Wortreich und unverständlich, umschreibt eine klerikale Oligarchie seit Jahren Seiten ihr Nichts-Tun.
Noch immer verhindern Bischöfe, dass die klerikalen Missbrauchs-Verbrechen von staatlicher Seite untersucht und aufgeklärt werden. Vorrang hat der Schutz der Kirche, nicht das Leid der Opfer. Konsequente Verfolgung und Verurteilung findet nicht statt. Stattdessen plant die Katholische Kirche in Deutschland, den Opfern eine gestaffelte „tatorientierte Grundpauschale“ als Entschädigung zu zahlen. Im Namen des Herrn.
Ende September 2023: Wie jedes Jahr treffen sich die deutschen Bischöfe zu ihrer herbstlichen Vollversammlung, diesmal in Wiesbaden. Es soll - wieder einmal -auch darum gehen, Ausmaß und Ursachen der sexualisierten Gewalt gegen Kinder und Jugendliche aufzuarbeiten. Eine wissenschaftliche Studie soll dazu präsentiert werden, die man fünf Jahre zuvor in Auftrag gegeben hat. Doch kurz vor Beginn schiebt sich - wieder einmal - die Vergangenheit vor die Gegenwart. Diesmal geht um Vorkommnisse, die intern schon lange bekannt waren, über die aber in gewohnter Manier Stillschweigen vereinbart worden war. Dem 1991 gestorbenen Essener Bischof Franz Hengsbach wird sexualisierte Gewalt gegen eine 16-Jährige vorgeworfen. Außerdem wird er eines weiteren Übergriffs auf eine Frau beschuldigt.
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bätzing, spricht von einer „neuen Qualität” im Missbrauchsskandal der katholischen Kirche. Das - so wörtlich - „verbrecherische Verhalten“ des Geistlichen müsse umfassend aufgeklärt werden.(1) Hengsbach wird als erstem deutschem Kardinal überhaupt sexualisierte Gewalt in mehreren Fällen in den 1950er und 60er Jahren vorgeworfen. Unter anderem sollen Hengsbach und sein Bruder 1954 eine damals 16-Jährige missbraucht haben. Nicht nur die Kirchen-Oligarchie gibt sich - wieder einmal - betroffen. Vor dem Dom in Essen wird umgehend eine Skulptur, die ihn darstellte, abgebaut. Auch ein Schild mit den Lebensdaten Hengsbachs wird danach entfernt. Anstelle der Skulptur soll eine Gedenkstätte für Missbrauchsbetroffene entstehen.
Die Präsidentin des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken, Stetter-Karp, spricht von einer „abermals dokumentierten Vertuschungsstrategie der Kirche“. Und Bätzing verspricht - wieder einmal - ALLES müsse nun auf den Tisch. Daran werde auch - wieder einmal - ein unabhängiger Expertenrat mitwirken. Alles wie gehabt: die routinierte Dramaturgie klerikaler Vertuschung.
Fünf Jahre zuvor, zur Herbstvollversammlung in Fulda 2018, hatten die Bischöfe schon einmal eine Untersuchung über „Sexuellen Missbrauch an Minderjährigen“ in der katholischen Kirche präsentiert. Kardinal Reinhard Marx, damals Vorsitzender der Bischofskonferenz, war überzeugt: „Das ist ein wichtiger Tag für die katholische Kirche in Deutschland.“ Die Forschenden hatten 38.000 Personalakten von Klerikern überprüft, von 1946 bis 2014. Sie identifizierten 3.677 Kinder und Jugendliche, die von sexualisierter Gewalt betroffen waren und 1.670 potenzielle Täter - Priester, Diakone, Ordensangehörige. Marx bat damals die Betroffenen „für alles Versagen und für allen Schmerz“ um Entschuldigung. „Und ich tue es auch ganz persönlich.“ Ein Blick in den Abgrund - vor allem, da es sich bei diesem Befund nur um die „Spitze des Eisbergs“ handele, so die Forscher damals.(2)
Nun, im Herbst 2023, wurde das Bild erneut bemüht. Diesmal von dem Psychiater Harald Dreßing, verantwortlich für die Koordination der Untersuchungen, die von verschiedenen Instituten durchgeführt wurden. Er forderte eine „Wahrheitskommission“, denn „ehrliche Aufarbeitung“ müsse „in unabhängige Hände“ gegeben werden, um das „Dunkelfeld“ auszuleuchten. Doch davon sei die katholische Kirche immer noch weit entfernt. Sein Fazit: „Wir sind nach wie vor immer noch bei der Spitze des Eisbergs“ Ein Sprecher des „Betroffenenbeirats“ bei der Deutschen Bischofskonferenz, indes fand, es sei „eine ganze Menge passiert“ in den vergangen fünf Jahren. An einem Punkt freilich müsse die Bischofskonferenz nachgebessert werden: „bei der Frage der Anerkennung des Leids.“
