Eine etwas längere Bemerkung
Dass die Scharia, die allumfassende Rechtsordnung des Islam, Frauen eine Hijab-Pflicht vorschreibt, ist korrekt. Die Grundlagen im Koran finden sich in Sure 24, Vers 31 sowie in Sure 33, Vers 59. Auch wenn an diesen Stellen das arabische Wort für Kopftuch (hijab) nicht vorkommt, ist es in der islamischen Theologie grundsätzlich unstrittig, dass damit eine Verhüllungspflicht gegenüber Frauen aufgestellt wird.
Die Scharia macht auch eine Angabe über den Zeitpunkt, ab wann eine Frau verhüllt werden soll.
Ich möchte zu diesem letzten Satz eine etwas längere Bemerkung abgeben, die mir wichtig erscheint.
Ich habe ganz bewusst nicht „sich verhüllen muss“ geschrieben, sondern „verhüllt werden soll“, weil die Durchsetzung dieser Pflicht der gesamten muslimischen Gesellschaft zukommt, also nicht nur der Trägerin. Damit ist auch ein Vater oder Mutter einer jungen Frau aufgefordert, sicherzustellen, dass die Verhüllungspflicht durchgesetzt wird. In jenen Staaten, wo die Scharia und staatliches Recht miteinander verschmolzen sind, wird sodann diese Pflicht vom Staat durchgesetzt, wie etwa im Iran oder in Saudi-Arabien. Natürlich setzen auch Bürger in diesen Staaten die Scharia durch, etwa im Iran, wo religiöse Bürger Frauen tätlich angreifen und manchmal sogar mit Säure bewerfen, weil sie aus ihrer Sicht den Hijab zu offen tragen. Es ist für mich sehr wesentlich, dass die Leserin oder der Leser den überindividuellen Charakter islamischer Normen erkennt und diese während der gesamten Lektüre dieses Essays im Gedächtnis behält. Das Beschriebene gilt übrigens bei weitem nicht nur im Zusammenhang mit der Verhüllungspflicht. Ein weiteres Beispiel ist etwa der Ramadan. In der Türkei werden immer wieder Nichtfastende von Religiösen beschimpft und tätlich angegriffen. Türkische Freidenker schliessen vor jedem Ramadan Wetten darüber ab, in welcher Provinz jemand als erster tätlich angegriffen wird. Wir haben es vorliegend mit einer Ideologie der Einmischung zu tun und nicht mit einer Religion im heutigen europäischen Verständnis, deren Praxis oder im umgekehrten Fall deren komplette Ablehnung komplett dem Individuum überlassen ist. Nach diesen Zeilen sollte auch klar sein, weshalb aus islamischer Sicht niemand den Islam verlassen kann, weil demnach einem Menschen ein solcher Entscheid darüber gar nicht zukommen kann. Selbstverständlich widerspricht dieses Verständnis diametral den Ideen hinter dem Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit, so wie dieses Grundrecht zumindest in Europa verstanden wird.
Die Angabe über den Zeitpunkt, ab wann sich eine Frau verschleiern soll, findet sich nicht im Koran, der ersten und wichtigsten Rechtsquelle der Scharia, sondern in der Hadith-Literatur. Die Bedeutung dieser Sekundärquelle wird von vielen Menschen in Europa zu Unrecht unterschätzt, weil vor allem Hadithe Verhaltensregeln beinhalten und die Person „Mohammed“ zeichnen und definieren, dessen Beispiel Muslime folgen und seine Befehle und Verhaltensweisen befolgen müssen, zumindest jene, die es sehr genau nehmen wollen. Ausserdem existieren zahlreiche Kommentare zu diesen Schriften, welche die Verhaltensregeln konkretisieren.
