Besprechung des Buches „Welt ohne Gott“ - Teil 2
In seinem Buch Welt ohne Gott? - Eine kritische Analyse des Naturalismus (2014) stellt Markus WIDENMEYER die Vorrangstellung wissenschaftlicher Erklärungen gegenüber supranaturalistischen Deutungen infrage. So versucht der Autor, den Status wissenschaftlicher Erklärungen u. a. mit dem Hinweis zu schwächen, die universelle Geltung der Naturkonstanten und -Gesetze sei nicht belegbar. Überhaupt würden die Naturwissenschaften reale Sachverhalte in der Regel eher beschreiben statt erklären. Zudem wird behauptet, die Entstehung von Bewusstsein sei neurophysiologisch prinzipiell nicht erklärbar. Im vorliegenden 2. Teil unserer Buchbesprechung wird auf die Argumente WIDENMEYERs eingegangen.
Die universelle Geltung der Naturgesetze und das Kritisierbarkeitsprinzip
Bei WIDENMEYER lesen wir:
„Sie [die Naturwissenschaft; M.N.] kann … über die tatsächlich gemachten Beobachtungen hinaus nicht sagen, ob diese naturgesetzliche Ordnung ausnahmslos gilt und wie weit sie zum Beispiel in die Zukunft oder die Vergangenheit extrapoliert werden kann, weil sie den realen Grund der Naturerscheinungen und ihrer Ordnung nicht kennt.“ (ebd., 111)
Offensichtlich gehen alle Naturwissenschaftler zunächst davon aus, dass die Eigenschaften der Dinge konstant (bzw. kovariant) miteinander verbunden sind, dass also die Welt räumlich und zeitlich universell gesetzmäßig beschrieben und erklärt werden kann, mit anderen Worten: dass es überall im Kosmos „mit rechten Dingen“ zugeht.
Niemand erwartet, dass sich Messapparaturen spontan in Himbeergrütze verwandeln, dass das vom Sirius ausgesandte Licht Umwege einschlägt, bevor es auf der Erde ankommt, oder dass es sich zeitweilig nur mit 1/10 der Lichtgeschwindigkeit ausbreitet. Niemand vermutet, dass Gärhefen, die in einer Lösung kein Kohlendioxidgas entwickeln, dies deshalb nicht tun, weil sich das Gas spontan in Helium verwandelt oder spurlos verschwindet. Kein Wissenschaftler geht davon aus, dass sich die Verwesungsprozesse in einem Leichnam umkehren, sodass er lebendig wird, dass die Halbwertszeiten radioaktiver Zerfälle beliebig variieren oder dass zur Beschreibung der Dynamik von Sternen in der Galaxie M31 mit einer anderen Gravitationskonstanten zu rechnen ist, als zur Beschreibung der Planeten im Sonnensystem.
Streng logisch beweisbar ist diese Universalitätsannahme natürlich nicht, doch ist dies ein guter Grund, um von einer prinzipiellen „Begrenzung der Naturwissenschaft“ (WIDENMEYER, ebd.) zu sprechen? Nein, denn der Autor übersieht, dass die Universalitätsannahme indirekt prüfbar ist und scheitern kann, indem die Wissenschaft scheitert: Sie ist die sparsamste ontologische Annahme (Nullhypothese), die es für wissenschaftliches Erklären braucht. Ist auf Basis dieser Annahme keine konsistente Erklärung der Welt möglich, ist sie gescheitert. Und so lässt sich, entgegen des Autors Auffassung, durchaus partikulär prüfen, ob und inwieweit die naturgesetzliche Ordnung „…in die Zukunft oder die Vergangenheit extrapoliert werden kann".
Ein Beispiel: Wäre die Geschwindigkeit des Lichts im Vakuum nicht räumlich und zeitlich konstant, sondern in der Vergangenheit und in entlegenen Winkeln des Kosmos verschieden von dem im Labor gemessenen Wert, dann würde sich dies in den Absorptionslinien einiger Sterne bemerkbar machen. Die betreffenden Spektrallinien wären nicht mehr den bekannten Element-Spektren zuordenbar, weil die Übergänge empfindlich vom Wert der so genannten SOMMERFELDschen Feinstrukturkonstante abhängen, deren Wert wiederum von der Lichtgeschwindigkeit abhängt. Der Versuch, den Kosmos konsistent und einheitlich zu erklären, würde insgesamt scheitern. Wir wissen aber, dass selbst noch die am weitesten entfernten Objekte, die Quasare, vergleichbare Spektren zeigen, woraus wir schließen können, dass die Lichtgeschwindigkeit auf einem Niveau von derzeit etwa 10-16 bis 10-18 ihres Werts konstant geblieben ist (Abb. 1). Das bedeutet zwar nicht, dass ein Gott nicht ab und an in den Gang der Welt eingreifen und punktuell Naturkonstanten modifizieren oder Naturgesetze aufheben könnte, doch begründet ist diese These nicht.
Analoges gilt für die Konstanz der Halbwertszeiten radioaktiver Atomkerne und für die Zuverlässigkeit radiometrischer Datierungen. Zum Beispiel kann man anhand des Naturreaktors von Oklo zeigen, dass die Halbwertszeiten vor rund 2 Milliarden Jahren genau den heutigen Werten entsprachen (NEUKAMM 2014, 7f). Und würden die radiometrischen Datierungen keine realen Zeiträume liefern, wäre der Versuch, das Alter der Erde, von Sternen und des Kosmos durch verschiedene Methoden auch nur halbwegs einheitlich zu datieren, im Ansatz stecken geblieben. Denn warum sollten sich die Zerfallskonstanten der verschiedenen für die Altersbestimmung verwendeten Nuklide im Laufe der Zeit ausgerechnet immer so verändert haben, dass man voneinander unabhängig immer wieder übereinstimmende Altersdaten erhält?
