Inmitten der turbulenten Debatte über Religion ist ein Faktum mit weitreichenden Folgen fast vollständig untergegangen: Dass nämlich die zugrunde liegenden Mythen einiger der am weitesten verbreiteten Religionen Szenen körperlicher Züchtigung, Aussetzung und Vernachlässigung aus der Kindheit nachzeichnen.
Angesichts der Tatsache, dass die Hauptreligionen dieser Erde aus historischen Kontexten stammen, in denen missbräuchliche und traumatisierende Praktiken der Aufzucht an der Tagesordnung waren, sollte uns das Vorhandensein solcher Szenen vielleicht gar nicht weiter wundern. Von allen Religionen, die heutzutage in großem Umfang praktiziert werden, treten jene traumatischen Szenen am offensichtlichsten, durchdringendsten und oberflächennächsten in den Mythen des Christentums zutage – daher liegt darauf der Fokus unseres Artikels. Diesen beginnen wir mit der Durchsicht historischer Belege körperlicher Züchtigung in Europa und vor allem in der altertümlichen Welt, aus der das Christentum erwuchs, um dann zu einer Erforschung der Art und Weise, wie sich Szenen aus Kindheitstraumata in christlicher Mythologie widerspiegeln, voranzuschreiten. Zum Abschluss werde ich einige Gedanken darüber äußern, wie diese Erkenntnisse gerade für Anhänger von Atheismus, Rationalismus und Humanismus von Wert sein könnten.
Auch wenn das Patriarchat in vielen Kulturen die vorherrschende soziale Organisationsstruktur war, so war es im alten Rom, welches den unmittelbarsten Schauplatz des Verfassens des Neuen Testaments darstellt [1], außergewöhnlich explizit und scharf definiert, ein zentrales Element der Römischen Gesetzgebung, Ethik und Selbstwahrnehmung ausmachend. Indem wir zwei Quellen aus dieser Zeit über patria potestas („väterliche Mächte“), die im Römischen Reich sowohl für die Gesetzgebung als auch für die Identitätsstiftung von zentraler Bedeutung waren, betrachten, können wir Einsichten darüber gewinnen, wie jenes patriarchalische Umfeld Kinder beeinflusst hat. Dionysios aus Halicarnassos, ein Griechischer Rhetoriklehrer, der in den Jahren von 30 bis 8 vor Christus in Rom lebte, schrieb folgendes:
Der Begründer des Römischen Gesetzwesens gab dem Vater uneingeschränkte Macht über seine Söhne. Diese Macht solle bis zum Tode des Vaters anhalten. Er darf ihn einsperren oder schlagen, in Ketten legen und ihn zur Landarbeit schicken oder ihn sogar hinrichten. [2]
In seinem einflussreichen Lehrbuch der Römischen Rechtssprechung des zweiten Jahrhunderts nach Christus beschreibt Gaius, wie die gleichen Regeln sowohl auf Sklaven, als auch auf Kinder zutrafen:
Manche Leute sind rechtlich unabhängig, andere sind in Besitzverhältnisse verflochten. Von jenen, die in Besitzverhältnisse verflochten sind, sind manche Gewalt („potestas“) unterworfen. [...] Sklaven sind der Gewalt ihrer Meister unterworfen. Diese Gewalt basiert auf universellem Recht, denn in allen Völkern kann beobachtet werden, dass Meister über Leben und Tod ihrer Sklaven entscheiden. Ebenfalls unserer Macht unterworfen sind all unsere Kinder, die Nachwuchs aus legitimer Heirat darstellen. Dies Recht ist ein Alleinstellungsmerkmal für Römische Bürger, denn fast keine anderen Völker haben eine solche Macht über ihre Kinder wie wir. [3]
Diese zwei Zitate sind für uns besonders wichtig, da sie chronologisch den etwa einhundertjährigen Zeitraum (ca. 50 bis 150 n. Chr.) umspannen, in welchem so gut wie alle Bücher des Neuen Testaments verfasst wurden.