Hier nun der Hadith aus einer der sechs kanonischen Hadith-Sammlungen, namentlich aus Sunan Abu Dawud in Band 34 über die Kleidung:
„Kapitel 1535: Was Frauen von ihrer Schönheit zeigen dürfen:
Erzählt von Aisha, der Ummul Mu’minin (Mutter der Gläubigen):
Asma, die Tochter von Abu Bakr ist vor den Propheten des Allah herangetreten und trug dabei dünne Kleidung. Der Prophet Allahs wandte sich von ihr ab. Er sagte: O Asma, wenn eine Frau das Alter der Menstruation erreicht, ziemt es sich für sie nicht, wenn sie ihre Körperteile sichtbar macht, außer das und das und zeigte dabei auf sein Gesicht und seine Hände.“
Aufgrund der Beschreibung dieser Szene kann man also im Umkehrschluss sagen, dass die Verschleierungspflicht bei kleinen Mädchen, welche ihre Menstruation noch nicht hatten, noch nicht gilt. Der Grund dafür hat mit der primären Absicht hinter dem islamischen Kopftuch zu tun, welches den Zweck verfolgt, geschlechtsreife Männer und geschlechtsreife Frauen voneinander zu verbergen und gesellschaftlich zu trennen, sofern sie nicht näher miteinander verwandt oder verheiratet sind, weil das Gegenteil davon als unsittlich empfunden wird. Sehr wesentlich dabei ist, dass gemäss Koran die Verschleierungspflicht gegenüber Greisen, die ihren Geschlechtstrieb verloren haben und gegenüber kleinen Knaben, die noch nicht verstehen, was um sie geschieht, nicht gilt (vgl. Sure 24, Vers 31, in fine), womit ein eindeutiger Bezug zur Sexualität und zur islamischen Sexualmoral besteht.
Man kann daher mit Fug und Recht behaupten, dass die Verhüllung von kleinen Mädchen, die ihre Periode noch nicht hatten, einerseits keine Grundlage in der Scharia hat, womit es sich vorliegend nicht um ein islamisches Gebot handelt und andererseits wird die islamische Sexualmoral bereits bei Kindern vollzogen, womit sie in die sexuellen Hintergedanken, die hinter dem islamischen Kopftuch stehen, einbezogen werden. Oder anders ausgedrückt: Können wir bei einem fünfjährigen Mädchen von „weiblichen Reizen“ sprechen, die gegenüber Männern verborgen werden müssen?
Wesentliche Gründe
Es gibt einige wesentliche Gründe, weshalb Scharia-Muslime ihre Töchter trotz der eindeutigen Regelung dennoch früher verhüllen, die ich kurz aufzählen möchte.
- Das Kopftuch dient als Identitätsmerkmal und soll das muslimische Mädchen bereits als Kind von seiner nichtmuslimischen Umgebung abgrenzen und sie als Muslimin definieren. Dieses Motiv hat damit eindeutig einen negativen Bezug gegenüber einer westlichen Einwanderungsgesellschaft, die als verdorben empfunden wird.
- Das Mädchen soll sich bereits in einem früheren Zeitpunkt als vorgeschrieben an das Kopftuch gewöhnen, weil es verpflichtet ist, das Kopftuch ohnehin das ganze Leben lang zu tragen. Damit schafft man schon sehr früh klare Verhältnisse und spurt vor, wie das Mädchen sich in ihrem Leben weiterentwickelt. Insbesondere wird von Anfang an klargestellt, dass es nicht so wird wie ein gewöhnliches Mädchen im Westen.
- Die Empfehlung, dass sich bereits kleine Mädchen verhüllen sollen, wird oft auch von Moscheegemeinden und Vereinen, die insbesondere der Muslimbruderschaft zuzurechnen sind, empfohlen. Die türkisch-nationalistische Variante der Muslimbruderschaft heisst Millî Görüş, wo auch der türkische Diktator Erdoğan seine ideologische Heimat hat, damit auch die von ihm kontrollierte Religionsbehörde Diyanet.
Man könnte nun annehmen, dass die korrekte religiöse Praxis, welche keine Hijab-Vorschrift für kleine Mädchen vorsieht und die anderen genannten Aspekte, die klar im Widerspruch zu einer guten Integrationspolitik stehen, rechtliche Argumente sein könnten und dass ein Verfassungsgericht diese anhört und in seinem Entscheid tatsächlich auch berücksichtigt.
Dem ist nicht so.
Das Verfassungsrecht schützt nicht nur die korrekte Religionsausübung, sondern auch religiöse Praktiken, die - wenn man der Schrift korrekt folgt - falsch sind. Das hat damit zu tun, dass ein Verfassungsgericht keine Inhaltskontrolle der Religion vornimmt. Es entscheidet viel mehr auf der Grundlage des Rechts und die dort geltenden Prinzipien gelten gegenüber allen Religionen und religiösen Praktiken, damit auch den „falschen“ und „falsch verstandenen“. „Das steht aber gar nicht im Koran!“ oder „Das ist kein Gebot des Islam und die Scharia enthält nichts darüber!“ sind damit gänzlich untaugliche Argumente, die ein Verfassungsgericht überhaupt nicht interessiert.
