Unsere enge Definition von „Naturwissenschaft“

Durchforste deine Gedanken oder achte auf deine Unterhaltungen mit anderen Menschen und du wirst entdecken, dass es zwischen der Naturwissenschaft und der Philosophie keine echten Grenzen gibt. Genauso wenig können wir diese beiden Disziplinen von irgendwelchen anderen Wissenschaften abgrenzen, die auf der Basis von Beweisführung und Logik versuchen, gültige Aussagen über die Welt zu treffen.

Unsere enge Definition von „Naturwissenschaft“

Einleitung durch Edge.org:

Die Wissenschaft schreitet fort – dank der Entdeckung neuer Tatsachen und der Entwicklung neuer Ideen. Aber nur wenige wahrhaft neue Ideen werden entwickelt, ohne dass alte Ideen weichen müssen. Der physikalische Theoretiker Max Planck (1858 – 1947) bemerkte dazu: „Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, daß ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, daß ihre Gegner allmählich aussterben und daß die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.“ Mit anderen Worten: Wissenschaftlicher Fortschritt resultiert aus einer Reihe von Beerdigungen. Warum so lange warten?

Welche wissenschaftliche Idee ist reif für die Rente?

Ideen verändern sich genau so wie die Zeit, in der wir leben. Vielleicht liegt die größte Veränderung heute in der hohen Veränderungsgeschwindigkeit. Welche etablierte wissenschaftliche Idee sollte aus dem Weg geräumt werden, um dem wissenschaftlichen Fortschritt Platz zu machen?

 

Von Sam Harris

Durchforste deine Gedanken oder achte auf deine Unterhaltungen mit anderen Menschen und du wirst entdecken, dass es zwischen der Naturwissenschaft und der Philosophie keine echten Grenzen gibt. Genauso wenig können wir diese beiden Disziplinen von irgendwelchen anderen Wissenschaften abgrenzen, die auf der Basis von Beweisführung und Logik versuchen, gültige Aussagen über die Welt zu treffen. Beinhalten solche Aussagen und ihre Methoden der Beweisführung Experimente und/oder mathematische Berechnungen, dann neigen wir dazu, unsere Vorgehensweise „naturwissenschaftlich“ zu nennen; geht es um eine Angelegenheit von größerer Abstraktion oder um die Folgerichtigkeit unseres Denkens an sich, dann nennen wir unseren Ansatz oft „philosophisch“; wenn wir einfach nur wissen wollen, wie Menschen sich in der Vergangenheit verhalten haben, dann bezeichnen wir unser Interesse als „historisch“ oder „journalistisch“; und wenn eine Person sich kaum an Beweisführung und Logik gebunden fühlt oder wenn gar jede Form eines Bekenntnisses zu diesen Prinzipien in einem Strudel aus Angst, Wunschdenken, Tribalismus, oder Ekstase untergeht, dann erkennen wir das Verhalten eines „religiösen“ Menschen. 

Die Grenzen zwischen echten intellektuellen Disziplinen werden gegenwärtig durch wenig mehr als universitäre Architektur und Budgets bestimmt. Ist das „Turiner Grabtuch“ eine mittelalterliche Fälschung? Das ist natürlich eine historische und archäologische Frage, aber die Technik der Radiokarbondatierung bringt auch die Chemie und Physik ins Spiel. Der wahre Unterschied, um den es uns gehen sollte und dessen Vorhandensein als das sine qua non (die notwendige Bedingung) der wissenschaftlichen Haltung betrachtet werden muss, liegt zwischen dem Bestehen auf guten und dem Zufriedensein mit schlechten Argumenten.

Mit einer wissenschaftlichen Haltung ist man offen für jedes Ergebnis. Gäbe es gute Beweise für die Irrtumslosigkeit der Bibel oder die Auferstehung von Jesus Christus, dann könnte man die christlich-fundamentalistische Glaubenslehre sogar auf wissenschaftlichem Wege verinnerlichen. Das Problem liegt natürlich darin, dass es entweder fürchterlich schwache oder überhaupt keine Beweise dafür gibt – deshalb haben wir (in der Praxis, nicht jedoch prinzipiell) einen Grenzwall zwischen Wissenschaft und Religion errichtet.

Die allgemeine Verwirrung in Bezug auf diesen Punkt zeitigte viele seltsame Ideen zum Wesen des menschlichen Wissens und zu den Grenzen der Wissenschaft. Personen, die ein Vordringen der wissenschaftlichen Herangehensweise fürchten – insbesondere jene, die es für ein Zeichen von Würde halten, an irgendeinen Gott aus dem Eisenzeitalter zu glauben – sprechen oft herablassend von Materialismus (im philosophischen, nicht im ökonomischen Sinn), Neo-Darwinismus und Reduktionismus, so als ob diese Lehren zwangsläufig mit der Wissenschaft selbst in Verbindung stünden. 