Zentrales Motiv der Sagenwelt des Neuen Testaments
Während die Hinrichtung von Kindern durch Väter wahrscheinlich sehr selten war, kam die grobe körperliche Züchtigung von Kindern, besonders Söhnen, häufig vor und ist durch viele Quellen belegt. Es folgen, ungefähr chronologisch angeordnet, einige Beispiele. „Rhetorica ad Herennium“ (erstes Jahrhundert vor Christus) empfiehlt Eltern und Lehrern, „die Kleinen mit besonderer Härte körperlich bestrafen“ (4.17.25), um sie für ein tugendhaftes Leben zu formen. Cicero (106 – 43 vor Christus) deutet an, dass Jungen von Vätern, Müttern, Großvätern und Lehrern geschlagen werden dürften [4]. Seneca (3 v. Chr – 65 n. Chr.) erklärt, dass Kinder mit der gleichen Begründung geschlagen würden wie Tiere, „damit der Schmerz ihre Eigensinnigkeit überwinde“ (De Constantia Sapientis 12.3). Seneca meint auch, dass die Rolle des Vaters im Gegensatz zur nährenden Rolle der Mutter primär disziplinär sei (De Providentia 2,5). Quintilian (35 – 95 n. Chr.) deutet an, dass römische Kinder während des Schlagens derartig in Panik gerieten, dass sie die Kontrolle über ihre Blase verloren. „Wenn Kinder geschlagen werden“, so schreibt er, „haben der Schmerz und die Furcht oft Konsequenzen, von denen man nicht gerne spricht und die später eine Quelle der Scham sein werden.“ (Institutio Oratoria 1,3,16). Der medizinische Gelehrte Galen (130 – 200 n. Chr.) macht deutlich, dass körperliche Disziplinierung in der frühen Kindheit beginnen könne: Sobald Kinder ein Alter von etwa einem Jahr erreichten, könnten sie „unter Verwendung von Hieben, Drohungen, Tadel und Verwarnungen gefügig gemacht werden“ (Oribasius, Libri incerti, 17). Das Neue Testament selbst versichert, dass wenigstens legitime, männliche Kinder von Vätern tatsächlich durchgängig körperlich bestraft wurden. Der Brief an die Hebräer, der ca. 65 n. Chr. verfasst wurde und Römische Kulturstandards widerspiegelt, besagt platt, dass „alle“ Söhne bestraft würden und fragt dann, „was für eine Art von Sohn ist der, dessen Vater nicht körperlich bestraft?“ – und antwortet: „Wenn ihr nicht körperlich bestraft werdet, […] so seid ihr Bastarde und keine Söhne“ (Hebräer 12,7-8). Vermutlich gab es unter Juden ähnliche Richtlinien, wie auch in vielen anderen Kulturen. Beispielsweise schrieben Philon und Josephus, die beiden wichtigsten jüdischen Quellen des ersten Jahrhunderts, fürsprechend über mosaische Gesetzgebung, nach der Delikte gegen die eigenen Eltern zu Kapitalverbrechen werden. Bezüglich Bestrafung von normaler kindlicher Ungehorsamkeit wurden die wohlbekannten Argumente á la „Wer die Rute schont...“ aus der hebräischen Weisheitsliteratur, insbesondere aus dem Buch der Sprichwörter und dem Buch Sirach, mit ziemlicher Sicherheit angewandt [5]. Obwohl der größte Teil unseres Brennpunkts in diesem Artikel auf der frühen Entwicklungsphase des Christentums, in der die Bücher des Neuen Testaments verfasst wurden, liegt, so ist die Feststellung wichtig, dass ähnliche Muster der körperlichen Bestrafung in der Geschichte der westlichen Welt durchgängig bestanden und leider oftmals bis in die Gegenwart anhalten.
Während wir jene im Altertum sesshaften Muster der körperlichen Bestrafung der in der Kindheit, und besonders das stereotypische, durch von Vätern zur Erzwingung der Gehorsamkeit geprägte, im Kopf behalten, mögen wir nun den Schriftkörper des Neuen Testaments betrachten, wobei wir sowohl die zentralen theologischen Erzählstränge als auch die hauptsächliche Erlösungslehre inspizieren.
Ein zentrales Motiv der Sagenwelt des Neuen Testaments ist das körperliche Leid des Sohnes Jesus im Einklang mit dem Willen seines (himmlischen) Vaters. Es folgen einige Beispiele. Gemäß Paulus hat Gott, der Vater „seinen Sohn nicht geschont, sondern ihn für unsere Gemeinschaft aufgegeben“ [Römer 8:32]. Im Evangelium nach Johannes weist Jesus Petrus zurecht, als dieser die Festsetzung von Jesus durch die Römer verhindern will: „Soll ich nicht den Becher austrinken, den mein Vater mir gegeben hat?“ [18:11] Der Becher steht natürlich für das Leid, von dem Jesus weiß, dass es ihm bevorsteht. Im selben Evangelium macht Gott, der Vater, seine unmittelbare Beteiligung an der Kreuzigung deutlich, indem er als „eine Stimme aus dem Himmel“ spricht [12:27-28]. In der Apostelgeschichte des Lukas steht, dass Jesus „gemäß des ausgearbeiteten Planes und der Voraussicht Gottes ausgehändigt“ wurde [Apg 2:23]. Tatsächlich legt die Apostelgeschichte des Lukas explizit dar, dass alle Menschen, die an der Kreuzigung teilnahmen, lediglich Vermittler waren, die von Gott, dem Vater „versammelt worden waren“ um seinen Plan in die Tat umzusetzen [Apg 4:27-28]. Indem das Neue Testament den himmlischen Vater als die Quelle des Leids seines Sohnes darstellt, folgt es dicht der tatsächlichen historischen Umgebung gewöhnlicher Kinder, und besonders Söhnen, im Altertum.
Des Weiteren spiegelt die Doktrin des Neuen Testaments auch das psychologische Innenleben des Kindes wider. In Getsimani kämpft Jesus mit Gedanken, die seinen bevorstehenden Leidensweg betreffen. Nach den Evangelien des Matthäus und Markus ist Jesus „sehr betrübt, dem Tode nahe.“ Dem Evangelium nach Lukas zufolge durchlebt Jesus „Todesqualen“ [22:44]. Gemäß dem Brief an die Hebräer stößt Jesus „unter Tränen laute Schreie“ aus [5:7]. In Reaktion auf diese verheerenden und verzweifelten Aufwühlungen fleht Jesus Gott, den Vater, an, einzulenken: „Vater, Deine Macht ist unbegrenzt. Entferne diesen Becher aus meinem Angesicht“ [Markus 14:35-36, Matthäus 26:39, Lukas 22:42]. Diese Darstellung eines Sohnes ist nebenläufig zu der morbiden Gefühlslage und dem inständigen Flehen von normalen Kindern, wenn sie körperlicher Züchtigung ausgesetzt sind. Am Schluss gibt sich Jesus mit den Worten „Vater, […] nicht nach meinem, sondern nach Deinem Bestimmen“ [Markus 14:36, Matthäus 26:39, Lukas 22:42] seinem Schicksal hin – eine Haltung der kindlichen Unterwerfung ganz ähnlich derjenigen, die körperlich gezüchtigten Kindern seit undenklichen Zeiten aufgezwungen wurde. Also haben wir in der Gestalt des Jesus eine fast makellos gefertigte mythologische Nachbildung der äußeren Umstände, der emotionalen Zustände, des Reaktionsverhaltens und schließlich des herbeigeführten Zusammenbruchs des körperlich gezüchtigten Kindes gefunden.