Die Nullhypothese der universellen Gültigkeit fundamentaler Naturkonstanten und Gesetze ist also zwar nicht mit mathematischer Strenge beweisbar, aber anhand vieler Beispiele belegbar und bis heute nicht widerlegt worden. Es braucht daher gute Gründe, um sie zu verwerfen – bloße Spekulationen darüber, was vorstellbar sein könnte, reichen nicht aus. Dazu Volker DITTMAR (2013, 7):
„Man kann beliebige Metaphysiken konstruieren. Z. B. könnte man behaupten, dass die Welt letzten Freitag erschaffen wurde ('Last Fridayismus') und unsere Erinnerungen an eine Zeit davor uns mitgegeben wurden. Niemand kann das Gegenteil beweisen. Nur muss man sich auch bei Metaphysik immer fragen, was das Problem ist, und welche Auffassung es am besten löst. Dann kann man guter von schlechter Metaphysik unterscheiden und seine Voraussetzungen hinterfragen, statt sie blind zu akzeptieren, weil eine philosophische oder theologische Richtung ihr etwas vorgibt.“
Abb. 1 Zwei Quasare in Falschfarben-Darstellung. Als Quasare bezeichnet man die Zentren aktiver Galaxien, die nicht nur im sichtbaren Bereich des elektromagnetischen Spektrums große Energiemengen abstrahlen. Sie gehören zu den entferntesten Objekten, die man kennt. Die Auswertung der Absorptionslinien in den Spektren erlaubt den Rückschluss, dass sich Naturkonstanten wie die Feinstrukturkonstante und die Lichtgeschwindigkeit auch im Laufe von Jahrmilliarden und in den entlegensten Winkeln des Kosmos nicht messbar geändert haben. Bilder: NASA/ESA Hubble-Space Telecope / ESO, VLT.
Die Naturwissenschaftler können sich also nicht mit WIDENMEYERs Spekulationen darüber ob
„…Gott die Welt mit einem bestimmten (scheinbaren) Alter oder gar mit inkohärenten Altersstrukturen schuf oder zwischendurch (zum Beispiel im Rahmen der Sintflut) diese modifizierte…“ (WIDENMEYER 2013, 20f)
(d.h. mit schlechter Metaphysik) aufhalten. Solche Gedankenspiele sind nur dazu da, ein bestimmtes Weltbild zu retten, das ohne sie widerlegt ist. Sie können prinzipiell nie an der Beobachtung scheitern und unterlaufen somit das von Gerhard VOLLMER (2009, 63) formulierte Kritisierbarkeitsprinzip:
„Eine rationale Position muss kritisierbar sein! Die entscheidende Frage an den Vertreter einer Position lautet also: Welche Argumente könnten dich bewegen, deine Auffassung zu ändern?“
Offensichtlich gibt es nichts, das WIDENMEYER dazu bewegen könnte, die metaphysische Auffassung einer nur partiell gültigen Naturgesetzlichkeit der Welt fallen zu lassen. Die logische Unmöglichkeit des Scheiterns übernatürlicher Annahmen ist streng genommen keine „Begrenzung“ der Naturwissenschaft, sondern die fundamentale Schwäche des Supranaturalismus.
Zum Status wissenschaftlicher Erklärungen
WIDENMEYER behauptet, die Naturwissenschaften seien nicht dazu fähig, innerwissenschaftliche Sachverhalte zu erklären, vielmehr würden sie diese lediglich beschreiben. So böte eine Erklärung mittels Naturgesetzen (und Randbedingungen) keinen Erklärungsfortschritt im Hinblick auf die Erklärung der Ordnung der Welt:
„Man muss sich nur stets vor Augen halten, dass eine solche [wissenschaftliche; M.N.] 'Erklärung' niemals abschließend ist, sondern immer nur auf Grundlage der Voraussetzung der realen, gigantischen Ordnung der Natur gemacht werden kann. Es ist daher in den meisten Kontexten sachgemäßer, wenn man von naturwissenschaftlichen Beschreibungen spricht und nicht von 'Erklärungen'.“ (ebd., 107)
Zureichend ist dem Autor zufolge nur eine teleologisch-supranaturalistische Erklärung. Zur Erläuterung bedient er sich folgenden Beispiels:
„Kämen wir in einen Wald, in dem uns plötzlich vier Bäume in einer exakt quadratischen Anordnung auffallen, wäre dies erklärungsbedürftig. Wenn wir nun feststellen, dass alle Bäume in diesem Wald so angeordnet sind, könnte eine solche scheinbare 'Erklärung' so aussehen: 'Die vier Bäume sind deshalbquadratisch angeordnet, weil alle Bäume hier quadratisch angeordnet sind. Die Bäume wachsen hier nun einmal so.' In solchen Fällen wird aber das Problem, nämlich einen Sachverhalt wirklich zu erklären, nicht gelöst, sondern nur verschoben und sogar noch vergrößert. Es gibt hier keinen realen Erklärungsfortschritt. Man zieht sich auf die vielleicht subjektiv beruhigende Aussage zurück: 'Es ist nun einmal so.' Solche scheinbaren Erklärungseffekte sind ausschließlich psychologischer Natur, weil man nicht sieht, dass der Sachverhalt, auf den die 'Erklärung' zurückführt, mindestens ebenso erklärungsbedürftig ist. Solche 'Erklärungen' sind, wie wir noch weiter sehen werden, typisch für den Naturalismus…
Dem steht zum anderen die eigentliche Bedeutung dessen, was eine Erklärung ist, gegenüber: Es handelt sich hier um eine wirkliche Erklärung, bei der es tatsächlich einen Erklärungsfortschritt gibt. Dies wäre zum Beispiel der Fall, wenn wir die quadratisch angeordneten Bäume so erklären würden: 'Es handelt sich hier um eine Baumschule. Die Bäume wurden von den Gärtnern quadratisch angeordnet, weil es die effizienteste Möglichkeit ist, Bäume anzubauen.'“ (ebd., 104)