Selbstverständlich gibt es gute Gründe für Wissenschaftler, auch Materialisten, Neo-Darwinisten und Reduktionisten zu sein. Wissenschaft bedingt aber (prinzipiell) keine dieser Bekenntnisse, noch bedingen sie einander. Wenn es Beweise für den Dualismus (immaterielle Seelen, Reinkarnation) gäbe, dann könnte man ein Wissenschaftler sein, ohne sich zum Materialismus zu bekennen. Wie die Sache aber nun einmal steht sind die Beweise für solcherlei Theorien äußerst dürftig, weshalb nahezu alle Naturwissenschaftler auch Materialisten irgendeiner Färbung sind. Wenn es Beweise gegen eine Evolution durch natürliche Selektion gäbe, dann könnte man ein wissenschaftlicher Materialist, nicht aber ein Neo-Darwinist sein. Aber wie die Sache nun einmal steht ist die grundsätzliche Struktur, die Darwin vorlegte, ebenso gut begründet wie jede andere wissenschaftliche Theorie. Wenn es Beweise dafür gäbe, dass komplexe Systeme durch Phänomene gekennzeichnet sind, die sich nicht unter Rückbezug auf ihre Konstituenten erklären lassen, dann wäre es möglich, ein Neo-Darwinist, nicht aber ein Reduktionist zu sein. Genau hier verorten sich die meisten Wissenschaftler in allen praktischen Angelegenheiten, weil abgesehen von der Physik jeder Wissenschaftszweig auf Konzepte zurückgreifen muss, die sich nicht allein unter Bezug auf Partikel und Kraftfelder verstehen lassen.

Viele von uns haben schon „philosophische“ Debatten darüber geführt, welche Folgerungen sich aus diesem Erklärungsproblem ziehen lassen. Wir können das Verhalten von Hühnern oder von Demokratien im Entstehungsstadium nicht alleine auf der Basis von Quantenphysik prognostizieren. Weist dieser Umstand darauf hin, dass bei solchen übergeordneten Phänomenen etwas abgesehen von der zugrundeliegenden Physik im Spiel ist? Ich würde hier mit „nein“ stimmen, das bedeutet aber nicht, dass ich an eine Zukunft glaube, in der wir die Welt nur mit den Nomen und Verben der Physik beschreiben.

Aber selbst wenn man daran glaubt, dass der Geist des Menschen gänzlich ein Resultat der Physik ist, verliert die Existenz des Bewusstseins nichts von ihrem Zauber, und der Unterschied zwischen Glück und Leid verliert nichts von seiner Bedeutung. Genauso wenig deutet eine solche Sichtweise darauf hin, dass uns die Entstehung des Denkens aus Materie je vollkommen verständlich sein wird; Bewusstsein wird uns womöglich immer wie ein Wunder erscheinen. In philosophischen Kreisen spricht man von „dem schwierigen Problem des Bewusstseins“. Manche von uns sehen hier ebenfalls ein Problem, andere sehen keines. Sollte sich Bewusstsein konzeptuell nicht fassen lassen und als ein mysteriöser Raum bestehen bleiben, in dem sich alles abspielt, was wir je erfahren oder wertschätzen können, dann würde die übrige wissenschaftliche Weltsicht trotzdem vollkommen intakt bleiben.

Es gibt eine einfache Abhilfe gegen diese Verworrenheit: Wir müssen von der Idee Abschied nehmen, dass die Naturwissenschaft vom Rest menschlicher Rationalität getrennt zu betrachten ist. Wenn man im Einklang mit den höchsten Standards von Logik und Beweisführung handelt, dann denkt man wissenschaftlich. Wenn nicht, dann nicht.

 

Übersetzung: Carl Lang

Kommentare

  1. userpic
    Joseph Wolsing

    Die Tatsache, dass unser Bewusstsein Physik und damit auch Quantenphysik ist könnte vielleicht eines Tages doch hilfreich sein, wenn wir weiterhin versuchen zu verstehen, was Bewusstsein ist, und wie es funktioniert.
    Dennoch sehe ich einen Unterschied in reiner Denkarbeit im Sinne der Lösung extrinsisch verursachter Probleme und derjenigen, die dabei geleistet wird, wenn über das Denken an sich nachgedacht wird. Wenn das Instrument der Untersuchung zum Gegenstand der Untersuchung wird, entsteht ein Problem. Es muss sicher gestellt werden, dass sich keine Fehler einschleichen, die aus der Benutzung des Gehirns zur Untersuchung seiner Funktionsweise erwachsen.
    Aber die Aufhebung der Grenzen der Wissenschaft geschieht heute durch die Tiefe, welche die wissenschaftliche Forschung hat, von ganz alleine. Und Das Ingenieurswesen ist auch noch mit von der Partie, weil Geräte zur Forschung immer komplexer werden und erst erdacht und erfunden werden müssen, bevor bestimmte Problemstellungen bearbeitet werden können.

    Meinem Empfinden nach wäre es viel wichtiger Wissenschaft und „Allgemeinheit“ besser verlinkt werden. Und zwar nicht nur durch Produkte die nach wissenschaftlicher Erkenntnis konstruiert und gebaut werden, sondern auch als genereller Bestandteil der Bildung und Erziehung. Wer die Welt um sich herum versteht, kann einfach weisere Entscheidungen treffen. Es liegt immer noch an jedem selbst, aber die Möglichkeit sich zu entscheiden bedingt das Wissen um verschiedene Möglichkeiten.

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    1. userpic
      calippus

      Das muss man sich noch einmal auf der Zunge zergehen lassen:

      Wir müssen von der Idee Abschied nehmen, dass die Naturwissenschaft vom Rest menschlicher Rationalität getrennt zu betrachten ist. Wenn man im Einklang mit den höchsten Standards von Logik und Beweisführung handelt, dann denkt man wissenschaftlich. Wenn nicht, dann nicht.

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