Die Zellentwicklung wird im Allgemeinen als Einbahnstraße betrachtet: Aus Stammzellen gehen Zellen hervor, die zu speziellen Zelltypen wie etwa Neuronen und Gliazellen, den Bestandteilen des Nervensystems, heranreifen, während der umgekehrte Weg von der Natur nicht vorgesehen ist. Jetzt konnten Wissenschaftler jedoch beobachten, wie sich Nervenzellen in Stammzellen zurückverwandeln, und zwar an einem äußerst verblüffenden Ort: im Innern der Zähne. Diese unverhoffte Quelle von Stammzellen könnte der Wissenschaft einen neuen Ansatzpunkt für die Züchtung von menschlichen Geweben für therapeutische oder Forschungszwecke bieten, ohne dafür Embryonen zu benötigen.
„Die Bedeutung dieser Entdeckung reicht weit über zahnmedizinische Anwendungen hinaus“, sagt Igor Adameyko, Entwicklungsbiologe am Karolinska-Institut in Stockholm und Leiter des Studienteams. „Diese Stammzellen könnten auch für die Regeneration von Knorpel- und Knochengewebe genutzt werden.“
Dass die sogenannte Pulpa im Innern der Zähne eine kleine Population von mesenchymalen Stammzellen enthält – denjenigen Stammzellen also, die zu Zahn-, Knochen- und Knorpelgewebe ausreifen können –, war bereits bekannt. Woher diese Stammzellen gekommen sind, konnte allerdings bisher nicht schlüssig nachgewiesen werden. Wenn man ihre Entwicklung zurückverfolgen könnte, so Adameykos Idee, müsste es möglich sein, den Vorgang im Labor nachzubilden und so einen neuen Weg zur Gewinnung von Stammzellen für die Geweberegeneration zu finden.
Adameyko und seine Kollegen hatten sich bereits mit Gliazellen beschäftigt. Diese bilden das Hüll- und Stützgewebe für die Neuronen, die Mundschleimhaut und Zahnfleisch durchziehen und Schmerzsignale von den Zähnen zum Gehirn leiten. Als die Wissenschaftler bei Mäusen eine Gruppe von Gliazellen mit einem fluoreszierender Marker versahen, stellten sie fest, dass einige von ihnen von den Neuronen im Zahnfleisch weg ins Innere der Zähne wanderten, um sich dort in mesenchymale Stammzellen zu verwandeln und letztendlich zu Zahngewebe heranzureifen, berichtete das Forscherteam kürzlich in Nature.
Bisher war man allgemein der Meinung, dass Nervenzellen sich nicht in vollständig flexible Stammzellen zurückverwandeln können – deshalb sei es eine große Überraschung gewesen, diesen Vorgang nun doch zu beobachten, so Adameyko. „Viele Experten waren überzeugt, dass ein Zelltyp nicht zu einem anderen werden kann. Wir haben jedoch nachgewiesen, dass bei Gliazellen die Fähigkeit, sich wieder zu Stammzellen zu entwickeln, weitgehend erhalten bleibt.“ Wenn man herausfinden würde, welche chemischen Signale in der Zahnpulpa die Zellen veranlassen, sich in mesenchymale Stammzellen zu verwandeln, könnte sich ein neuer Weg für die Züchtung von Stammzellen im Labor eröffnen, fügt er hinzu.
„Diese Ergebnisse sind hochinteressant, denn sie widersprechen den bisherigen Annahmen über die Herkunft von mesenchymalen Stammzellen“, meint Ophir Klein, Entwicklungsbiologe an der University of California in San Francisco, der an der neuen Studie nicht beteiligt war. Es handele sich aber nur um einen ersten Schritt zur Aufklärung des Zusammenspiels zwischen den verschiedenen Zelltypen im Körper, fügt er hinzu. „Um sicher sein können, woher die mesenchymalen Stammzellen wirklich kommen, müssen wir die neuen Ergebnisse mit anderen Techniken reproduzieren.“ Wenn dies jedoch gelinge, könnte sich eine neue Quelle von Stammzellen auftun, die für die Wissenschaft von unschätzbarem Wert wäre.
Übersetzung von: Martin Uhlenbrock
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