Das Baumschulen-Beispiel überzeugt deshalb nicht, weil es eine Ordnung voraussetzt, deren Artefakt-Charakter unstrittig ist: Auch ein Naturalist hätte kein Problem damit zuzugeben, dass streng quadratisch angeordnete Bäume menschlichen bzw. teleologischen Ursprungs sind. Einerseits wird man in der Natur solche Anordnungen kaum finden, andererseits kennen wir Baumschulen, für die solche Anordnungen typisch sind. WIDENMEYERs Teleologie-Beispiel ist also inadäquat, weil es den Naturalismus der Realwissenschaften nicht übersteigt: Menschen handeln zwar planmäßig, sind aber in die naturgesetzlich beschreibbaren Strukturen des Kosmos eingebunden. Ihre Handlungsmechanismen sind spezifisch, kausal nachvollziehbar und objektiv limitiert. WIDENMEYER hingegen möchte den Naturalismus überwinden, indem er einen omnipotenten Planer ins Spiel bringt. Als Handlungsmechanismus bietet er somit nur „Magie“ an, die sich der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit entzieht. Sein Versuch, qua Analogie von „menschengemachter“ Ordnung auf den teleologischen Ursprung der Natur als Ganzes zu schließen, scheitert daher.
Auch die Kritik am Erklärungsgehalt wissenschaftlicher Theorien überzeugt nicht, weil der Autor voraussetzt, dass „wirkliche“ Erklärungen abschließend zu sein hätten und zeigen müssten, dass die Grundordnung der Welt intelligibel sei. Sowohl in den Naturwissenschaften als auch in der Wissenschaftsphilosophie hat man sich von solchen Vorstellungen jedoch längst verabschiedet – auch deshalb, weil Naturprozesse aufgrund der konstitutiven Rolle des Zufalls in der Welt nicht vorhersagbar sind. In seiner Besprechung des Buchs Geist und Kosmos aus der Feder des Philosophen Thomas NAGEL schreibt Thomas WASCHKE (2013):
„Als Beispiel soll der Befund dienen, dass eine Frau zwei Mädchen geboren hat. Aufgrund der Gesetze der Vererbung lässt sich angeben, was alles passiert sein musste, damit zwei Mädchen geboren werden konnten, man kann sogar berechnen, wie wahrscheinlich das war. Mehr als diese Beschreibung kann eine naturwissenschaftliche Erklärung aber nicht leisten. Niemand konnte voraussagen, dass die Frau tatsächlich zwei Mädchen zur Welt bringen wird. Selbst wenn die Frau zwei Mädchen geboren hat, ist es nicht möglich, zu zeigen, dass dieser Fall wahrscheinlicher war als die Geburten beispielsweise eines Mädchens und eines Jungen. Letztlich muss immer wieder konstatiert werden, dass bestimmte Phänomene 'einfach so' vorliegen, ohne dass ein Grund dafür genannt werden kann. Aus dieser Sicht entstand Bewusstsein (und ebenso die anderen Phänomene, die Nagel anspricht), als sich im Lauf der Evolution hinreichend komplexe Gehirne entwickelt hatten. Es wäre aber auch möglich gewesen, dass die Gehirnvorgänge ohne Bewusstsein ablaufen.“
An diesem Beispiel kann man erkennen, dass in der wissenschaftlichen Forschungspraxis meist erst ein Befund steht, den man nicht vorhergesehen hat, sodass man nachträglich nach einem erklärenden Satz (bzw. nach passenden Randbedingungen) sucht, aus dem der Befund abgeleitet werden kann. Nehmen wir an, im genannten Beispiel würden zweieiige Zwillinge zur Welt gekommen sein, dann könnte man zwar folgende Randbedingung formulieren: „Zwei X-Spermien verschmolzen mit zwei Eizellen, folglich hat die Frau zwei Mädchen geboren"; wir können aber nicht erklären, warum dies so und nicht anders geschah. Analoges gilt für die Evolution des Bewusstseins: Wir können zwar klären, welche Gene, Entwicklungszwänge und Selektionsvorteile die Entstehung hochevolvierter Gehirne und bewusstes Erleben begünstigt haben. Vorhersehbar war diese Entwicklung vermutlich aber nicht.
Der Supranaturalismus steht nun vor einem nicht minder schweren Problem – eine Tatsache, vor der WIDENMEYER allerdings im Zuge religiöser Observanz notorisch die Augen verschließt: Dass wir Menschen ein Bewusstsein haben, ist ja auch für einen Religiösen nicht abschließend erklärbar, denn jener Gott, an den er glaubt, hätte auch ganz anders handeln können. Überhaupt, warum hat eine so hehre Entität wie ein Gott den Menschen nicht als vollkommenes Geistwesen erschaffen, sondern als „…schwitzende, urinierende, defäzierende und ohne ständige Hygienemaßnahmen von Natur aus übelriechende Säugetiervariante“ (MAHNER 2007, 349)? Ein Gläubiger kann solche Fragen nicht beantworten, sondern sich nur auf Gottes unergründbaren Willen zurückziehen – auf die „subjektiv beruhigende Aussage“ also: „Es ist nun einmal so.“ (Bestenfalls denkt man sich eine willkürliche Design-Geschichte aus, die mangels Prüfbarkeit nicht intellektuell vertretbar ist.)