Ich denke nicht, dass unter der gegenwärtigen verfassungsrechtlichen Situation in Europa ein wirksamer Kampf gegen den Islamismus und den politischen Islam möglich ist, weil der Grundsatz der staatlichen Neutralität gegenüber Weltanschauungen und Religionen in Verbindung mit deren Gleichbehandlung auch gegenüber extremsten Formen des Islam gilt. Konkret bedeutet dies, dass der Salafismus, der mit massiven Problemen behaftet ist oder ein von Politik durchsetzter Islam der Muslimbrüder verfassungsrechtlich geschützt wird. Das ist die Rechtslage, weshalb man nicht von einem Fehlentscheid des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, der das Verhüllungsverbot an Volksschulen für verfassungswidrig erklärte, sprechen kann, wie die türkische Gemeinde Österreichs dies tat. Das schreibe ich bei aller Sympathie gegenüber ihrer Empörung.
Um gegen den Islamismus und den politischen Islam etwas unternehmen zu können, sofern dieser Wunsch überhaupt besteht, bräuchte es neue verfassungsrechtliche Grundlagen für europäische Länder, die das Prinzip der staatlichen Neutralität gegenüber Weltanschauungen und Religionen relativieren, weil gewisse Eigenschaften des Islam, aber auch gewisse politische Aspekte, eine Andersbehandlung rechtfertigen. Mir ist wohl bewusst, dass diese Auffassung beim ersten Blick radikal erscheinen mag, erst recht, weil ich ein Jurist bin, aber bei objektiver Betrachtung sehe ich keine andere Lösung.
Ich möchte dies nachfolgend begründen.
Wie sich die Leserin oder der Leser sich erinnert, hatte ich ganz zu Beginn den überindividuellen Charakter des Islam beschrieben, und dabei Beispiele genannt, wie Dritte oder sogar der Staat sich das Recht herausnehmen, das Verhalten von Menschen zu kontrollieren. Daher sollte es auch keine Überraschung sein, dass alle muslimisch geprägte Staaten den Islam und dessen Praxis auf ihrem jeweiligen Staatsgebiet kontrollieren und nach eigenem Gusto gestalten, was freilich mit dem westlichen Verständnis der Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht zu vereinbaren ist.
Was ist die Konsequenz davon für westliche Staaten?
Die muslimisch geprägten Staaten setzen ihre individuelle Kontrolle über den Islam sowie dessen Praxis auf dem Gebiet der westlichen Staaten fort. Über die Religion beeinflussen sie dabei insbesondere ihre eigenen Staatsbürger ideologisch und politisch und betreiben eine destruktive Politik gegenüber Integrationsbestrebungen der jeweiligen westlichen Staaten.
Ich muss davon ausgehen, dass diese staatliche Kontrolle sowie Gestaltung des Islam durch muslimisch geprägte Drittstaaten auch Europäern bestens bekannt sind. Immerhin wird der Islam – beispielsweise in Deutschland – primär von Islamverbänden gestaltet, die aus dem Ausland gesteuert und natürlich auch finanziert werden. Diese Aktivität ist ganz klar Teil der Kontrolltätigkeit der Staaten über den Islam, die sie bereits bei sich zuhause ausüben.
Es ist daher völlig logisch, dass DITIB nichts anderes ist als der Name der türkischen Diyanet-Behörde in Deutschland, die den türkischen Islam in Deutschland kontrolliert und gestaltet. Mit anderen Worten haben wir es vorliegend mit einem freiwilligen Verzicht des deutschen Staates auf sein Souveränitätsrecht zu tun, der es einem fremden Staat erlaubt, eine ganz bestimmte Religion auf deutschem Staatsgebiet zu kontrollieren und dabei Menschen, die in der Bundesrepublik leben, politisch und ideologisch zu beeinflussen. Man könnte diese Grosszügigkeit grundsätzlich gutheissen, wenn das betreffende Land einigermassen ein demokratischer und pluralistischer Rechtsstaat wäre, was die Türkische Republik einst mit Ach und Krach noch war, trotz massivster Probleme in diesen Bereichen, was man mit der heutigen islamistischen Diktatur allerdings nicht einmal ansatzweise vergleichen kann.
Was hat das Ganze nun mit dem Kinderkopftuchentscheid des österreichischen Verfassungsgerichtshofes zu tun?