Das Kind wird für seinen Ungehorsam bestraft
Ähnlich beinhaltet das Neue Testament auch Kindheitsängste vor einem bestrafenden Vater. Im Evangelium nach Lukas sagt Jesus über Gott, den Vater: „Ich werde euch weisen, wen ihr fürchten solltet: Fürchtet den, der die Macht hat, jemanden in die Hölle zu senden, nachdem er ihn getötet hat; ja, ich sage euch, fürchtet ihn!“ Der Brief des Paulus an die Epheser [2:2-3] legt dar, dass in Gott als Erwiderung auf den Ungehorsam der Menschenkinder Rachegefühle aufsteigen. Ganz zu Beginn eines der frühesten schriftlichen Dokumente des Christentums, des ersten Paulusbriefs an die Thessalonicher (etwa 50 n. Chr.) sieht man, welch zentrale Rolle Furcht bei frühen Bekehrungen zum Christentum gespielt hat: So stiegen die Thessalonicher in Erwartung von „Jesus, der uns vor der aufziehenden Rache bewahrt“ [1 Thess 1,9-10] von Idolen auf Gott um. Fast dreieinhalb Jahrhunderte später stellt Augustin fest: „Äußerst selten, nein – nie geschieht es, dass jemand, den keinerlei Furcht vor Gott überfiel, uns aufsucht mit dem Wunsch, Christ zu werden“ (Vom ersten katechetischen Unterricht, 5.9). Diese hervorstechenden Aussagen scheinen ein helles Licht auf den Zeitgeist, aus dem der Nährboden des frühen Christentums bestand; ein Nährboden, der von einer Furcht vor dem Vater, die mit Leichtigkeit in theologische Gefilde versetzt wurde, durchsetzt scheint.
Auch in der bedeutendsten und offensichtlichsten Heilslehre des Neuen Testaments finden sich bemerkenswerte Parallelen zu der durchschnittlichen Kindheit. Zwar gibt es für die Bestrafung von Kindern eine Fülle unmittelbarer Anlässe, die von den jeweiligen Umständen und der durch das Kind nicht erfüllten Anforderung der Eltern abhängen. Aber der tiefer liegende Anlass ist allgemeingültig sowie einförmig: Das Kind wird für seinen Ungehorsam bestraft. Der Wesenskern von kindlichen „Verbrechen“ heißt Ungehorsam. Umgekehrt ist stattdessen Gehorsamkeit die wesentliche und verlangte Methode, Bestrafung zu entgehen beziehungsweise die Eskalation von Bestrafungen abzuwenden. Die theologische Entsprechung ist offensichtlich: Ungehorsam, nämlich der Sündenfall Adams im Garten Eden, führt zur Bestrafung der Menschen von Seiten einer Vaterfigur; andererseits führt Gehorsam gegenüber dem Vater – hier die verhaltens- und einstellungsmäßigen Gegebenheiten bei Jesus – zur Erlösung. Der Paulusbrief an die Römer, der zu einem Grundbaustein des Christentums werden sollte, bringt dies Konzept am deutlichsten zum Ausdruck:
„Ebenso wie der Sündenfall des Menschen [Adam] zur Verdammung aller Menschen führte, so führt die rechtschaffene Tat des Menschen [Jesus] zu Vergebung und Leben aller Menschen. Denn ebenso wie der Ungehorsam eines Menschen viele zu Sündern machte, so machte der Gehorsam eines Menschen viele zu Rechtschaffenen.“ [Römer 5,18-19]
Man beachte, dass sowohl für ein Kind innerhalb einer Familie als auch für einen Gläubigen der von Paulus umrissenen Doktrin die Erlösung durch kindliche Gehorsamkeit, also die Gehorsamkeit des Kindes gegenüber dem Elternteil und insbesondere dem Vater bzw. Gott, erlangt wird. Diese Analogie wird in der Glaubenslandschaft des Christentums durch die Gleichsetzung der Menschen mit Kindern Gottes konkretisiert. Also sind sowohl in der gewöhnlichen Kindheit als auch in Christlichen Grundlehren bezüglich Verdammnis Kinder diejenigen, die einer Bestrafung durch eine Vaterfigur ausgesetzt sind. Noch offener tritt jene Analogie zutage, wenn man bedenkt, dass Adam, der als Ursprung des Ungehorsams angesehen wird, höchstselbst als der „Sohn Gottes“ [Lukas 3,38] angesehen wird und sein Sündenfall, wie auch von vielen Schriftgelehrten angemerkt wurde, einen speziell kindartigen Charakter aufweist [6]. Daher vollbringt der Schriftkörper der Bibel klarerweise eine Untermalung des Sündenfalls Adams durch eindeutig kindlichen Ungehorsam.