Schlimmer noch: Religiöse behaupten immer wieder, der Mensch sei „von Gott gewollt". Konsequenterweise müssten sie sich (sofern sie ihre eigene Stammesgeschichte nicht leugnen) allerdings fragen, weshalb 100 Millionen Jahre lang die Dinosaurier die „Krone der Schöpfung“ repräsentierten und wir es nur dem Einschlag eines Asteroiden zu verdanken haben, dass die Vorherrschaft der Dinosaurier beendet wurde. Kann man ernsthaft glauben, dass dieses und weitere zuvor stattgefundene Extinktionsereignisse gezielt initiiert wurden, um der langwierigen Entwicklung der Primaten den Weg zu bahnen? Weshalb sind 99% aller Arten, die unseren Planeten besiedelten, wieder ausgestorben, wenn sie doch gezielt geplant und mit einem „intelligenten“ Variationspotenzial ausgestattet worden sein sollen? Nein, kuriose Umwege und „Sackgassen“ wie die beschriebene lassen sich besser durch ziellose, natürliche Prozesse erklären als durch eine (übernatürliche) Planung.
Wie ist es nun um die Erklärung regelhafter Abläufe und Mechanismen in der Natur bestellt? Bieten wenigstens auf diesem Terrain supranaturalistische Interpretationen eine abschließende, den Naturwissenschaften überlegene Erklärung an? Betrachten wir den Fall eines zu Boden fallenden Apfels: Im 17. Jahrhundert erklärte Sir Isaak NEWTON diesen Befund durch eine Kraft, die von der Erde ausgeht. Diese Kraft lässt nicht nur Gegenstände zur Erde fallen, sondern zwingt auch den Mond auf eine Umlaufbahn um die Erde. Auch der Apfel übt eine Anziehungskraft aus, doch müsste er die Masse eines Kleinplaneten haben, bevor wir diese Kraft spüren. NEWTON erklärte, warum Körper zur Erde fallen und sich Planeten auf Ellipsenbahnen um die Sonne bewegen, indem er beschrieb, wie Gravitation wirkt. Im 20. Jahrhundert erklärte EINSTEIN, was Gravitation ist: Objekte mit einer Ruhemasse verändern die Geometrie des Raums so, dass die kürzeste Wegstrecke zwischen zwei Punkten eine gekrümmte Bahn ist. Bewegen wir uns entlang dieser Wegstrecke, nehmen wir die Ablenkung von der Geraden infolge der Massenträgheit als Gravitation wahr.[1]
Warum sollte sich nun, wie WIDENMEYER behauptet, diese revolutionäre wissenschaftliche Erkenntnis ausgerechnet dann in eine wirkliche Erklärung verwandeln, wenn die Naturkräfte als gottgeschaffen gedeutet werden? Wenn dem so wäre, dann müsste die supranaturalistische Metaphysik einen Erkenntnismehrwert gegenüber den Erklärungen der Physik aufweisen. Sie müsste unabhängig von den Naturwissenschaften erklären können, was Gravitation ist und dabei elementare Fragen zur Beschaffenheit der Welt beantworten. Dann aber würde sie z. B. die Klärung der Frage ermöglicht haben, ob und falls ja, weshalb und um welchen Winkelbetrag ein Lichtstrahl von der Sonne abgelenkt wird. In Wahrheit sah sich jedoch die mittelalterliche Adaptation der aristotelischen Physik wegen ihrer supranaturalistischen Bezüge außerstande, das Wesen der Gravitation zu ergründen. Die Annahme, dass die Bewegungen des Fixsternhimmels sowie der Planeten durch Gott als ersten „unbewegten Beweger“ angestoßen und in Gang gehalten werden, war nicht das, was man unter einer Erklärung gravitativer Phänomene verstehen würde (Abb. 2). Erst die naturalistische Physik der Renaissance bzw. Neuzeit war in der Lage, sich dem Wesen der Gravitation Schritt für Schritt zu nähern, nachdem sie die alten supranaturalistischen Final-"Erklärungen“ über Bord warf.[2]
Abb. 2 „Blick in die Übernatur". Nach mittelalterlichen Vorstellungen galt die Natur der Himmelskörper als unerforschbar und in die göttliche Sphäre eingebettet. Ihre Gesetze sollten sich grundlegend von jenen der irdischen Physik unterscheiden. So blieb das Wesen der Gravitation lange unergründet. Erst mithilfe der naturalistischen Physik gelang es, jene Kräfte zu erforschen, nach denen sich Planeten bewegen und Gegenstände zur Erde fallen.
Dass supranaturalistischen Deutungen im Vergleich zu naturwissenschaftlichen Theorien Erklärungsdefizite haben, lässt sich auch anhand der Evolutionstheorie zeigen: Warum etwa, so ist zu fragen, zeigt der Fossilienbefund alle wünschenswerten Übergänge zwischen dem wolfsähnlichen Raubtier Mesonychids und den heutigen Vertretern der Wale (Abb. 3), wenn es dem Schöpfer gefiel, die Lebewesen als diskrete Grundtypen zu erschaffen, wie die Kreationisten behaupten? Der Evolutionstheorie zufolge sind solche Fossilien-Reihen evident: Die abgestufte Ähnlichkeit der Fossilien, deren Gestalt sich immer mehr den heutigen Verhältnissen annähert, je jünger sie sind, ist logisch zwingend, wenn sich die Arten durch die Mechanismen der Vererbung, Variation und Selektion allmählich auseinanderentwickelt haben.
