Ein Jahr ist das Beschneidungsgesetz alt. Doch die Debatte um die rituelle Entfernung der Vorhaut bei Jungen geht weiter. So gibt es ernsthafte Zweifel daran, dass die Betäubung bei Neugeborenen überhaupt funktioniert. Und wer sich etwa am Jüdischen Krankenhaus in Berlin über den Eingriff informiert, bekommt erst mal einen falschen Eindruck.
Vor etwas mehr als einem Jahr, am 12. Dezember 2012, verabschiedeten die Parlamentarier des Deutschen Bundestages das Beschneidungsgesetz. Und sie waren davon überzeugt, zugleich im Sinne der Muslime und Juden zu handeln und im Sinne der betroffenen Jungen. Eltern dürfen nun gemäß Paragraf 1631d BGB ihren männlichen Nachwuchs beschneiden lassen - jedoch nur, wenn gewährleistet ist, dass der Eingriff nach den "Regeln der ärztlichen Kunst" erfolgt.
Für die Bundestagsabgeordneten beinhaltete dies eine effektive Schmerzbehandlung. Das aber, so hatten sie sich zuvor von Experten versichern lassen, sei auch bei neugeborenen Jungen schon möglich.
Insbesondere die Aussage des Ärztlichen Direktors des Jüdischen Krankenhauses in Berlin, Kristof Graf, hatte die Politiker mit dem Hinweis auf die guten Erfahrungen mit einer Betäubungscreme namens Emla überzeugt. Darüber hinaus hatte kurz zuvor die Vereinigung der Kinderärzte in den USA sogar eine Empfehlung für die Vorhautentfernung von Jungen abgegeben.
2013 aber begannen die Probleme. Erst widersprachen die Vertreter von 19 europäischen Kinderarztverbänden unter anderem aus Deutschland, Großbritannien, den Niederlanden, Österreich und Skandinavien der Empfehlung aus den USA heftig.
Unbedenklichkeitshinweis zurückgezogen
Im Sommer dann zog der Hersteller der Betäubungscreme Emla, Astra Zeneca, den Unbedenklichkeitshinweis für den Einsatz bei der Vorhautentfernung zurück. Zuvor hatte ein europäisches Expertengremium die Verwendung des Mittels als für diesen Zweck "unzureichend und ethisch inakzeptabel" bewertet. Emla, ein frei verkäufliches Medikament, kann für die Beschneidung von Neugeborenen nur noch als sogenannter Off-Label-Use verwendet werden. Der Einsatz hängt damit von der Einschätzung des individuellen Arztes ab sowie der Bereitschaft der Eltern, sich auf dessen Urteil zu verlassen.
Auf dieser Basis hält zum Beispiel das Jüdische Krankenhaus in Berlin (JKB) an dem Einsatz von Emla bei der Beschneidung fest. Denn, wie Kristof Graf vom JKB in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS, 25.8.13) erklärte: "Keinesfalls können wir es verantworten, gar keine Betäubung zu machen." Das aber wäre nach dem Beschneidungsgesetz ja auch verboten.
Nun gerät das Krankenhaus allerdings in die Kritik. Denn es gibt Hinweise darauf, dass Eltern und Verwandte von Neugeborenen, die beschnitten werden sollen, nicht richtig informiert werden.
Walter S. (Name geändert) wollte es ganz genau wissen: Im September hatte er sich ins JKB begeben. Seine Schwiegertochter, so erklärte er den Pflegekräften im Ambulanten Behandlungszentrum, plane bei ihrem neugeborenen Sohn eine Beschneidung, und da wolle er sich selbst erkundigen, insbesondere darüber, wie das mit der Schmerzbekämpfung bei diesem Eingriff funktioniere.
Falsch informiert
Die Geschichte hatte er sich allerdings nur ausgedacht. Walter S. arbeitet als Physiotherapeut an einem anderen Berliner Krankenhaus. Zu seinen Aufgaben gehört unter anderem, in der interdisziplinären Schmerzkonferenz seiner Klinik mit Kollegen zu beraten, wie man Patienten unnötige Schmerzen erspart. Er ist also nicht nur neugierig - er kennt sich auch aus. Und deshalb staunte er nicht schlecht, als ihm im JKB die diensthabende Schwester ein Informationsblatt zur Beschneidung aushändigte, auf dem sich das Feld "ohne Betäubung" ankreuzen ließ.