Als Erlösungsreligion versteht es das Christentum als seine zentrale Funktion, einen metaphysisch aufgebauten Prozess bereitzustellen, durch welchen die Gläubigen, die innerhalb ihrer mythischen Welt als Kinder repräsentiert sind, kindlichen Ungehorsam durch kindlichen Gehorsam ersetzen. In Stein gemeißelt wird dieses Endziel durch Ausdrucksweisen wie „sich selbst sterben lassen und in Christus wiedergeboren werden“, was heißen soll, dass man das inhärent ungehorsame Selbst abtötet und als das außerirdisch gehorsame Kind Jesus wiedergeboren wird. Sobald man sich gewahr wird, dass Adam und Jesus jeweils Ungehorsam und Gehorsam verkörpern, treten die verdeckte Bedeutung und die psychologische Tragweite des christlichen Erlösungsweges hervor: Ihn zu beschreiten bedeutet, dem Gläubigen durch das Wiederauflebenlassen einer traumatischen Schlüsselszene der Kindheit in der übernatürlichen Neuausrichtung von einem Zustand des Ungehorsams hin zu einem des Gehorsams, einen Ausweg aus der Bestrafung zu bieten. Indem der eigene ungehorsame Kindheitscharakter geistig zurückgewiesen und durch den Charakter Jesu vollkommen gehorsam wird, wird vom Gläubigen, den wir als Kind interpretieren, versucht, Strafen zu entgehen; Strafen, die in der Kindheit leider im Lauf der Geschichte größtenteils unausweichlich waren, und die es leider oft noch immer sind.
Genau die gleichen Motive finden sich wieder im Ritualkonstrukt des Christentums (genauer im Sakrament), welches die jenem zugrundeliegende Heilslehre nachbildet und ihr Handlungscharakter verleiht. Im Zusammenhang mit der Tauflehre des Paulus, die das Untertauchen als ritualisierten Tod des überholten, absichtlich ungehorsamen und mit Adam identifizierten Ich und das Wiederauftauchen als neues Erwachen als oder mit dem völlig untertänigen Christkind stipuliert, zeigt sich dies am deutlichsten. In Wirklichkeit wird diese Abfolge von ritualisiertem Tod (des störrischen Kindheits-Ich) und Wiedergeburt (des neuen, gehorsamen Jesus-artigen Ich) häufig als spirituell mit der Kreuzigung und Wiederauferstehung von Jesus verbunden angesehen: Die Tötung des ungehorsamen Selbst wird mit der Kreuzigung Jesu identifiziert, während die Auferstehung Jesu mit der Geburt des neuen, gehorsamen Selbst einhergeht [Römer 6, 3-4]. An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass der Gläubige durch den Versuch, durch einen Glaubensprozess einen Persönlichkeitswandel vom ungehorsamen Adam weg hin zum gehorsamen Jesus zu vollziehen, ohne es zu wissen dieselbe innere Wandlung freiwillig ausführt, die ihm in der Kindheit unter Androhung von Strafe aufgezwungen wurde. Für jene, die sich mit den Wirkungsmechanismen und Symptomen psychologischer Traumata auskennen, sei noch angemerkt, dass jener Glaubensprozess als nach innen gerichtete und selbstverursachte Nachbildung vormals Erlittenem verblüffende Ähnlichkeiten zum Phänomen der Traumawiederholung aufweist.
Mechanismen in ihren Grundzügen bereits vor dreihundert Jahren erkannt
Grob gesagt zieht sowohl Erzählungen als auch Heilslehren umfassende religiöse Doktrin durch den von uns behandelten Mechanismus des Heraufbeschwörens von starken Kindheitserinnerungen. sowie eines gemeinsamen Kanons unverrückbarer Wahrheiten einzelne Intellekte und ganze Kulturen in ihren Bann. Es ist bemerkenswert, dass Susannah Wesley – eine fromme Gläubige und Mutter John und Charles Wesleys, den Begründern der methodistischen Kirche – diese Mechanismen in ihren Grundzügen bereits vor dreihundert Jahren erkannte. In einem Brief aus dem Jahre 1732 verleiht Susannah ihren Ansichten bezüglich körperlicher Züchtigung Ausdruck:
Ich insistiere, dass der Wille von Kindern bereits früh gebrochen werden muss, denn nur so kann man einer religiösen Erziehung eine robuste und verstandesmäßige Grundlage verschaffen, ohne welche nämlich weder Maßregelungen noch Vorleben von Wirkung sind. […] Noch einleuchtender wird dies, wenn wir zusätzlich bemerken, dass Religion nichts anderes ist, als statt unseres eigenen den Willen Gottes zu erfüllen. [7]
In diesem außergewöhnlichen Abschnitt stellt Wesley den Sachverhalt so dar, als sei die erzwungene Unterordnung unter den Willen des Elternteils eine notwendige Bedingung für die spätere Entwicklung eines um die Gottesfürchtigkeit herum aufgebauten Weltbildes. Wesley lebte in einer ganz anderen Zeit, und ihre Argumente dienten der Untermauerung einer Lobrede auf die körperliche Züchtigung. Aber dennoch sind die tiefgreifenden Erkenntnisse, die sie erlangte, mit den hier dargelegten fast deckungsgleich.
In der Geschichte der westlichen Kultur wurde die körperliche Züchtigung von Kindern durchweg als gut und notwendig angesehen. Ferner wurde das psychologische Schadenspotential selbst im Angesicht sehr ernster, potentiell lebensgefährlicher Praktiken höchstens vage und bruchstückhaft wahrgenommen. Der bewusste und wörtlich-kommunikative Umgang mit eigenen traumatischen Erfahrungen war in diesem kulturellen Umfeld wegen des Mangels an grundlegendem Verständnis dieser unmöglich. Allerdings war die durch das Christentum zur Verfügung gestellte Symbolsprache dazu in der Lage, diese Lücke zu füllen. Auf diese Weise konnte den der damaligen Zeit zugehörigen Erfahrungen und ihren Nachwirkungen im Erwachsenenalter, wenn auch indirekt und unzureichend, Ausdruck verliehen werden.