Aus Sicht einer wie auch immer gearteten Schöpfungslehre dagegen gibt es dafür keine Erklärung: Der Kreationist kann bestenfalls jedes Fossil einem eigenen Grundtyp zuordnen, weil jedes Fossil nur ein Beleg für eine weitere, diskrete Art sein kann. Andere sehen einen intelligenten Designer am Werke oder interpretieren Evolution als Schöpfungsmethode Gottes. Solche unprüfbaren Deutungen sind jedoch außerhalb der Wissenschaft, bestenfalls Zirkelschlüsse.
Abb.3 Die Evolution der Wale. Der Fossilienbefund zeigt alle wünschenswerten Details der evolutionären Transformation.
Das Verwechseln von Erklärung und Beschreibung
Noch aus einem anderen Grund ist es methodologisch falsch, wissenschaftliche Erklärungen als Beschreibungen zu bezeichnen, wie dies WIDENMEYER tut:
„Es ist … in den meisten Kontexten sachgemäßer, wenn man von naturwissenschaftlichen Beschreibungen spricht und nicht von 'Erklärungen'.“ (ebd., 107)
Wenn von einer Beschreibung gesprochen wird, ist das bloße Protokollieren von Aussagen gemeint, die sich auf direkte Beobachtungen beziehen. Zwei Beispiele:
„Wasserstoff und Sauerstoff reagieren im Volumen-Verhältnis 2:1.“
„Gestern um 10:20 Uhr kam es in Mitteleuropa zu einer Sonnenfinsternis."
Für Beschreibungen braucht es nicht mehr als einen Beobachter oder Experimentator, einen Notizblock oder ein Laborjournal. Die Naturwissenschaft ist mit solchen Beschreibungen aber nicht an ihrem Ende angelangt, im Gegenteil: Jenseits solcher Beschreibungen fängt wissenschaftliches Erklären erst an, denn für die Naturwissenschaften sind Beobachtungen nicht das Ziel, sondern nur Mittel zum Zweck, die Ursachen von Erscheinungen aufzuklären, die uns verborgenen Strukturen der Welt zu rekonstruieren. Zur Frage, was man unter einer Erklärung versteht, lesen wir den Wissenschaftstheoretiker Martin MAHNER (2002, 173):
„Allgemein versteht man unter einer Erklärung die Angabe des Wie und Warum von Sachverhalten, das heißt die Aufdeckung der Ursachen beziehungsweise Mechanismen, durch die der betreffende Sachverhalt zustande gekommen ist.“
Es wäre also verfehlt, den Begriff der wissenschaftlichen Beschreibung dem der Erklärung vorzuziehen, denn wissenschaftliche Theorien machen nicht bei der Beschreibung von Erscheinungen Halt. In aller Regel dringen sie auch zu den Ursachen der Erscheinungen vor – zu den Elementen und Mechanismen, die sich häufig der direkten Beobachtung entziehen und die verständlich machen, wie und wodurch die beschriebenen Makrophänomene zustande kamen. Wissenschaftliche Theorien sind also nicht primär beschreibend, sondern erklärend, weil sie die Beschreibungen unter ein Erklärungsschema subsumieren:
Warum reagieren Wasserstoff und Sauerstoff im Verhältnis 2:1?
Eine Beschreibung würde lediglich den Sachverhalt feststellen, dass Wasserstoff und Sauerstoff im Verhältnis 2:1 miteinander reagieren. Die Atomtheorie bietet eine Erklärung dieses Sachverhalts an, indem sie die zugehörige Warum-Frage beantwortet: Das Verhältnis beträgt 2:1, weil sich zwei Atome Wasserstoff mit einem Atom Sauerstoff verbinden und dadurch, gemäß der Theorie der chemischen Bindung, den energetisch günstigsten Zustand einnehmen.
Warum kam es gestern um 10:20 Uhr in Mitteleuropa zu einer Sonnenfinsternis?
Den Gesetzen der klassischen Mechanik und dem Wissen über den Aufbau des Planetensystems folgend trat der Mond gestern in den Kernschatten der Sonne ein.
Innerwissenschaftliche Fragen: Bewusstsein und Geist
Im 1. Teil unserer Buchkritik haben wir festgestellt, dass die metaphysischen Voraussetzungen für wissenschaftliches Erklären prinzipiell nicht erklärt werden können. Dies gilt aber nicht notwendigerweise für innerwissenschaftliche Fragen, die Gegenstand aktiver und fruchtbarer Forschung sind. Dazu zählt die Frage nach der Entstehung von Leben, Geist und Bewusstsein:
„Eine fünfte Grenze der Naturwissenschaft besteht darin, dass sie Geist und Bewusstsein (neben der Problematik, die wir in Abschnitt 3.2 abgeleitet haben) prinzipiell nicht erfassen oder beschreiben kann.“ (ebd., 103) „Die Naturwissenschaft ist prinzipiell nicht in der Lage, das Geistige zu erfassen, zu beschreiben oder zu erklären. Wenn aber das Phänomen des Geistigen einfach eine Form des Physikalischen sein sollte, müsste es wie andere physikalische Sachverhalte auch mittels naturwissenschaftlicher Methoden prinzipiell erforschbar sein.“ (ebd., 166)
WIDENMEYER gibt also vor, bereits von vorn herein zu wissen, dass solche Phänomene wissenschaftlich niemals erklärt werden können. In den Abschnitten 3.2 („Naturalismus und Freiheit“), 5.1 („Prinzipielle Grenzen der Naturwissenschaft“) und 7.4 („Die Identitätstheorie“) führt er diverse Gründe für seine Auffassung an. Beispielsweise seien subjektive Bewusstseinsinhalte wie Empfindungen und Gedanken („Wahrnehmungsgegenstände“) von einer ganz anderen Qualität als neurophysiologische Prozesse (ebd., 99). Der Autor meint, selbst wenn wir alle möglichen Hirnprozesse rekonstruiert hätten, seien wir nicht in der Lage zu erklären, weshalb wir angenehme, unerfreuliche, schmerzhafte oder ähnlich gefühlvolle Empfindungen haben.