Darüber hinaus erklärte ihm die Krankenschwester, dass das Schmerzsystem bei bis zu 14 Tage alten Säuglingen noch nicht ausgereift sei. Seien sie hingegen älter, dann solle man warten, bis sie zwei Jahre alt seien. Dann könnten die Kinder eine Narkose bekommen. Bei einer Beschneidung unter zwei Jahren würden sie hingegen wie am Spieß schreien.
Der Therapeut allerdings hat andere Informationen. Etwa eine Stellungnahme der Deutschen Schmerzgesellschaft vom 3. August 2012: "In der Medizin besteht heute Einigkeit, dass die frühere Annahme, Neugeborene hätten kein oder nur ein unterentwickeltes Schmerzempfinden, überholt ist. Daher wird auch bei Säuglingen eine Betäubung bzw. Schmerzbehandlung mit dem Ziel, möglichst Schmerzfreiheit zu erreichen, als medizinisch geboten angesehen." So wurde es auch im Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Beschneidung zitiert.
Und Walter S. weiß außerdem um eine andere Erkenntnis der Medizin: Noch nicht ausgereift ist bei Neugeborenen tatsächlich das sogenannte Schmerzhemmsystem. Dieses dient dazu, die Wahrnehmung von Schmerzen zu dämpfen. Mediziner nehmen deshalb heute an, dass Neugeborene Schmerzen möglicherweise sogar noch stärker empfinden als ältere Kinder und Erwachsene. Und es wird diskutiert, dass Menschen, die als Säuglinge große Schmerzen erlitten haben, unter Spätfolgen leiden können wie einem höheren Schmerzempfinden und sogar einer geringeren Empathiefähigkeit.
"Persönlicher Ausrutscher"
War Walter S. vielleicht an diesem Tag nur an eine schlecht informierte Hilfskraft geraten? Sicherheitshalber wiederholte er seine Aktion eine Woche später. Diesmal besuchte er das Ambulante Behandlungszentrum sogar zweimal: morgens und abends. "Ich wollte sichergehen, dass es sich hier nicht um ein Versehen handelte. Es hätte ja sein können, dass eine Aushilfskraft veraltete Papiere ausgehändigt und falsche Aufklärung betrieben hat. Aber jetzt lag auch noch ein Schichtwechsel dazwischen. Es war also anderes Personal da."
Diesmal erfuhr er von Schmerzen, die die Säuglinge "noch nicht zuordnen" können, und dass das "Schmerzzentrum" sich erst "nach der Geburt" ausbilde. Und wieder wurde ihm der veraltete Aufklärungsbogen ausgehändigt. Die erste Schwester hatte sich also nicht geirrt. Sie hatte nur das gesagt, was hier offenbar allen Interessierten mitgeteilt wird. Und auch über die neuen Informationen zur Emla-Salbe erfuhr Walter S. hier nichts. Dabei kann man schon der Packungsbeilage entnehmen, dass nicht einmal ihre Wirksamkeit bei der Blutentnahme an der Ferse von Neugeborenen durch Studien belegt werden konnte.
Am JKB tut man die Sache als doppelte Panne ab: Das Aufklärungsblatt sei veraltet und "aus technischen Gründen" ausgegeben worden. Die gültigen Aufklärungsblätter seien "nicht in unser System implementiert" gewesen, sagt Gerhard Nerlich vom Beschwerdemanagement der Klinik. Tatsächlich hatte der Thieme-Verlag das Formular mit dem Ankreuzfeld "ohne Betäubung" bereits im September 2012, kurz vor der gesetzlichen Regelung, aus dem Verkehr gezogen. Nun will auch die Klinik das Blatt nicht mehr verwenden. Außerdem habe das Ankreuzfeld "ohne Betäubung" am JKB sowieso "keine Bedeutung" gehabt, da "eine Beschneidung niemals ohne Betäubung vorgenommen wurde und wird".
Und bei den falschen Informationen habe sich das Personal "einen persönlichen Ausrutscher" geleistet, der keinesfalls "die Position der Klinik" widerspiegle. Diese Position vertritt sicher eher der Ärztliche Direktor Kristof Graf, der weiterhin auf die Emla-Salbe setzt. Die Eltern müssten aber darüber aufgeklärt werden, "dass Schmerzfreiheit nicht garantiert ist", wie er der FAS zufolge erklärte.
Die Situation ist demnach die, dass Eltern, die Neugeborene innerhalb von 14 Tagen beschneiden lassen wollen, bestenfalls auf die nicht garantierte Wirkung von Emla hingewiesen werden müssten. Danach sollte auf den Eingriff verzichtet werden, bis die Kinder zwei Jahre alt sind, empfiehlt das JKB. Vorher, das ist medizinischer Konsens, ist eine Narkose zu gefährlich, weshalb auch Operationen nur in dringenden Fällen vorgenommen werden sollten.