Dieselbe Logik kann auch auf die lange Geschichte der Kindesaussetzung und -vernachlässigung angewandt werden. Obwohl es den meisten Menschen wohl weniger bewusst ist als die Geschichte der körperlichen Züchtigung, wurde der Aussetzung und Vernachlässigung von Kindern durch die gesamte westliche Geschichte hinweg vom Altertum bis fast zur Gegenwart weite, gar flächendeckende Verbreitung zuteil. Was das Römische Reich anbetrifft, welches ja wie bereits dargelegt das unmittelbare Entstehungsumfeld des Neuen Testaments darstellt, so schätzt der späte Yale-Historiker John Boswell, dass von allen während der ersten drei Jahrhunderten nach Christus geborenen Kindern etwa 20 bis 40 Prozent ausgesetzt wurden [8]. Während des Mittelalters und der Neuzeit hielten hohe Aussetzungsraten an. In einem hauptsächlich das 18. und 19. Jahrhundert betreffenden Kontext bemerkt die Anthropologin Sahra Blaffer Hardy [9], dass in Europa nicht nur zehntausende oder hunderttausende, sondern Millionen Babys ausgesetzt wurden, und der Historiker und Anthropologe David Kerzer zeigte [10], dass im Europa des mittleren 19. Jahrhunderts jährlich mehr als hunderttausend Babys ausgesetzt wurden. Ferner waren auch verschiedene Arten der „zeitweiligen Aussetzung“ (wie etwa Babys bei Säugammen unterzubringen, junge Kinder in die Lehre zu schicken oder sie als Dienstmagd arbeiten zu lassen) genau wie die offensichtlichen Arten der körperlichen und emotionalen Vernachlässigung weitverbreitet.
In diesem Zusammenhang beachte man die Beschreibung des sogenannten Verlassenheitsrufs Jesu am Kreuz „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ [Matthäus 27, 46, Markus 15,34] durch die entsprechenden Evangelien. Dieser Ausruf wurde wörtlich aus Psalm 22 des Alten Testaments entnommen und im Neuen Testament mit einer Vater-Sohn-Beziehung in Zusammenhang gebracht. Es handelt sich nun nicht mehr um eine Klage eines Israeliten gen Gott, sondern um einen Sohn, der nach seinem Vater ruft – genau wie wir es von den zahllosen Kindern erwarten würden, die von ihren eigenen Vätern verlassen oder vernachlässigt wurden. Also finden sich sowohl körperliche Züchtigung als auch körperliche Bestrafung – zwei grundlegende Arten von Traumata – im Leidensweg Christi in großer Übereinstimmung mit den Leiden gewöhnlicher Kinder wieder. Diese Szene des Verlassenwerdens eines Kindes durch den Vater kann bei jemanden, der in der Kindheit vernachlässigt wurde (was ja selbst in heutigen Zeiten und Sitten noch allzu oft geschieht), großen Anklang finden. In der Vergangenheit, als Aussetzung weit verbreitet war, fiel die Resonanz vermutlich noch stärker aus.
Was wirklich die Triebfeder der zweitausend Jahre anhaltenden Aktivität des Christlichen Glaubens gewesen ist
Schließlich gibt es noch einen weiteren Bestandteil der christlichen Sagenwelt, der die Überzeugungskraft und die Tiefe dieser noch einmal aufstockt: Nämlich eine Umkehrung der tatsächlich erlittenen Traumata, welche die Traumata, die in der Realität erlitten wurden, rückgängig macht. Bei diesem Bestandteil handelt es sich um die Auferstehung Jesu Christi, die den verzweifelten Wunsch des Kindes versinnbildlicht, dass die erlittenen Qualen nicht wahrhaftig, anhaltend und nicht wieder rückgängig zu machen sind. So macht sich der Gläubige auf dem Wege der psychologischen Selbstgleichsetzung mit Jesus, die von Christen als die Teilhabe am Leben Jesu oder gar ein übernatürlicher Lebensbund verstanden wird, die Widerrufung des Leidens und der Einsamkeit Jesu zu eigen. Jenes kraftvolle Bild einer liebevollen, straffreien und für immer anhaltenden Wiedervereinigung von Vater und Sohn ist für diejenigen, denen aus ihrer diesseitigen Kindheit oft unverarbeitete Schocks, Sehnsüchte und nachwirkende Schicksalsschläge nachhängen, ebenso anziehend wie der Gesang der Sirenen. Es drängt sich mir der Verdacht auf, dass das Hochgefühl, welches für viele Erwachsene mit der Auferstehung Jesu Christi verbunden ist, dadurch erklärbar ist, dass diese im psychologischen Sinne eine Sehnsucht nach einer glücklichen Wendung eines unabänderbaren Geschehnisses der Kindheit erfüllt.
Es liefert also die Ideenwelt des Christentums dem Gläubigen mit der Kreuzigung, der Auferstehung und der daran eng angelehnten Heilslehre des Paulus eine erlebnisnahe mentale Wiederholung des ursprünglich erlittenen Traumas und eine Methode, es mental „rückgängig zu machen“ oder zu verhindern. Und obwohl diese Idee in ihren Grundzügen sehr unkompliziert ist, erklärt sie nicht nur, wie sich der Legendenkanon des Christentums aus dem Geist seiner Zeit heraus entwickeln konnte, sondern auch, was wirklich die Triebfeder der zweitausend Jahre anhaltenden Aktivität des Christlichen Glaubens gewesen ist. Wir haben somit die Gedanken, Gefühle und Handlungsweisen der Christenheit untersucht und gezeigt, wie sie sich auf die historisch dokumentierten Wirklichkeiten der diesseitigen Kindheit sehr genau abbilden.