Popularisiert hat dieses sog. Qualia-Problem der Philosoph Thomas NAGEL in seiner berühmten Abhandlung What it is like to be a bat, in der er behauptet, die Neurophysiologie könne nicht herausfinden, wie es sich anfühlt, eine Fledermaus zu sein – selbst wenn wir genau wüssten, was im Gehirn einer Fledermaus vor sich geht (NAGEL 1974). An dieser Stelle soll nicht die immaterialistische Philosophie sensu NAGEL, WIDENMEYER & Co problematisiert werden (wir werden in einem separaten Teil unserer Besprechungs-Reihe noch eingehend darauf zu sprechen kommen). Vielmehr wollen wir das Argument auf einer grundsätzlicheren Ebene kritisieren.
Zwei Kritikpunkte sind erwähnenswert. Erstens: Selbst, wenn die umstrittene metaphysische Annahme belegt wäre, dass das Phänomen des Geistigen nicht und niemals auf neurobiotische Vorgänge reduzierbar sei (eine These, die man vertreten kann aber nicht muss), folgt daraus noch lange nicht, dass ein Gott bei der Entstehung von Bewusstsein seine Hände im Spiel gehabt haben muss. Überdacht werden müssten lediglich die materialistischen Grundannahmen der Naturwissenschaften, nicht aber der Naturalismus selbst, den es, wie Thomas NAGEL beweist, auch in einer immaterialistischen Variante gibt. Nach NAGELs Auffassung ist das Geistige lediglich eine weitere Grundeigenschaft der Welt, aber kein Hinweis auf eine Gottheit. Schlimmer noch: WIDENMEYER scheitert erneut an seinem Anspruch, eine intelligiblere Lösung präsentieren zu wollen als den Naturalismus: Auch aus immaterialistischer Sicht ist die Existenz des Geistigen nur eines von unendlich vielen facta bruta, das sich nicht dadurch auflösen lässt, indem man „Gott“ als den Urheber des Geistigen betrachtet. Gott wäre ja am Ende selbst eine geistige Entität, würde also die Existenz des Geistigen schon voraussetzen, ohne sie selbst zu erklären!
Zweitens: Auch wenn die Frage nach den neuronalen Mechanismen zur Bildung bewusster Erlebnisinhalte im Gehirn derzeit als ungelöst betrachten muss, sind die Entstehung hochevolvierter Gehirne (durch sexuelle Reproduktion) und konkreter Wahrnehmungsinhalte (etwa beim Lernen) beliebig oft reproduzierbare Phänomene. Demnach ist es wohl begründet anzunehmen, dass der Entstehung des Geistigen differenzierte (materielle) Mechanismen zugrunde liegen, mit denen im Prinzip konkrete Erlebnisinhalte erklärt werden können.[3] Die Behauptung, Geist und Bewusstsein seien aus naturwissenschaftlicher Perspektive analyseresistente Phänomene, entpuppt sich aus diesem Blickwinkel als voreilige metaphysische Annahme.
In Anbetracht der Tatsache, dass die Hirnforschung noch eine sehr junge Disziplin und zudem extrem progressiv in ihrer Entwicklung ist, ist diese Annahme nicht nur heuristisch fruchtlos, sondern auch methodologisch nicht zu rechtfertigen. Denn dadurch wird einer natürlichen Erklärung vorgegriffen, implizit sogar jede Forschungsanstrengung für unfruchtbar erklärt, um einen „Designer“ als „Erklärung“ einzuschieben. Der Wissenschaftstheoretiker Philip KITCHER (2008, 432) bezeichnet ein derartiges Verhalten als pseudowissenschaftlich, weil es der Erkenntnisstrategie der Naturwissenschaften zuwiderläuft; nach seiner Auffassung wäre es nur dann gerechtfertigt, wenn in den Wissenschaften Erkenntnisgrenzen sichtbar wären, bildlich gesprochen ein Tor mit der Aufschrift: „Weitergehen unmöglich!“ Aber ein solches Tor kann es aus erkenntnistheoretischen Gründen nicht geben.
Der Versuch, eine Grenze der Erkenntnis in der Wissenschaft zu ziehen, scheitert laut WITTGENSTEIN daran, dass man dazu wissen müsste, was man nicht wissen kann. In der Philosophie hat sich in den letzten Jahrhunderten nämlich eine Erkenntnis klar herausgeschält: Letztbegründungen, also die Rückführung von Geltungsansprüchen hinsichtlich Wahrheit und Gewissheit auf letzte sichere Grundlagen, sind nicht möglich. Folglich können wir auch niemals wissen, ob es z.B. bezüglich der Entstehung von Bewusstsein eine prinzipielle Erklärungsgrenze gibt. DITTMAR (2013, 2) schreibt dazu:
„Man kann der Wissenschaft keine prinzipiellen Grenzen ziehen, weil das Unternehmen darauf abzielt, die Grenzen des Wissens permanent, systematisch zu erweitern. Die Behauptung, es gäbe etwas, was prinzipiell jenseits des Horizonts liegt, ist identisch damit, dass man vorgibt, zu wissen, was man nicht weiß."