Doch rituelle Beschneidungen von Jungen werden nicht nur an Krankenhäusern vorgenommen. Dem Gesetz zufolge dürfen schließlich auch Personen Beschneidungen vornehmen, die von einer Religionsgemeinschaft dazu vorgesehen wurden - wenn sie dafür besonders ausgebildet wurden. Erlaubt ist ihnen der Eingriff innerhalb der ersten sechs Monate. Damit ist der Weg auch frei für jüdische Beschneider (Mohalim), da der Eingriff bei jüdischen Jungen normalerweise am achten Tag nach der Geburt stattfindet. Wie die Sechs-Monats-Frist zu der Empfehlung passt, dass Kinder bis zum 14. Lebenstag beschnitten werden sollten, danach jedoch nicht, bis sie zwei Jahre alt sind, ist unklar.
Um dem neuen Gesetz zu entsprechen, vergibt der Zentralrat der Juden seit kurzem jedenfalls ein Zertifikat an jüdische Beschneider, die sich einem Fortbildungsseminar unterzogen haben. Auf der Website des Zentralrats heißt es dazu, die Teilnehmer "wurden fachlich sowohl in Fragen der neuen Rechtslage als auch der Schmerzbekämpfung und Hygiene unterwiesen". Die Pressesprecherin des Zentralrats will auf Anfrage keine Details zu Lehrinhalten und Teilnehmerzahl nennen, sondern bittet darum, sich ans JKB zu wenden, weil dessen Ärztlicher Direktor Graf bei dem Seminar die medizinische Beratung übernommen habe. Am JKB wiederum sagt man, zu den Seminarinhalten solle man sich an den Zentralrat wenden.
In der Jüdischen Allgemeinen erklärte Josef Schuster, Vizepräsident des Zentralrats und Mediziner, wichtig seien "Hygiene und Instrumentensterilität". Und man sei sich einig, dass Emla-Salbe "der einzige gangbare Weg" in der Schmerzbekämpfung sei.
Die Diskussion geht weiter
Zu denen, die sich hier einig sind, gehört Bernd Tillig ganz sicher nicht. "Die alleinige Anwendung von Emla zur Beschneidung Neugeborener und Kinder ist unzureichend und ethisch inakzeptabel", sagt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH). Seine Fachgesellschaft stehe "uneingeschränkt" hinter den jüngsten Empfehlungen der europäischen Kollegen: Emla sei höchstens zur Schmerzlinderung geeignet, keinesfalls aber handle es sich dabei um eine adäquate Schmerzausschaltung. "Offensichtlich erfüllt Emla in diesem Zusammenhang lediglich eine Alibi-Funktion", sagt Tillig und spricht sogar von Kindesmisshandlung.
Da außerdem nichtärztliche Beschneider einerseits operieren, aber keine wirksame Anästhesie vornehmen dürfen, ist es schwierig, die gesetzliche Forderung nach den "Regeln der ärztlichen Kunst" zu gewährleisten. Deshalb, so sagt der Generalsekretär der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin, Manfred Gahr, komme es in Deutschland sogar zu Beschneidungen ohne Betäubung.
Die Bundestagsabgeordneten hatten im Dezember 2012 gehofft, die teils heftige Debatte in der deutschen Gesellschaft über die rituelle Beschneidung von Jungen zu beenden und Rechtssicherheit für Juden und Muslime herzustellen. Beides ist gescheitert. Unter Juristen ist das Gesetz weiterhin höchst umstritten. So bezeichnete etwa der Richter Ralf Eschelbach vom Bundesgerichtshof das Gesetz im März als "offensichtlich verfassungswidrig" (Beck'scher Online-Kommentar StGB § 223 III: "Aussgrenzung von Bagatelleingriffen in körperliche Integrität und von Fällen sozialer Adäquanz").
Und auch Betroffene wie die Mitglieder der Organisation Mogis sowie Organisationen wie Terre des Femmes, aber auch der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte und die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie üben weiterhin heftige Kritik. Sie fordern eine Anerkennung des Rechtes des Kindes auf genitale Selbstbestimmung.
Ein Jahr nachdem der Bundestag das Gesetz zur Beschneidung verabschiedet hat, müssen sich die Abgeordneten also die Frage stellen, ob sie vor ihrer Entscheidung gut genug informiert waren. Oder ob es ihnen ergangen ist wie Walter S. am Jüdischen Krankenhaus in Berlin.
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