Es sind vor allem Moscheen und Vereine, die der Muslimbruderschaft oder der türkisch-nationalistischen Variante der Muslimbrüder (Millî Görüş, Ditib) zuzurechnen sind, welche Kinderkopftücher propagieren und dabei die Politik des Herkunftsstaates umsetzen, überall in Europa, damit auch in Österreich. Das bedeutet summa summarum, dass das geltende Verfassungsrecht es zulässt, dass der türkische Staat, der heute eine islamistische Diktatur ist, seine gesellschaftspolitischen Vorstellungen – insbesondere auch jene über die Frau und über die Sexualität von kleinen Mädchen – auch auf österreichischem Boden umsetzen kann und dies auch tut. Wenn Erdoğan einen europäischen Staat besucht, zu seinen Landsleuten spricht und sie dabei auffordert, sich nicht zu integrieren und schon gar nicht zu assimilieren, kann er sich auf dieses Verfassungsrecht nach europäischem Verständnis verlassen, während er im eigenen Land beispielsweise Aleviten diskriminiert und dabei einen klaren Entscheid des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte nicht umsetzt.
Natürlich ist es den europäischen Staaten völlig unbenommen, dass sie weiterhin auf ihre Souveränitätsrechte freiwillig verzichten und diese sowie die Kontrolle über den türkischen Islam im eigenen Land freiwillig an eine islamistische Diktatur abgeben. Ich persönlich halte dies für eine extrem schlechte Idee, weil der türkische Staat diese Menschen ganz in seinem Sinne ansprechen will, was in inhaltlicher Hinsicht den Integrationsbestrebungen europäischer Staaten diametral zuwiderlauft. Das hat unter anderem mit der tief antiwestlichen Grundhaltung der Muslimbrüder zu tun.
Meines Erachtens sollten europäische Saaten den Islam und dessen Praxis mit Schaffung von Islam-Rahmengesetzen kontrollieren und das Heft selbst in die Hand nehmen. Als erstes Prinzip müsste in diesem Gesetz aus dem Bereich des Verwaltungsrechts ein Verbot der Auslandfinanzierung und -kontrolle statuiert werden. Ferner müssten islamische Regeln, die in Europa gänzlich inakzeptabel sind, definiert, angesprochen und deren Praxis verboten werden. Zu diesen islamischen Regeln, die heute in Europa gelebt werden, gehören beispielsweise negative und herabsetzende Äusserungen über andere Religionsangehörige, Dschihadverherrlichungen, rassistische Hetze, Herabsetzung von Frauen, die Infragestellung der Gleichberechtigung der Geschlechter, der Partnerwahlfreiheit sowie der sexuellen Selbstbestimmung und vieles mehr. In diesem Zusammenhang sollte es für muslimische Gebetshäuser und Moscheen Bewilligungsverfahren geben mit entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten. Vor allem müssen Grenzen gesetzt werden. Es kann beispielsweise nicht sein, nachdem beispielsweise der Schweizer Gesetzgeber die weibliche Genitalverstümmelung in das Strafgesetzbuch aufnimmt, der sog. „Islamistische Zentralrat Schweiz (IZRS)“ eine Genitalverstümmelungsfatwa erlässt oder die Polygamie propagiert.
Ein solches Gesetz, welches eindeutig nur den Islam anvisiert, wäre meines Erachtens wünschenswert, aber objektiv betrachtet grob verfassungswidrig, weil unser geltendes Verfassungsverständnis eine Kontrolle über eine ganz bestimmte Religion nicht zulässt und darüber hinaus alle Religionen und Weltanschauungen gleichbehandeln will.
Die Frage, die sich stellt, ist, ob die Lösung des Problems – namentlich der Umstand, dass eine Kontrolle über eine bestimmte Religion verfassungsrechtlich verpönt ist - die Überlassung dieser Kontrolle an einen Unrechtsstaat sein kann, der auf verfassungsrechtliche Prinzipien pfeift, erst recht auf jene eines fremden Staates.
Kommentare
Hervorragend erklärt. Aufgeklärt in den Tag hinein. Vielen Dank.
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Dazu hätte es keiner Analyse bedurft, weil es offenkundig der Fall ist. Was das Christentum angeht, ist es seit Jahrhunderten widerwillig gezähmt, und musste dem Siegeszug von Naturwissenschaft und Technik das Feld räumen. Weil Christen also verstehen sollten, worum es geht, versteht man nicht, dass sie den Islam umarmen und nicht argumentativ bekämpfen. Die Trennung von Islamisten und Islam und die Trennung von protestantischen Fundamentalisten und Protestanten sind Fiktionen. Die katholische Kirche schwankt zwischen Opportunismus und Fundamentalismus, was seit der Spätantike immer so war. Der langen Rede kurzer Sinn: Analysen des Islam verpuffen in der politischen Praxis zur Wirkungslosigkeit.
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