Hier greift wieder das im 1. Teil der Buchbesprechung zitierte Argument des australischen Philosophen John Leslie MACKIE (1985, 230): WIDENMEYER kann nur aufgrund seines Glaubens behaupten, die Entstehung von Bewusstsein sei prinzipiell unerklärbar, womit er etwas voraussetzt, was er nicht beweisen kann, denn aus dem „Ignoramus“ folgt kein „Ignorabimus". Die Aussage Ignoramus et ignorabimus (lat. „Wir wissen es nicht und wir werden es niemals wissen“) geht auf den Physiologen Emil DU BOIS-REYMOND zurück, der sich den Erklärungsansprüchen der Naturwissenschaften gegenüber skeptisch zeigte. Abb. 4 (links) listet einige Probleme auf, von denen DU BOIS-REYMOND meinte, sie seien grundsätzlich unlösbar und solche, die seiner Ansicht nach zwar noch nicht gelöst sind, in der Zukunft aber prinzipiell lösbar seien. Da die Naturwissenschaft ein florierendes Unternehmen ist, wurden in der Vergangenheit immer wieder falsche Erkenntnisgrenzen gezogen. So meinte der französische Mathematiker CAUCHY 1811, der Erdkern und die Bodenbeschaffenheit ferner Sonnen seien grundsätzlich unerforschbar. Der Mathematiker August COMTE hielt 1830 den chemischen Aufbau der Fixsterne für nicht klärbar, und noch im Jahr 1957 behauptete der US-amerikanische Physiker und Radiotechniker Lee DE FOREST, der Mond sei für alle Zeit unerreichbar (Abb. 4, rechts).
Abb. 4 Links: Lösbare und prinzipiell unlösbare Probleme nach DU BOIS-REYMOND. Rechts: Irrtümlich postulierte Erklärungsgrenzen. Quelle: © Bernulf KANITSCHEIDER.
Angesichts der systematischen Fehlprognosen ist es entweder intellektuelle Faulheit, ideologische Verbohrtheit oder schlicht eine Torheit zu meinen, die Naturwissenschaften würden gerade vor dem Problem der Entstehung von Bewusstsein zum Stillstand kommen. Auszuschließen ist dergleichen nicht; vielleicht werden wir nie erfahren, wie Bewusstsein entsteht. Nur wissen können wir das nicht von vornherein. Fazit: WIDENMEYER zieht hinsichtlich der Entstehung des Bewusstseins eine Erklärungsgrenze, lange bevor die noch junge Disziplin der Neurophysiologie den Naturalismus konsequent ausschöpfen konnte – und darum ist seine supranaturalistische „Lösung“ rational gesehen… keine Lösung.
Zusammenfassung
Des Autors Kritik am Naturalismus beruht teils auf der Behauptung, die Universalitätsannahme, wonach es in allen Bereichen der Welt „mit rechten Dingen“ zugeht und schon immer zuging, sei nicht erwiesen. Hier wird übersehen, dass das Universalitätsprinzip als Nullhypothese der Realwissenschaften zwar nicht mit mathematischer Strenge beweisbar, aber anhand vieler Beispiele belegbar und bis heute nicht widerlegt worden ist. Zwar kann man beliebige Metaphysiken konstruieren, in denen das Universalitätsprinzip nicht gilt. Solche Gedankenspiele sind aber nur dazu da, bestimmte Weltbilder zu retten, die ohne sie widerlegt sind. Sie können prinzipiell nie an der Beobachtung scheitern und sind daher nicht intellektuell vertretbar.
Im Weiteren behauptet WIDENMEYER, die Naturwissenschaften seien nicht dazu fähig, innerwissenschaftliche Sachverhalte zu erklären, vielmehr würden sie diese lediglich beschreiben. Eine „echte", abschließende Erklärung böte nur der Supranaturalismus an. Abgesehen davon, dass der Autor die methodologisch klar definierten Operationen der Beschreibung und Erklärung miteinander vermengt und verwechselt, benutzt er ein unbrauchbares Beispiel, um seine Behauptung zu untermauern, da sein Beispiel den Naturalismus nicht übersteigt, wogegen er auf metaphysischer Ebene als Erklärung nur Magie anbietet. Ein Beispiel: Um die Herkunft von Geist und Bewusstsein zu „erklären", wird auf „Gott“ verwiesen. Da aber Gott selbst eine geistige Entität wäre, würde er die Existenz des Geistigen schon voraussetzen, ohne sie zu erklären! Außerdem wird nicht gesagt, wie Gott Geist und Bewusstsein in Menschengestalt hervorgebracht haben soll. Sämtliche Verweise auf das Wirken Gottes sind gleichbedeutend mit dem Verweis auf Zauberei, wodurch nichts erklärt wird. Die vermeintliche Alternative zum Naturalismus entpuppt sich einmal mehr als Schein-Alternative.