Bevor wir ein Fazit ziehen, mögen wir noch kurz behandeln, wie sich aus Kindheitserlebnissen Legenden haben bilden können. Dies wird nämlich durch zwei Arten von Vorgängen erklärt, die vereinfacht als diejenigen, die innerhalb unseres Verstandes neue Ideen erzeugen, und diejenigen, die jene Ideen durch mitmenschliche Verständigung und Schrifttum in die Außenwelt einbringen beschreiben.
Für die erste Art solcher Vorgänge ist eine Fülle psychologischer Vorgänge von Bedeutung. Darunter fallen etwa die folgenden: (a.) Der (etwa in Redewendungen und Träumen zutagetretende) natürliche Hang des menschlichen Gehirns zur Generierung von Legenden, die tatsächliche Lebensumstände widerspiegeln; (b.) Die Verarbeitung frühkindlicher Erinnerungen, welche gewisse lang haltbare Erinnerungen zwar abspeichert, aber in „nicht-autobiographischer“ Form (d. h. dass sie zwar gespeichert werden, man sie aber nicht mit der eigenen Person in Verbindung bringt), sodass solche Gedankenfragmente auch in anderen Zusammenhängen an die Oberfläche kommen können; (c.) Die Zerlegung von traumatischen Erinnerungen in verschiedene Teile, gefolgt von der erneuten Zusammensetzung dieser Teile in Zusammenhängen, die mit dem ursprünglichen Zusammenhang verwandt sind; (d.) die „Übertragung“ von signifikanten Kindheitserinnerungen in ganz andere Erinnerungen, auch solche, die sich auf wesentlich später im Leben stattgefundene Ereignisse beziehen. Diese und andere Vorgänge waren und sind in alleinstehender oder kombinierter Form bei der Verwandlung von Kindheitserinnerungen in Legenden von grundlegender Bedeutung.
Die zweite Art von Vorgängen – jene, die neu entstandenen Gedanken zur Manifestation in zwischenmenschlicher Interaktion und im Schrifttum verhelfen – umfassen mindestens zwei wohlbekannte, vermutlich relevante Mechanismen: Offenbarungserfahrungen, wie jene, denen Paulus seine Kenntnis von Christus dem Evangelium zuschrieb, sowie die mündliche Überlieferung von Geschichten, durch welche auch die Legenden über Jesus weitergegeben wurden, bis sie schließlich, beginnend ungefähr im Jahr 70 n. Chr., in den Evangelien schriftlich festgehalten wurden. Eine Offenbarungserfahrung ist ein elementares Beispiel dafür, wie ein Gedanke, dessen Ursprung im eigenen Gehirn liegt, fälschlicherweise einer tatsächlich existierenden oder herbeiphantasierten äußeren Quelle zugeordnet werden kann. Ferner ist oft beobachtet worden, dass der Prozess der mündlichen Überlieferung für den Bedürfnissen und Wünschen der Überlieferer angepassten Abwandlungen hochgradig anfällig ist. Gemeinsam mit der ersten Art von Vorgängen, die im vorhergehenden Absatz beschrieben wurden, stellen Offenbarungserfahrungen und mündliche Überlieferungen für Kinderszenen eine gute Möglichkeit dar, ihren Weg in religiöse Traditionen und Texte zu finden; sogar in jene, die später in den Schriftkanon aufgenommen werden.
Schlussendlich möge man berücksichtigen, dass ich, auch indem ich beschreibe, wie der Gehalt des Christentums schlussendlich durch gleichnisbasierte und andere psychologische Vorgänge zustande kam, nicht behaupte, dass alle christlichen Lehren ohne jede Grundlage nur durch psychologische Prozesse entstanden sind. Stattdessen scheinen diese Lehren durch Abänderung, Vermischung und Neuzuordnung von bereits vorhandenen Teilstücken gewisser Kulturen und Religionen entstanden zu sein. Wir haben bereits gesehen, dass der Verlassenheitsruf Jesu in eine auf bestimmte, zielgerichtete Weise abgeänderte Version von Psalm 22 des Alten Testaments eingebettet ist. Als weiteres Beispiel möge Jesajahs Figur eines leidenden Dieners dienen [z. B. Jesajah 53], der von vielen Gelehrten als literarisches Vorbild für gewisse Aspekte des Jesus des Neuen Testaments angesehen wird. Jesajah beschreibt diesen Diener als irgendein rechtschaffenes, unschuldiges Individuum, dem von Gott Leid zugefügt wird. Im Neuen Testament hat sich der Diener dann in einen Sohn verwandelt, dem von einem Vater Leid zugefügt wird, was die tatsächlichen Erfahrungen von Kindern in der Entstehungszeit des Neuen Testaments genauer wiedergibt. Es könnten noch zahlreiche weitere Beispiele angegeben werden. Somit können wir feststellen, dass bestimmte Arten von Kindheitstraumata innerhalb eines kulturellen Umfelds als „ordnende Kraft“ auf die Zusammenstellung mythischer Inhalte wirken, indem aus den verfügbaren Quellen auf sie zutreffende und mit ihnen anklingende Inhalte entworfen werden.
