatischen Stichprobe und stellten fest, dass die Personen chinesischer Abstammung ein anderes Cluster bildeten als die japanischen. Dies ist zu erwarten, wenn die selbst definierte ethnische Zugehörigkeit immer noch genetische Unterschiede widerspiegelt, die sich in Asien entwickelt haben. Man würde zweifellos ähnliche Zusammenhänge finden, wenn man Kaukasier oder Afroamerikaner nach dem Ort ihrer Vorfahren untergliedern würde.

Dies zeigt also, dass in den USA und in einer begrenzten Stichprobe von Populationen, deren Mitglieder ihre „Rasse“ selbst in eine von vier Gruppen eingeteilt haben, diese Gruppen anhand mehrerer Segmente des Genoms unterschieden werden können. Und nicht nur das: Die Unterscheidung ist so erheblich, dass man, wenn man die genetischen Informationen einer Person hat, ohne etwas über sie zu wissen, ihre „selbst identifizierte Rasse/Ethnizität“ mit 99,86 % Genauigkeit feststellen kann.

Die Quintessenz:

In den USA - und in der Welt, wenn man sich die Rosenberg-Studie ansieht - sind die selbst identifizierte Rasse oder die von den Forschern ermittelte Rasse (noch einmal, ich bevorzuge „Ethnizität“) keine rein sozialen Konstrukte. Ethnische Zugehörigkeit oder Rasse sagen im Allgemeinen etwas über die Abstammung aus, so dass die Mitglieder derselben selbst identifizierten Rasse mittels einer multigenetischen Analyse zu einer Gruppe zusammengefasst werden können.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass es eine umfassende genetische Differenzierung zwischen selbst identifizierten Rassen gibt. Die alte Schlussfolgerung meines Chefs Dick Lewontin, dass es innerhalb einer ethnischen Gruppe mehr Unterschiede gibt als zwischen ethnischen Gruppen, ist nach wie vor richtig. Aber es gibt im Durchschnitt genug genetische Unterschiede, dass, wenn man alle Gene in einen Topf wirft, sich die kleinen Unterschiede so weit anhäufen, dass wir die von einer Person selbst angegebene Rasse feststellen können. Denken Sie daran, dass es sich um „selbst angegebene“ Gruppierungen handelt, man kann also nicht sagen, dass es von den Forschern in die Daten interpretiert wurde. (Das bedeutet natürlich nicht, dass es sich nicht um soziale Konstrukte handelt. In gewissem Sinne sind sie das vielleicht, aber sie sind auch soziale Konstrukte, die wissenschaftliche Informationen enthalten).

Die wichtige Lektion ist also, dass das JAMA falsch lag: Wenn Rassen/ethnische Gruppen mit über 99 % Genauigkeit diagnostiziert werden können, indem Informationen aus vielen Teilen des Genoms verwendet werden, dann ist die Aussage „Rasse und ethnische Zugehörigkeit sind soziale Konstrukte ohne wissenschaftliche oder biologische Bedeutung“ einfach falsch. Rasse und ethnische Zugehörigkeit haben, selbst wenn sie von Individuen selbst festgelegt werden, eine wissenschaftliche, biologische Bedeutung: Sie sagen uns nämlich etwas über die Abstammung einer Person aus und darüber, woher ihre Vorfahren wahrscheinlich stammen. Dies gilt sowohl für die USA (diese Abhandlung) als auch weltweit (die Arbeit von Rosenberg et al.). Betrachtet man die Daten auf einer feineren Skala, wie es Novembre et al. taten, kann man sogar feststellen, aus welchem Teil Europas die Vorfahren eines Europäers stammen (natürlich ist das nicht perfekt, aber ziemlich gut).

Diese Schlussfolgerung ist nicht neu, und die von mir zitierten Arbeiten sind älter. Vielleicht gibt es neuere, die ich noch nicht gesehen habe, aber ich würde darauf wetten, dass ihre Ergebnisse ziemlich genau so ausfallen werden wie die oben genannten. Die genetische Differenzierung zwischen den Gruppen ist zwar nicht sehr groß, aber sie reicht aus, um uns zu sagen, woher sie kommen, und bestätigt, dass die geografische Herkunft (die die frühere geografische Isolation widerspiegelt) die Quelle dessen ist, was wir als ethnische oder rassische Unterschiede bezeichnen.

Denken Sie daran: Es stimmt einfach nicht, wenn Sie hören, dass menschliche Rasse/Ethnizität ein rein soziales Konstrukt ist und nichts über Biologie oder Evolution aussagt.

Ich muss wohl nicht darauf hinweisen, dass diese genetischen Unterschiede in keiner Weise Rassismus untermauern, denn wir wissen nicht einmal, was sie in Bezug auf einzelne Merkmale bedeuten. Aber sie geben uns Einblicke in die Evolutionsgeschichte. Und das ist etwas von wissenschaftlicher und biologischer Bedeutung.

Jerry Coyne ist ein amerikanischer Evolutionsbiologe der University of Chicago und seit 2015 emeritierter Professor. Er ist als Buchautor und säkularer Aktivist bekannt und betreibt den  Blog „Why Evolution Is True“. Sein bekanntestes Buch ist „Faith vs. Fact“. Jerry Coyne ist auch auf Twitter aktiv.

Übersetzung: Jörg Elbe

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