Wenig überzeugend ist auch der Versuch, die Entstehung des Geistigen aus naturwissenschaftlicher Perspektive als analyseresistentes Phänomen darzustellen. Zum einen bietet WIDENMEYERs Metaphysik nicht einmal einen Erklärungsansatz, geschweige denn eine intelligible Lösung für das Problem des Geistigen an. Zum anderen scheitert der Versuch, innerwissenschaftlich eine prinzipielle Grenze der Erkenntnis zu ziehen, laut WITTGENSTEIN daran, dass man dazu wissen müsste, was man nicht wissen kann. Der Autor zieht den naturalistischen Naturwissenschaften eine Grenze, lange bevor die noch junge Disziplin der Neurophysiologie den Naturalismus konsequent ausschöpfen konnte. Dadurch wird einer natürlichen Erklärung vorgegriffen, implizit sogar jede Forschungsanstrengung für unfruchtbar erklärt, um eine Gottheit als Pseudo-Erklärung einzuschieben. Und darum ist seine supranaturalistische „Lösung“ rational gesehen keine Lösung, sondern ein religiös motivierter Hemmschuh für die Forschung: das altbekannte argumentum ad ignorantiam.
Doch selbst wenn die umstrittene metaphysische Annahme belegt wäre, dass das Phänomen des Geistigen niemals auf neurobiotische Vorgänge reduzierbar sei, folgt daraus noch lange nicht, dass ein Gott bei der Entstehung von Bewusstsein seine Hände im Spiel gehabt haben muss. Überdacht werden müssten lediglich die materialistischen Grundannahmen der Naturwissenschaften, nicht aber der Naturalismus selbst, den es, wie Thomas NAGEL beweist, auch in einer immaterialistischen Variante gibt. Nach NAGELs Auffassung ist das Geistige lediglich eine weitere Grundeigenschaft der Welt, aber kein Hinweis auf eine Gottheit.
Dipl.-Ing. Martin Neukamm ist Chemie-Ingenieur an der TU München und geschäftsführender Redakteur der AG Evolutionsbiologie im Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland. Er ist Herausgeber mehrerer Bücher darunter „Darwin heute: Evolution als Leitbild in den modernen Wissenschaften“.
Hier geht es zu: Besprechung des Buches „Welt ohne Gott“ - Teil 3
Literatur
DITTMAR, V. (2013) Prinzipielle Grenzen der Naturwissenschaft? www.ag-evolutionsbiologie.net/pdf/2013/Prinzipielle-Grenzen-der-Naturwissenschaft.pdf
KITCHER, P. (2008) Darwins Herausforderer. Über Intelligent Design oder: Woran man Pseudowissenschaftler erkennt. In: RUPNOW, D. et al. (Hg.) Pseudowissenschaft: Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte. Suhrkamp-Verlag, Berlin, 417–433.
MACKIE, J.L. (1985) Das Wunder des Theismus. Argumente für und gegen die Existenz Gottes. Reclam-Verlag, Stuttgart.
MAHNER, M. (2002) Erklärung. Naturwissenschaftliche Rundschau 55, 173–174.
MAHNER, M. (2007) Intelligent Design und der teleologische Gottesbeweis. In: KUTSCHERA, U. (Hg.) Kreationismus in Deutschland. Lit-Verlag, Münster, 340–351.
NAGEL, T. (1974) What Is It Like to Be a Bat? The Philosophical Review 83, 435–450.
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VOLLMER, G. (2009) Wir irren uns empor. Zur wissenschaftlichen Methodologie In: DRESLER, M. (Hg.) Wissenschaftstheorie und -praxis: Anspruch und Alltag empirischer Erkenntnisgewinnung. Hirzel-Verlag, Stuttgart, 57–65.
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Fußnoten
[1] Derselbe Effekt der Massenträgheit macht sich in einem rotierenden Karussell bemerkbar: Wir spüren eine Kraft („Zentrifugalkraft“), die uns scheinbar „nach außen drückt".
[2] NEWTON selbst war zwar noch kein Naturalist, aber seine Physik legte den Grundstein für die Naturalisierung bei der Erklärung der Strukturen der Welt. Zum einen genießt seine Mechanik gegenüber der Physik des ARISTOTELES den Vorzug der universellen Geltung: NEWTON konnte zeigen, dass die Mondbewegung eine Trägheitsbewegung ist, und dass die Kraft, die den Mond in seiner Umlaufbahn hält, auch Körper zu Boden fallen lässt. Andererseits überlegte sich NEWTON, ob das Planetensystem langzeitstabil sei und meinte, dass sich Resonanzen aufschaukeln könnten und das Sonnensystem somit einer transzendenten (übernatürlichen) Regulierung bedürfe. LAPLACE konnte auf Grundlage der NEWTONschen Physik aber zeigen, dass sich die Störungen in 1. Näherung wegdämpfen, sodass sich der Kosmos über weite Bereiche deterministisch verhält. (Bekannt geworden ist LAPLACEs Ausspruch an NAPOLEON: „Gott? Diese Hypothese, Sire, benötige ich nicht.“) So stützte NEWTONs Physik die Annahme, dass Stern- und Planetenkonstellationen, Sonnenfinsternisse, das Auftauchen von Kometen und dgl. nicht Ausdruck göttlicher Launen sind, keine Vorboten für kommende Ereignisse, sondern naturgesetzlich erzwungen und unbeeindruckt von menschlichen Schicksalen, Hoffnungen und Gebeten.
[3] So ist es mithilfe bildgebender Verfahren wie der funktionellen Kernspin-Resonanztomografie schon möglich, die Aktivitätsmuster im Gehirn zu bestimmen und anhand dieser bestimmte Emotionen und Gedanken zu visualisieren. Somit können, wenn auch noch eher deskriptiv, anhand der neuronalen Aktivitätsmuster von Probanden auf deren Gefühle und Gedanken zurück geschlossen werden. WIDENMEYERs These der naturwissenschaftlichen Analyseresistenz von Wahrnehmungsinhalten steht auf sehr wackligen Beinen.
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