* * *
Ich hoffe, dass ich die logischen sowie die empirischen Belege für meine Theorien nun überzeugend dargelegt habe. Im Anbetracht der Tatsache, dass das Christentum die Literatur, die Philosophie, die Kunst, die Architektur, die Politik- und Militärgeschichte sowie den Alltag des Abendlandes durchdringt, kann die Relevanz der geschilderten Ideen für Kultur und Wissenschaft schwerlich zu hoch eingeschätzt werden. Tatsächlich legen die oben geschilderten Gedanken nahe, dass Kindesmissbrauch die Kultur weltweit geprägt und zum Teil sogar erschaffen hat.
Von ihrer allgemeinen Wichtigkeit abgesehen könnten aus den dargelegten Thesen gerade Atheisten, Rationalisten und Humanisten wertvolle Einsichten gewinnen. Einige von diesen möchte ich zum Abschluss des Artikels umreißen.
1. Schlagkräftigere naturalistische Erklärungen des Phänomens Religion.
Viele naturwissenschaftliche Erklärungsansätze für die Existenz von Religionen basieren auf abstrakten, idealisierten Modellen von Religionen und können zu den spezifischen Merkmalen, welche eine Religion in ihrer Gesamtheit ausmachen, wenig aussagen. Die hier dargelegten Gedanken können hingegen dabei helfen, jene Merkmale zu erklären, indem eine paarweise Korrespondenz zwischen religiösen Leitgedanken und wohlbekannten sozialen menschlichen Verhaltensmustern, besonders aus dem die verstandesmäßigen und gefühlsmäßigen Denkmuster prägenden Kindheitsabschnitt, aufgezeigt wird. Sie sind universell anwendbar und kompatibel mit einer ganzen Reihe von Ansichten auf den Ursprung der Christenheit. So setzen sie etwa keine feste Meinung voraus zu den Fragen, ob sich hinter den im Neuen Testament hervortretenden Schichten der Mythisierung ein „historischer Jesus“ verbirgt, oder ob ein solcher überhaupt je existiert hat. Innerhalb evolutionärer Modelle weisen sie ferner auf einen bedeutsamen und bisher größtenteils ignorierten Selektionsdruck hin, der die Entwicklung, die Überlebenschancen und die Verbreitung religiöser Gedanken innerhalb bzw. zwischen Kulturen beeinflussen kann.
2. Vertieftes Verständnis der psychologischen Gründe des Glaubens.
Diskussionen zwischen Gläubigen und Atheisten kreisen meist um Fragen über historische Wahrheiten. Es ist daher verständlich, wenn Rationalisten davon ausgehen, dass ein religiöses Weltbild letztlich in sachlichen Irrtümern seinen Ursprung hat. Meine Ansätze heben stattdessen die intensiven Gefühle sowie die Lebensumstände hervor, die möglicherweise einem Glauben zugrunde liegen, ihn verursachen, oder die Fehleinschätzungen des Gläubigen vor Korrekturversuchen abschirmen. Dieser Artikel ruft allen Atheisten, die sich die verständnisvolle Weitergabe humanistischen Gedankenguts an Gläubige auf die Fahnen geschrieben haben, ins Bewusstsein, dass sachliche Irrtümer nur die Spitze des Eisbergs eines religiösen Komplexes sein könnten.
3. Offenlegung der Ursprünge religiös gearteter Traumatisierung.
Richard Dawkins hat mehrfach schlagfertig und eloquent deutlich gemacht, dass bestimmte Glaubensinhalte wie etwa die christliche Hölle die Durchschlagskraft haben, Kinder nachhaltig zu traumatisieren. Das hier geschilderte Gedankengut soll dabei helfen, solch traumatisierende Elemente des Christentums besser zu verstehen und sie in den rechten Zusammenhang zu rücken. Es macht deutlich, dass hier Traumata zugrunde liegen, nämlich dass historisch verbreitete Formen der körperlichen Bestrafung in einem paternalistischen Kontext letztlich die Betonung der Bestrafung durch Gottvater durch die christlichen Lehren erklären. An dieser Stelle sollte ich darauf hinweisen, dass andere Wissenschaftler, wie etwa der Sozialhistoriker Philip Greven, das Zusammenhängen von körperlicher Bestrafung in der Kindheit mit der Furcht vor Höllenfeuer eingehend beschrieben haben (siehe z. B. sein Werk „Spare the Child“ [dt. „Schone das Kind“]); diejenigen, die solche Konzepte besser verstehen möchten, sollten sich mit dieser Literatur auseinandersetzen.
4. Erhöhtes Verständnis für die Menschlichkeit, die wir alle teilen.
Im Anbetracht des wenigstens in den Vereinigten Staaten, wo das Christentum noch immer die Oberhand hat, heute vorherrschenden Zeitgeistes sowie des großen Schadens, den gewisse religiöse Lehren bei Kindern und Erwachsenen verursachen, ist es leicht verständlich, wenn sich Atheisten bisweilen als unter Dauerfeuer stehende Minderheit sehen, die gegen eine übermächtige gefährliche Kraft ankämpfen. Der einzelne Atheist sieht einen Gläubigen vielleicht sogar als eine Art Gegner an; einen „anderen“, der eine große, machtvolle Anzahl von „denen“ repräsentiert. Dieser Artikel kann dabei helfen zu verstehen, dass möglicherweise Gläubige durch ihre Hingabe an christliches Gedankengut in Wirklichkeit tiefliegenden Gefühlen der Verwundbarkeit, der Qual und der Bedürftigkeit Ausdruck verleihen. Sobald diese Möglichkeit erkannt wird, fällt es leichter, den Gläubigen als jemanden zu sehen, der genau wie man selbst auch versucht, emotional aufzublühen oder wenigstens durchzuhalten, leider oft im Angesicht furchtbarer Kindheitserlebnisse und schlechter psychologischer Voraussetzungen. Ist diese Einsicht gewonnen, so kann man sein vernichtendes Urteil fallen lassen und es durch ein Gefühl der zwischenmenschlichen Verbundenheit ersetzen. Indem wir die Aufmerksamkeit geteilten Kindheitserfahrungen zuwenden, holen wir ein Bewusstsein unserer gemeinsamen Menschlichkeit an die Oberfläche.