Ein Blick in die Schmerzensgeld-Tabellen zeigt: das können zwischen 5.000 und 50.000 Euro sein. In einem Schadenersatzprozess war im Juni 2023 der Kölner Erzbischof zu einer Zahlung von 300.000 Euro an einen Betroffenen verurteilt und damit die Kirche unter Zugzwang gesetzt. Daraufhin empfahl der „Betroffenenbeirat der Bischöflichen Fachgruppe zu sexuellem Missbrauch“ den Bischöfen, das gesamte Prozedere zur „Anerkennung des erlittenen Leids“ nochmals grundlegend zu überdenken. Hierzu sollte eine weitere Kommission, diesmal die „Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen“ (UKA) Betroffenen auf Antrag eine „tatorientierte Grundpauschale“ je nach Schwere des plausibel gemachten Übergriffs zusprechen. Diese könne von 40.000 bei „Übergriffigkeit und Grenzverletzungen“ mit langfristigen Folgen über 175.000 Euro bei Missbrauch bis auf 250.000 Euro bei schwerem Missbrauch steigen.(3)
„Tatorientierte Grundpauschale“ – ein finanz-technokratisches Wort-Monster aus dem klerikalen Kosmos für Missbrauch. Man möchte sich nicht vorstellen, wie innerhalb der „unabhängigen Kommission“ über „Übergriffigkeiten“ und „Grenzverletzungen“, sexuelle Gewalt und sexuellen Missbrauch geredet und entschieden wird, vor allem, wenn es um die Höhe von Wiedergutmachungs-Zahlungen geht, die über die „tatorientierten Grundpauschalen“ hinausgehen - im Namen des Herrn.
Handlungsbedarf vor allem bei den Rechten von Betroffenen
Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, (ja, auch wenn nur wenige Staatsanwälte ermitteln, gibt es zahlreiche „Beauftragte“) sieht Handlungsbedarf vor allem bei den Rechten von Betroffenen. Diese sollten Akteneinsicht erhalten. Die Kirche müsse sich „mehr in die Karten schauen lassen“, wenn es um Aufarbeitung von Missbrauchs-Verbrechen geht, sagt Frau Claus.
In die Karten schauen lassen? Ganz so, als gelte hier das Prinzip der Freiwilligkeit. Etwa wie in Freiburg, wo im Frühjahr 2023 ein juristisches Gutachten, den beiden früheren Freiburger Erzbischöfen Robert Zollitsch und Oskar Saier „massive Vertuschung“ und „Ignoranz geltenden Kirchenrechts“ beim Umgang mit sexualisierter Gewalt vorwarf. Nicht Polizei und Strafverfolger hatten, wie in einem Rechtstaat gefordert, hatten „die Karten aufgedeckt“, sondern ein von der Freiburger Erzdiözese bestellter Gutachter.(4) Die Kirche ermittelte gegen sich selbst. Klerikale Missbrauchstäter und deren Vertuscher mussten nicht mit staatlicher Strafverfolgung rechnen. Der Rechtsstaat schaut - in Freiburg wie anderorts - zu.
Besonders erschreckend sei, dass das Leid der betroffenen Kinder und Jugendlichen und der Angehörigen keine Rolle gespielt habe, sagte der Jurist Eugen Endress bei der Vorstellung des Missbrauchsberichts. In ihren Amtszeiten seien keinerlei Aufklärungsbemühungen erkennbar gewesen. Vielmehr sei es nur um den Schutz der Kirche und der Priester gegangen. Endress nannte als Beispiel, dass ein Zölibat-Verstoß eines Geistlichen bestraft wurde, während Missbrauch von Kindern und Jugendlichen kirchenrechtlich nicht geahndet worden sei. „Wir waren sprachlos.“
Das Kirchenrecht sehe ein Eingreifen und Melden von Fällen vor. Dass dies seine beiden Vorgänger wider besseres Wissen „schlichtweg ignoriert“ hätten, mache ihn fassungslos. Ob dies auch kirchenrechtliche Konsequenzen für den noch lebenden Alt-Erzbischof Robert Zollitsch hat, werde der Vatikan entscheiden, so dessen Nachfolger, Erzbischof Burger.(5) Der Vatikan, nicht die deutsche Staatsanwaltschaft.