Übersetzung: Adrian Fellhauer
Anmerkungen:
[1] Die meisten Neutestamentler sind sich einig, dass die im Neuen Testament zusammengestellten Schriften im Großraum des Römischen Reiches (nicht in Palästina) entstanden sind und in Koine-Griechisch (hellenistische Gemeinsprache), die überregionale Gemeinsprache im östlichen Rom, verfasst wurden.
[2] Gardner & Wiedemann (1991), p. 12
[3] Gardner & Wiedemann (1991), p. 5
[4] Discussed in Saller (1994), p. 147.
[5] Philon und Josephus befürworten die Vorschriften in (Dtn 21,18-21) und sogar eine Erweiterung des Anwendungsgebietes derselben; hierzu siehe Philon „Über die Einzelgesetze“ 2,232 und 2,248, Josephus „Contra apionem“, Buch 2,28, Psalmen 13,24, 22,15 und 23,13, Jesus Sirach (einflussreich in Hellenistischen Gemeinden des ersten Jahrhunderts vor Christus und wahrscheinlich auch später) 30,1-3 und 30,12.
[6] Siehe unter anderem Gunkel (1901/1997), S. 1, 14, 19, 32; Speiser (1964, S. 25); Abelow (2010).
[7] Greven (1973), p. 48.
[8] Boswell (1990), p. 135.
[9] Hrdy (1999), p. 303.
[10] Kertzer (1993), p. 10
Quellen:
Abelow, B. J. (2011) The Shaping of New Testament Narrative and Salvation Teaching by Painful Childhood Experience, Archive for the Psychology of Religion (Brill), Ausgabe 33, Nr. 1, S. 1-54
Abelow, B. J. (2009). Religious behavior as a reflection of childhood corporal punishment. In J. R. Feierman (Ed.), The biology of religious behavior: The evolutionary origins of faith and religion (S. 89-105). New York: Praeger.
Abelow, B. J. (2010). Paradise lost: childhood punishment and the myth of Adam’s sin. In A. Kille & D. Daschke (Eds.), A cry instead of justice: The Bible and cultures of violence in psychological perspective (S. 19-41). New York: T&T Clark.
Boswell, J. (1990). The kindness of strangers: The abandonment of children in Western Europe from late antiquity to the renaissance. New York: Vintage.
Gardner, J. F., & Wiedemann, T. (Eds.). (1991). The Roman household: A sourcebook. London: Routledge.
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Kommentare
Dass Ungehorsam, Strafe und Vergebung Kernthemen des Christentums sind, bleibt unbestritten und ist nichts Neues.
Dass Kinder für Ungehorsam Strafe und Vergebung erfahren und dadurch nachhaltig beeinflusst werden, ist auch nichts Neues.
Diesen Zusammenhang aufzuzeigen ist interessant und regt zum Nachdenken an.
Aus christlicher Sicht würde ich diesen Zusammenhang so auslegen:
Die ganze Welt ist, gemäß christlicher Mystik, im Ungehorsam und muss die Folgen (Strafen) davon erleiden. Durch den Ungehorsam Adams (in jüdisch-christlicher Bildersprache) kam das Leid in die Welt.
Da der Ungehorsam und das daraus resultierende Leid typisch menschlich sind, wirken sie sich besonders auf den Menschen und auf zwischenmenschliche Beziehungen aus.
Die engsten zwischenmenschlichen Beziehungen gibt es in der Familie. Es verwundert also überhaupt nicht, dass es eine Korrelation zwischen Ungehorsam und Leid zwischen Kindern und Eltern einerseits und Ungehorsam und Leid zwischen (erwachsenen) Menschen und Gott andererseits gibt.
Als Christ kann ich also die Argumentation des Autors umdrehen: Nicht die Religion ist die Folge kindlicher traumatischer Erlebnisse, sondern die kindlichen traumatischen Erlebnisse sind die Folge der gestörten Beziehung zwischen Mensch und Gott (dem Sündenfall).
Das Christentum als Erlösungsreligion versucht folgerichtig, die erlittenen Traumata (Angst vor Strafe und v.a. vor Verstoßung, vom Autor sehr gekonnt geschildert) zu heilen. Deshalb sind die Kernbotschaften Jesu: Vergebt einander! Fürchtet Euch nicht! Glaubt an Gott! (womit gemeint ist: Vertraut auf ihn!, nicht etwa: Rechnet mit seiner Existenz!).
Vertrauen, Vergebung und Furchtlosigkeit (besser nach Freud wäre: Angstlosigkeit) können Traumata und gestörte Beziehungen heilen.
Ich möchte betonen, dass ich auf die Schuldfrage bei leidvollen oder sogar traumatisierenden Beziehungen zwischen Eltern und Kindern in diesem Posting NICHT eingegangen bin.
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