Deutschland ein Gottesstaat? „Seit 13 Jahren haben die Bischöfe weitestgehend verhindert, dass die Verbrechen der Täter und das zweite Verbrechen, das der Vertuschung, von staatlicher Seite untersucht und aufgeklärt werden. Und sie wussten offenbar genau, was sie taten,“ empörte sich Matthias Katsch, der Sprecher der Betroffeneninitiative „Eckiger Tisch“ in einem Kommentar. Er hatte nach Veröffentlichung der neuen Missbrauchsstudie aus dem Erzbistum Freiburg das Vorgehen der Kirche mit der organisierten Kriminalität der Mafia verglichen.(6)
Katsch erinnerte in seinem Beitrag an das Jahr 2010, als die damalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger einen Vermittlungsprozess zwischen Betroffenen und Täterorganisation starten wollte und die Kirche zur Aufklärung von Missbrauchsfällen aufforderte. „Die verlogene Reaktion des damaligen Vorsitzenden der Bischofskonferenz Zollitsch verhinderte dies“, so Katsch. Zwar gebe es überall sexuelle Gewalt, doch nur in der katholischen Kirche „wird mit offensichtlich hoher krimineller Energie und Raffinesse, teilweise über Grenzen hinweg durch eine mächtige Institution systematisch Täterschutz betrieben und die Justiz offenbar bewusst getäuscht”.(7) Der Missbrauchsbetroffenen-Vertreter fordert, dass der Deutsche Bundestag eine Untersuchungskommission einsetzt, die den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche endlich aufklärt. Die Archive sämtlicher deutscher Diözesen sollten durchsucht und Unterlagen ausgewertet werden. „Um der Gerechtigkeit für die Opfer willen, aber auch damit sich nachhaltig etwas ändert, muss dieser Verbrechenskomplex aufgeklärt werden“, so Katsch.
Ein frommer Wunsch. Wortreich und unverständlich, umschreibt eine klerikale Oligarchie seit Jahren Seiten ihr Nichts-Tun. Etwa, dass man den genannten Vorschlag des Betroffenenbeirats zur Umstrukturierung des Anerkennungsverfahrens bis heute ablehnt. Eifrig wird weiterhin von Austausch und Neustrukturierungen, von einzubringenden Perspektiven und Weiterentwicklung geredet. Auch Gratis-Floskeln wie „Vernetzung ist ein zentrales Thema in der Betroffenenarbeit. Die Bedeutung der Vernetzung hat die Vollversammlung nochmals explizit unterstrichen“, fehlen nicht.(8) Nichts Neues also. Der Schutz der Kirche geht vor, nicht das Leid der Opfer.
Noch immer sind viele Bischöfe der Meinung, der Staat habe sich nicht in ihre Angelegenheiten einzumischen, selbst wenn es um schwere und schwerste Straftaten. Kirchenrecht schützt die Täter vor Verfolgung und Verurteilung. Die Strafverfolgungsbehörden agieren irritierend zurückhaltend. Kein klerikaler Missbrauchs-Täter sitzt in Haft, kein Bischof steht vor Gericht, kein Kardinal wird zur Rechenschaft gezogen. Eine skandalöse staatliche Ignoranz. Mittlerweile wird jetzt der Schwarze Peter ebendiesem Staat zugeschoben: „Wir unterstützen ausdrücklich [das] Anliegen, Aufarbeitung auch gesetzlich zu stärken. Eine solche gesetzliche Regelung wäre auch ein wichtiger Ausdruck staatlicher Verantwortungsübernahme.“– schreiben Kirchen-Vertreter.(9) Eine groteske Verhöhnung des Rechtstaats. Wie lange noch? Deutschland ist kein Kirchenstaat. Wir leben in einem säkularen Verfassungs-Staat. Der Rechtsstaat muss handeln. Aber er schaut zu.
Quellen
(1) Vgl. Deutschlandfunk, 27.9.2023
Bätzing spricht von neuer Qualität im Missbrauchsskandal Hengsbach
(2) Kleinjung, Tilmann, Katholische Missbrauchsstudie: „Spitze des Eisbergs“, www.tagesschau.de , 25.9.2023, https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/
(3) Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.9.2023
Bischöfe offenbar gegen Pauschalen für Missbrauchsopfer
(4) Zum Missbrauchs-Bericht im Erzbistum Freiburg siehe: www.spiegel.de, 18.4.2023
Bericht belastet Alt-Erzbischof Zollitsch – mehr Betroffene als bislang angenommen
18.4.2023 Südwestfunk, swr.de, 19.4.2023
Nach schweren Vorwürfen gegen Alt-Erzbischof: Zollitsch drohen nun auch Sanktionen
(5) Ebd.
(6) Katsch, Matthias, Missbrauchsskandale in der Katholischen Kirche:
Sie wussten, was sie taten. DER SPIEGEL, 30.04.2023
(7) Ebd.
(8) Bodenstein, Gisela, Wer erwartet noch etwas von den deutschen Bischöfen?
Humanistischer Pressedienst, 29.9.2023
(9) Ebd.
Helmut Ortner, Jahrgang 1950, hat bislang mehr als zwanzig Bücher, überwiegend politische Sachbücher und Biografien veröffentlicht, u.a. Der Hinrichter - Roland Freisler, Mörder im Dienste Hitlers, Der einsame Attentäter - Georg Elser und EXIT: Warum wir weniger Religion brauchen - Eine Abrechnung. Zuletzt erschienen: Widerstreit: Über Macht, Wahn und Widerstand und Volk im Wahn - Hitlers Deutsche oder Die Gegenwart der Vergangenheit (April 2022).
Seine Bücher wurden bislang in 14 Sprachen übersetzt. Helmut Ortner ist Mitglied bei Amnesty International und im Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung.
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